Wie ein Schwips

14. Oktober 2023. Sexarbeit und Schauspiel sind beides Professionen mit einem hohen Anteil von Als-Ob im Arbeitsalltag. Lies Pauwels und ihr Ensemble sind dem auf der Spur, mit einer Nummernrevue, die nach der Freiheit über den Wolken strebt.

Von Elena Philipp

"Love Boulevard" von Lies Pauwels am Berliner Ensemble © David Baltzer

14. Oktober 2023. Was erwartet man sich von einem Theaterabend zu Sexarbeit? Nackte Haut, geheime Erregung, wie die Lederjacken-Träger bei Florentina Holzinger (von denen im Theaterpodcast die Rede war)? Oder eine dokumentarische Annäherung? Expert*innen des Alltags fächern mit dem Ziel sozialkritischer Aufklärung die Kontexte des Phänomens Sexarbeit auf. Oder so ähnlich.

Lies Pauwels und ihr Ensemble aus drei Schauspielerinnen und vier Sexarbeiterinnen unterlaufen solche Erwartungen am Berliner Ensemble souverän. Und finden doch keine ganz stimmige Form für ihr Vorhaben, das Spiel mit Realität und Fiktion in den beiden Professionen in Beziehung zu setzen.

Ach, Herr Doktor

Josefin Platt hat den ersten Auftritt, im roten, strassbesetzten Samtkleid, unter dessen hohem Schlitz grüne Turnschuhe mit dicker silberner Sohle hervorblitzen. "Der Prinzessinnentraum ist schnell vorbei", spricht sie samtkleidig ins Mikrophon, lauscht dem Gesagten nach. "Ich schlafe in dem verfallenen Garten meiner Erinnerung", heißt es ganz ohne Turnschuh-Subversion: Ein Theatermonolog für eine Frau, die mit zunehmendem Alter aus der Aufmerksamkeit gleitet. Von Einsamkeit bedroht, die schwerste körperliche Folgen haben kann, wie wir im Prolog von Kathleen Morgeneyer gehört haben: "Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, existenzielle Störung des inneren Gleichgewichts, Dysfunktion der Gliedmaßen, chronische Unverträglichkeit von Freude und Glück", zählte sie da auf, als Stimme in Halbdunkel. Klang wie die Packungsbeilage eines Medikaments.

Als man sich demzufolge gerade sehr um Josefin Platt sorgt, weil sie mit unsicherer Stimme nach einem Arzt fragt, bricht die BE-Spielerin aus der Rolle der Alterseinsamen aus und singt mit der rauchigen Stimme einer Marlene Dietrich den "Tango de Fips": "Ach Herr Doktor / Bin ich normal / Da ist ein starkes Gefühl in mir / Wenn ich unter Männern bin / Wie ein Schwips / Ich nenne es fips".

Nummernrevue in Lack und Leder (am Mikrofon Kathleen Morgeneyer) © David Baltzer

Komisch oder tragisch könnte dieser Bruch sein zwischen einem (möglicherweise repräsentationskritisch gedachten?) Alter-im-Schauspiel-Text und dem Song, in dem die frivole Frau der 1920er ebenso anklingt wie die Jetzt-Zeit-Diseuse. Aber es kommt emotional nichts an, zumindest nicht bei der Rezensentin. Vielleicht, weil jeglicher Inhalt weggespielt wird: die übrigen sechs Performer*innen treten auf, in Netzstrümpfen, mit hohen Stiefeln und in Herren-Hemden, sie verteilen Kusshände, spielen Kabarett. Fallhöhe minimal, eine Illustration des Gesungenen.

Stewardessen auf dem Weg zur Freiheit?

Genauso illustrativ sind die Gesten, mit denen das Ensemble Ivy Greys Instruktionen zum Selbstverständnis der Sexarbeiter*innen begleitet. "Hier sind sie getröstet": einmal selbst umarmen. "Unser heutiges Ziel ist die absolute Freiheit": Arme weit öffnen. Sexarbeiter*innen sind also die Stewardessen auf dem Weg in die Freiheit, die schlagertauglich über den Wolken liegt? Das beschworene utopische Potenzial von Sex als Selbstfürsorge in Beziehungen bleibt noch auf der Startbahn in Harmlosigkeit stecken.

Da hilft auch nicht die großartig trocken vorgetragene Barbie-Sexpuppen-Parodie von Philine Schmölzer, die ihre Stimmhöhe ins Kieksen moduliert und – Batterie schwach – ihr linkes Augenlid völlig autonom bewegen kann. Wild wird es auch nicht, als Golden Gai sich vom Rotkäppchen im Cape in eine nackte, jauchzend fahnenschwingende Marianne verwandelt. Oder wenn – auch das eine Szene, in der kurzzeitig aufregend uneindeutige (Frauen-)Bilder entstehen – Violet Black sich einen Dildo umschnallt und sich an diesem künstlichen Glied selbst befriedigt als gehörte es zu ihrem eigenen, professionell ekstatischen Körper.

Neuer Kunde, neues Kondom

Lies Pauwels hat als Performerin lange mit Alain Platel und seiner Kompanie Les Ballets C de la B gearbeitet. Sie ist in der belgischen Darstellenden Kunst verankert, die mit Spartenabgrenzungen wie "Theater", "Tanz", "Performance" herzlich wenig anfangen kann und oft anarchische, verspielte, mitreißend menschliche Bühnenereignisse schafft. In "Love Boulevard" ist vom Überschreiten der Genregrenzen wenig zu spüren. Hier kommt die Musik (von Dag Taeldeman und Andrew Van Ostade, die beide an Jan Fabres "Mount Olympus" mitgearbeitet haben) säuberlich vom Band. Oper und Pop, Geigenklänge und Elektro in wirkungsverstärkender Weise – die Tonabteilung dankt.

Gesteuert wird das Bühnengeschehen vom Text, der meist mit Mikrofon frontal in den Zuschauerraum gesprochen wird. Über die Text-Ausführung wacht der zeitweilig als Fesselungskandidat mit auf die Bühne geholte, namentlich nicht genannte Souffleur. Alle sind sehr freundlich zu ihm, necken ihn, dessen Augen irgendwann verbunden sind, mit laszivem Räkeln und der Frage, was denn nun der folgende Text sei, den er natürlich gerade nicht sehen kann – und dann endet mit einem Schnitt abrupt die Szene. Man wendet sich anderem zu, reißt, metaphorisch gesprochen, die nächste Kondompackung auf. Neuer Kunde, neues Glück.

Gerade so bei der Stange gehalten: die Fahnenträgerinnen im Bühnenbild von Johanna Trudzinski © David Baltzer

Hat das Theater den wilden Geist der Performance geschluckt?, frage ich mich. Oder hat die Logik der Gewerke das Gast-Team überwältigt? Offenbar wollte Lies Pauwels den Performerinnen nicht zu nahe treten, "Love Boulevard" verwertet kein biographisches Material. Null Anknüpfungspunkte für an Yael Ronen oder Rimini Protokoll geschulte Theatergänger*innen. Alles bleibt hier in der Distanz, wie unter dem Glassarg von Schneewittchen, die als Sexsymbol ebenso auftaucht wie die lesende Schöne, die einem Roman des 19. Jahrhunderts entsprungen scheint. Ein Lederjacken-Moment, kurz angespielt.

Also heißt es Augenblicke klauben: Philine Schmölzer zuzusehen, die selbstironisch mit der Rolle der Hure kokettiert, oder Kathleen Morgeneyer, die sich ganzkörperlich hineinwirft ins Spiel. Aus tiefstem Leib stöhnt sie den alphabetischen Leistungskatalog der Sexarbeit hervor, von BDSM bis zum Rimming. Als Nymphe im Blumendress verkündet sie, dass sich die Prostituierte als Objekt der Begierde immer wieder entzieht. So wie die Performance, die abgleitet ins Ungefähre, verabreicht wird ohne Erregung oder Erkenntnis.

 

Love Boulevard
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels, Ausstattung: Johanna Trudzinski, Musik: Dag Taeldeman, Andrew Van Ostade, Choreographie: Lisi Estaras, Licht: Sebastian Scheinig, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Violet Black, Mare D'Angosto, Golden Gai, Ivy Grey, Kathleen Morgeneyer, Josefin Platt, Philine Schmölzer.
Premiere am 13. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

In der Berliner Zeitung (online 14.10.2023) schreibt Doris Meierhenrich: "Die belgische Regisseurin Lies Pauwels (...) hat die Spielerinnen (...) geschickt auf die immer genau entgegenlaufende Schiene gesetzt: "Die echten BE-Akteurinnen hadern fortwährend mit ihrem 'Spiel' und streichen so gut es geht die professionellen Waffen, während die jungen Sexarbeiterinnen gerade das Theatralische ihres Tuns, die Tausend Rollen, in die sie für die Märchen- und Erlösungsmomente ihrer Freier schlüpfen, in allen Farben auskosten." Dies sei immer dann am besten, wenn die jungen Frauen es mit aller Selbstsicherheit und Ironie bis ins Groteske treiben, so die Kritikerin. "Leider nur überlädt Pauwels dieses gewitzte Überkreuz-Bondage im Verlauf über Gebühr mit pseudophilosophischen Eros-Thanatos-Sentenzen und kleistert das wache, unsentimentale Spiel mit barockem Pathos und Passionsmusik zu", resümiert Meierhenrich.

"Außer ein paar mutmaßlichen Freier-Fantasien erfährt man kaum Gegenständliches aus dem Berufsalltag der Sexworkerinnen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (online 15.10.2023). "Das wäre überhaupt kein Problem – wenn 'Love Boulevard' denn irgend etwas anderes einfiele als im Brustton der Innovationsüberzeugung Thesen zur dramatischen Kunst zu verkünden, die heute selbst diejenigen nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken dürften, die noch nie ein Theater betreten haben (...)", meint die Kritikerin. Die "abendfüllende Produktion maximal ambivalenter Zeichen" verunklare bewusst den Abend. Die Inszenierung "verheddere" sich dabei in Klischees, "die der Abend doch gerade, wenn wir das richtig verstanden haben, durchdringen wollte", so Wahl.

Es handele sich um einen "seltsamen Abend", berichtet Frank Dietschreit auf rbbKultur (online 14.10.2023). "Eine fröhliche Balance zwischen schauspielerischem Chaos und erotischer Gymnastik" sah der Kritiker, sowie ein "fürchterliches Kuddelmuddel", das auch lustig sei – mit Stimmen, die miteinander und gegeneinander redeten und eine kunterbunte Collage entwickelten. Der Abend sei nicht "jugendfrei" und etwas für Gemüter, die "ein bisschen was abkönnen", meint der Kritiker.

Für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (13.10.2023) war Tobi Müller am BE: Die Stückentwicklung falle zwar "ein bisschen lang" aus, aber betreibe doch sehr gezielt eine "Pulverisierung der Begriffe" wie "Wahr und Falsch", "Liebe und Geld", "Lust und Leid" oder "Echtheit oder Spiel" – "im Theater und im Bordell". "Sexwork ist eine Performance", so stelle es der Abend vor. Dabei lasse er auch "sehr große Lücken", spare etwa Fragen der Gewalt und des Menschenschmuggel aus. Die Herkunft aus dem empowernden Sexwork-Netzwerk "Hydra" schlage sich darin nieder; "das blendet dann auch alles andere aus". Aber: "Gut, es ist Theater, es muss natürlich nicht ausgleichend berichten, wie wir es tun", sagt Müller.

 



Kommentare  
Love Boulevard, Berlin: Extase, Ehrlichkeit, Schönheit
Danke an alle KünstlerInnen auf der Bühne! Ein Abend der einen ins Staunen versetzt und noch lange nachwirkt. Extase. Ehrlichkeit. Spielfreude. Schönheit. Traurigkeit. Mir scheint, die Person, welche die Kritik verfasst hat, verpasste wohl den Moment sich auf eine faszinierende Theaterform einzulassen.
Love Boulevard, Berlin: Vom Hölzchen aufs Stöckchen
Die knapp zweistündige Stückentwicklung kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, die Spielerinnen wechseln ihre Kostüme (Johanna Trudzinski) für fast jede Szene. Sie spielen mit den Klischees der Sexarbeiterinnen, präsentieren ihre Strap-Ons, räkeln sich an der Pole, entblättern sich aus ihren glitzernden Outfits. Das ist sicher ironisch gemeint, landet aber oft gefährlich nah an der bloßen Reproduktion der Klischees.

Mit diesen Fragen hält sich der „Love Boulevard“ aber nicht weiter auf, sondern das Ensemble formiert zum nächsten Song, Solo oder Gruppen-Act. Zwischendurch gelingen auch ein paar schöne Nummern, Philine Schmölzer zuckt als Sex-Roboter-Puppe, Kathleen Morgeneyer brüllt sich durch eine Litanei von Abkürzungen diverser Spielarten. Sie ist tatsächlich die größte Überraschung: Kaum eine Spielerin auf Berlins Bühnen pflegt die leisen Töne so wie sie, legt ihre Figuren so zart und feingliedrig an. So laut schreiend, brüllend und quer über die Bühne rasend wie bei ihrem BE-Einstand habe ich sie nebenan am DT nie erlebt.

Mit einer Elvis-Nummer und Kindergeburtstags-Atmosphäre geht die Stückentwicklung nach knapp zwei Stunden zuende. Aus dem Thema Sexarbeit und ihrer gesellschaftlichen Nicht-Anerkennung wäre noch wesentlich mehr herauszuholen gewesen, aber das Ensemble tänzelt nur über die Oberfläche. Bei allem Unterhaltungswert bleibt der Erkenntnisgewinn gering.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/29/love-boulevard-berliner-ensemble-theater-kritik/
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