Die mit der Krähe tanzt

2. März 2024. Der norwegische Schrifsteller Karl-Ove Knausgård hat seinem autobiografischen Mamutroman absichtsvoll den toxischen Titel "Mein Kampf" gegeben. Yana Ross, tollkühne Stoff-Überschreiberin hat ihn jetzt auf die Bühne gebracht. 

Von Gabi Hift

"Sterben, Lieben Kämpfen" von Karl-Ove Knausgård, am Berliner Ensemble von Yana Ross inszeniert © Matthias Horn

2. März 2024. "Hitlers Kindheit und Jugend ähneln meiner eigenen", konstatiert Karl-Ove Knausgård. Halb zufällig hat er seinem gigantomanen Autobiografiezyklus den Titel "Min Kamp" gegeben. Eigentlich wollte er nur einen Begriff für die Textur seines Lebens finden, dass es nämlich aus ewigen kleinen oder größeren Kämpfen bestand. Aber die Provokation, die dieser Titel bedeutete, war ihm bewusst. Und so las er "Mein Kampf", das sich auch im Nachlass seines Vaters gefunden hatte.

Vom Peinlichen und Banalen

Knausgårds Zyklus hat über 4000 Seiten und ist ein Phänomen. Wie in einer Einmann Reality Show erhalten seine Leserinnen und Leser Einblick in sein Leben und in seine Gedanken. Auf der Suche nach maximaler Wahrhaftigkeit verwirft er alle gängigen Kunstmittel, Verdichtung, Metaphern, ausgefeilten Stil - all das führt für ihn weg vom Authentischen. Statt "wichtige" Ereignisse auszuwählen, erzählt er möglichst alles, auch das Peinlichste und vor allem auch das total Banale. Eigentlich hätte das bei Publikum und Kritik zu einem gelangweilten Abwinken führen müssen. Stattdessen wurden Millionen süchtig nach seinen Büchern, und er gilt als bahnbrechender Erneuerer der Literatur.

Blutverschmiert in Goßmutters Wohnung

Einen Roman auf die Bühne zu bringen ist immer ein prekäres Unternehmen, aber einen wie diesen, der mehr als 4000 Seiten hat, ausschließlich aus der Selbstbeobachtung eines einzelnen Mannes besteht, und dessen Programm es ist, alles Dramatische und jegliche Verdichtung zu vermeiden, ist schon ganz schön tollkühn. Yana Ross hat sich nun genau das am Berliner Ensemble vorgenommen.

Sie interessiert sich mehr für die Themen als für die Form, versucht der Sache mit einer Mixtur aus konventionellen Theatermitteln beizukommen. Im ersten Teil erzählt Knausgård vom scheußlichen Tod seines Vaters. Der war der Schrecken seiner Kindheit gewesen, ein liebloser, autoritärer Schulmeister. Nach der Trennung von der Mutter war er in kurzer Zeit zum verwahrlosten Alkoholiker mutiert. Der 18jährige Karl-Ove und sein älterer Bruder finden ihn in der Wohnung der Großmutter, blutverschmiert und in seinem eigenen Kot sitzend.

Paul Herwig, Gabriel Schneider, Maximilian Diehle  © Matthias Horn

Im zweiten Teil ist Karl-Ove selbst Vater von drei kleinen Kindern, versucht alles anders zu machen und kämpft mit seinen Größenphantasien und seiner Scham. Im dritten Teil "Kämpfen" führt das zur Auseinandersetzung mit dem faschistischen Erbe in der Familie.

Auf verstreuten Podesten

Im Buch tut er das in ständigem Dialog mit sich selbst. Er fragt sich etwas, antwortet, zweifelt, probiert Zusammenhänge aus, verwirft sie, knüpft neue Knoten. Nur selten gibt er Dialoge wieder, es geht ihm dabei immer nur um die Wirkung, die die anderen Menschen auf ihn haben. Außerhalb dessen existieren sie kaum. Yana Ross verlegt diesen Innenraum eines kontaktarmen Ichs beherzt in ein konventionelles Theatersetting, in dem alle wichtigen Figuren auftreten.

Der Raum versucht, das chaotische Nebeneinander des Romans aufzugreifen: auf vielen verstreuten Podesten stehen unspektakuläre Einrichtungsteile herum: eine Sitzlandschaft, eine Küchenzeile, Klo, Esstisch, Kinderwagen, Arbeitszimmer mit Bücherwand, mittendrin zwei mickrige Bäume, vorne ein Erdhaufen. Den Figuren legt Ross das, was Knausgård über sie denkt, als Selbstbeschreibung in den Mund.

 Schrecklich nette Familie: Amelie Willberg, Gabriel Schneider, Maximilian Diehle © Matthias Horn

Dadurch stehen die Darsteller von Vater, Onkel, Mutter, Bruder und ältestem Freund auf verlorenem Posten, mehr als interessant konturierte Pappkameraden sind nicht drin. Selbst Gabriel Schneider als Karl-Ove bleibt eindimensional und verfällt oft in einen aufgesetzt munteren Ton.

Werfen, schaukeln, manipulieren

Am besten ist die Inszenierung dort, wo sie – ganz gegen das ästhetische Programm des Textes – doch symbolische Bilder findet. Von Anfang an ist eine große schwarze Krähe mit im Raum, die im schrecklichen Totenzimmer des Vaters als Großmutter entpuppt. Und diese Großmutter hat halb den Verstand verloren, und ist außerdem selbst Alkoholikerin. In einer schön absurden Szene gießen sich die beiden Brüder am Totenbett des Vaters mit dieser Krähe einen hinter die Binde und die Krähe führt ein schauriges Tänzchen auf.

Der Erdhügel auf der Bühne ist das Grab des Vaters, aber auch ein Blumenbeet, in dem der Geist des Vaters, der bei Ross immer anwesend bleibt, gärtnert. Zu einem Rocksong performt er eine Twirlingnummer mit der Gartenschaufel – ein Tambourmajor, der sein eigenes Grab gräbt. Die Setzlinge aus dem Beet werden im zweiten Teil zu den Kindern des Ehepaars Knausgård – auch das ein schönes Bild: sie lassen sich werfen, schaukeln, manipulieren, sind aber auch stachelig.

Protestantisches Büßeruniversum

Als Alter Ego von Karl-Ove hat Ross einen Zeremonienmeister erfunden. Das ist Cynthia Micas, elegant und geschmeidig im Smoking, teils jener Karl-Ove, der von außen auf die Szenen schaut und in der Jetztzeit schreibt- teils wohl eine Wunschfigur, zu der Karl-Ove gern würde, wenn er sich aus seiner Scham und Verklemmung befreien könnte. Diese Zeremonienmeister-Figur singt nach dem Tod des Vaters Björks Bachelorette – ein fulminanter Ausflug in eine mystische Märchenwelt, in der wohl auch die Krähe zu Hause ist.

Mitten in der gequälten Auseinandersetzung mit Hitler tragen auf einmal alle Frack und ziehen den erschrockenen Karl-Ove, dem Hitler in den Gliedern sitzt auf die Tanzfläche und performen "Hitler has only got one ball" als schmissige Musicalnummer. Ein totaler Fremdkörper im dezidiert humorlosen, protestantischen Büßeruniversum.

Kathleen Morgeneyer (dahinter: Amelie Willberg) © Matthias Horn

Im dritten Teil geht es um den psychischen Zusammenbruch der Ehefrau, Linda, die an einer bipolaren Störung leidet. Knausgård erzählt sehr ausführlich von ihren erst depressiven, dann manischen Abstürzen. Und Kathleen Morgeneyer gelingt es an dieser Stelle, zur dreidimensionalen Figur zu erwachen. Sie ist lebendig und berührend, und das Zentrum der Aufführung verschiebt sich zu ihrer Geschichte.

Der Geist des Vaters

Doch es bleiben desperate Teile, Manche sind für sich sehr interessant, doch erzeugen sie nicht dieses süchtig machende Gefühl, wie es dem Roman gelingt: dass man ganz nah am Geheimnis des Lebens dran sei. Was sich dagenen schon einstellt, ist Unbehagen angesichts verschiedener Tabubrüche. Besonders bei der Frage, ob man Hitler als an einen Menschen wie du und ich denken kann. Ganz am Schluss zieht sich der Geist des Vaters die Hose aus und geht nach hinten hinaus. Hinter auf seiner Altmännerunterhose ist ein großer brauner Fleck, er ist die ganze Zeit in seiner eigenen Scheiße gesessen. Das ist widerlich und schockierend, aber nicht im befreienden Sinn und hinterlässt die Zuschauerinnen mit einem schwer einzuordnende Unbehagen.

Sterben, Lieben, Kämpfen
von Karl-Ove Knausgård
Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg, Textfassung von Yana Ross
Regie: Yana Ross, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Justyna Elminowska, Musik: Magda Drozd, Choreografie: Leslie Unger, Licht: Rainer CasperDramaturgie: Amely Joana Haag, Mitarbeit Dramaturgie: Samuel Peti.
Mit: Gabriel Schneider, Paul Herwig, Maximilian Diehle, Kathleen Morgeneyer, Amelie Willberg, Cynthia Micas.
Premiere am 1. März 2024
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Die Inszenierung von Yana Ross sei "sehr darauf bedacht, diese Literaturnacherzählung mit variétéhaften Elementen aufzuhübschen", so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (2.3.2024). Unterdessen spiele Gabriel Schneider den Autor "in dieser Sammlung von Ausschnitten aus dessen autobiografischer Romanfolge als permanent aggressiven und unterschwellig verunsicherten Mann". Insgesamt sei das aber "eher arrangiert als inszeniert" und zeige "aufs Neue die Grenzen einer Bühne, die epische Literatur eben nur illustriert und nicht fürs Theater erschließt".

Hat Yana Ross in der letzten Spielzeit Tschechows "Iwanow" in einem Tennisclub versenkt, landet Karl Ove Knausgård nun auf der Toilette, berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (2.3.2024). Intensität äußere sich an diesem Abend "über die Lautstärke", Unglück zeige sich "in ungepflegten Klamotten". Zudem kranke die Inzenierung an einem "kapitalen Fehler", so der Kritiker ."Knausgård verwandelt Windeln und Beziehungskrach in Bestseller." Er befreie sich aus einem Alltag, den er in Literatur umdrehe, ob man das nun möge oder nicht. Yana Ross hingegen schicke das auf der Bühne "zurück in die höllische Banalität": Da werde "fast jeder Schritt billig illustriert und kommentiert. Schreibmaschine, Papierstapel, Nudeln auf dem Herd: So sieht es aus bei Schriftstellers zuhaus".

"Wie in einem Wimmelbild schaut man auf die zu Figuren reduzierten und bloßgestellten Angehörigen – Frau, Vater, Bruder, Lektor und die Kinder, die an diesem Abend und in der Wahrnehmung ihres ichbezogenen Vaters hinreichend von Zimmerpflanzen verkörpert werden", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.3.2024, €). "Dass die Auseinandersetzungen mit Linda (Kathleen Morgeneyer) über die Aufteilung der Haus- und Care-Arbeit die Szenen mit der größten dramatischen Höhe sind …, holt uns in unserem Alltag und im Kampf mit unseren sozialen Rollen ab", berichtet der Kritiker. Dass an diesem Abend indes konzeptionsbedingt "die "Todesfuge" von Paul Celan gegen Hitlerzitate geschnitten" werde, sei "in seiner Unerschrockenheit schon schwer auszuhalten".

Im Willen, thematisch möglichst "alles dabei" zu haben, verfehle Yana Ross gerade das konzeptionelle Hauptcharakteristikum des Romanzyklus, berichtet Barbara Behrendt im rbb (2.3.2024): nämlich seine "enervierende Langsamkeit". Zudem vermisst die Kritikerin eine klar erkennbare Haltung zur Textvorlage. Um sie zu dekonstruieren, zelebriere die Regisseurin die Handlung zu sehr. "Wenn sie den Roman aber wirklich gut fände, müsste sie aus dem extremen, monumentalen Werk auch einen extremen, monumentalen Abend machen", argumentiert Behrendt. Die "nette, geraffte Nacherzählung von ein paar Plothöhepunkten", die indes tatsächlich zu sehen sei, werde "auf Dauer ganz schön zäh".

"Am Berliner Ensemble hat ein armer Karl Ove das, was man in Kifferkreisen einen Laber-Flash nennt", berichtet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.3.2024). Die Bühnenfassung der Regisseurin Yana Ross sei gleichzeitig zu lang und zu kurz: Zu kurz, weil die drei Bände, nach denen der Abend benannt ist, zu einem "Motiv-Potpourri" schrumpften, und zu lang, "weil sich die Aufführung in ihrer Ziellosigkeit so hochtourig um sich selbst zu drehen scheint wie der manische Karl Ove." Wie der Protagonist der Romane seine Kindheit und Jugend mit der Hitlers engführt, findet der Kritiker narzisstisch – und fragt rhetorisch: "Und wie billig effekthascherisch muss eine Inszenierung sein, um diese Selbstbespiegelung auch noch mit Paul Celans "Todesfuge" auszuschmücken"? Einzig "Karl Oves Gattin Linda, die Kathleen Morgeneyer in ihrer Verlorenheit als verstörte, manisch-depressive Kranke zeichnet", sei eine "eindrückliche Figur".

"Yana Ross'Inszenierung liefert keine Begründung dafür, warum nun, da der Hype doch schon ein paar Jahre vorbei ist, unbedingt eine Knausgård-Adaption fürs Theater herauskommen muss", schreibt Michael Wolf in der taz (4.3.2024). Sie erkläre "auch nicht aus sich heraus, warum in ihr zu welchem Zeitpunkt was passiert. Oder warum es überhaupt die Mühe lohnen sollte, einen norwegischen Schmerzensmann und Literaturstar auf die Maße eines leidlich sympathischen Trottels zusammenzustutzen". Denn genau das sei es, was hier passiere. Auch erschließt sich dem Kritiker zufolge der Rückgriff auf Celans "Todesfuge" nicht: "Einer der ganz wenigen Texte der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dem man zweifellos kanonischen Wert beimessen muss, wird hier einfach hergesagt und hergezeigt für – ja, für was überhaupt? Für den Effekt? Für den Sound? Als Holocaust-Marker?" Die Motivation bleibe "einmal mehr völlig unklar".

Die drei Themenkomplexe, die dem Abend ihren Titel geben, "finden nicht zueinander, bleiben an der Oberfläche und mit ihnen leider auch die meisten der Figuren", urteilt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (4.3.2024, €). Eine "Karl-Ove-Hitler-Parodie, eine Musical-Nummer und kurze Auftritte von Thomas Mann, Stefan Zweig und anderen", wozu "als Kontrast" Paul Celans "Todesfuge" rezitiert werde, wirkten "eher unangenehm und befremdlich", so die Kritikerin. Ergiebiger sei "das Vater- und Familien-Thema". Knausgårds Frau Linda gewänne in der Darstellung Kathleen Morgeneyers "eine fragile Tiefe", durch die "auch die Autorenfigur fassbarer, mehrdimensionaler" werde, "weil das Banale des täglichen Tuns und Seins existenzielle Größe" bekomme. Diese Momente seien aber "eher die Ausnahme".

Kommentare  
Sterben, Lieben, Kämpfen, Berlin: Unspektakulärer Abriß
Kleine komödiantische Musical-Nummern mit Cynthia Micas als "Master of the Ceremony" im Frack sind eingeflochten in die vor sich hinplätschernde, autofiktionale Szenen-Folge, aus der sich der unspektakuläre Abriss eines Schriftsteller-Lebens entwickelt. Die Roman-Vorlagen, aus denen Ross trotz der sich sehr lang anfühlenden pausenlosen 2,5 Stunden nur Ausschnitte und Motive verwenden konnte, nimmt die lettisch-amerikanische Regisseurin wesentlich ernster als Tschechows "Iwanow", den sie bei ihrem Einstand am Berliner Ensemble vor einem Jahr für eine platte Überschreibung im Tennisclub nutzte.

"Sterben Lieben Kämpfen" dürfte bei den zahlreichen Fans der Roman-Reihe und jenen, die ihre Freude an langatmigen Familienaufstellungen depressiver Skandinavier haben, besser ankommen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/02/sterben-lieben-kampfen-berliner-ensemble-kritik/
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