Wie Botho Strauß schon sagte

10. November 2023. Zur Eröffnung des Festivals begeistert Helgard Haug mit einem Spin-off ihrer Arbeit "Chinchilla Arschloch, waswas". Die Gruppe Costa Compagnie präsentiert dokumentarisches Material aus der Ukraine. Und ein Starphilosoph blamiert sich.

Von Sophie Diesselhorst

"Kharkiv calling" von Costa Compagnie © kimi palme

10. November 2023. Die aktuelle Weltlage ruft eher nach Dialog als nach Monolog. Doch einerseits hat das stets im November stattfindende Monologfestival am TD Berlin (ehemals Theaterdiscounter) mittlerweile Tradition, und der Monolog im Theater ist ein immer populäreres Format – vergleichsweise unaufwändig und billig und in seiner Kürze fürs Publikum leicht verdaulich. Andererseits kann man ihn ja vielleicht auch als Bootcamp für den Dialog verstehen. So ein einstündiger Monolog im Theater zwingt dazu, zuzuhören. Es ist mit nur einer Person auf der Bühne weniger Ablenkung möglich als sonst, sowohl fürs Publikum als auch für den:die Performer:in. Und es ist gleichzeitig einfacher, Intimität herzustellen.

Das siebte Monologfestival startete mit einer Irritation, die weniger produktiv war, als sie wahrscheinlich gemeint war. Als Eröffnungsredner war der populäre Philosoph Byung-Chul Han bestellt, der ein Readers Digest aus seinen gesammelten Werken vortrug und es mit kulturpessimistischen Thesen zum Stand der Dinge im Internet und im Theater würzte. Was das Theater anging, so berief er sich auf die "Philosophen" Thomas Ostermeier, Botho Strauss und Peter Handke und zitierte aus Botho Strauß' Laudatio auf Jutta Lampe aus dem Jahr 2010, um seine ganz offensichtlich nicht durch eigene Beobachtungen gestützten Vermutungen zum Niedergang der Schauspielkunst zu unterfüttern. Schauspieler:innen hätten verlernt, "Niemand" zu sein und "das Andere" in sich aufzunehmen.

Trigger und Ticks

Wie schön, dass gleich danach die Eröffnungsproduktion des Festivals vorführte, wie das Theater – sogar ganz ohne professionelle Schauspieler:in – "andere" Welten erschließen und gleichzeitig seine eigene Bedingtheit reflektieren kann, und das auch noch höchst unterhaltsam. "Chinchilla Spin-off, waswas" von Helgard Haug (Rimini Protokoll) basiert auf der mit Theatertreffen-Ehren bekränzten Inszenierung Chinchilla Arschloch, waswas von 2019,  die drei Männer mit Tourette-Syndrom auf die Bühne holte, die als "Experten des Alltags" von ihren Leben mit Tourette berichteten und gleichzeitig in ihrer Mitgestaltung der Inszenierung explizit und implizit die Vereinbarungen hinterfragten, die im Theater zwischen Darsteller:innen und Publikum gelten.

                               Christian Hempel als Experte des Alltags © kimi palme

Und genau an dieser Stelle geht es nun im TD Berlin weiter mit einem der drei, Christian Hempel, der erst einmal ausführlich erklärt, unter welchen "Tourette-Bedingungen" er bei der Sache mitgemacht hat. Zum Beispiel musste sein bester Freund Stefan mitkommen, der neben ihm auf der Bühne sitzt und ihm assistiert. Er lässt – wie in der Original-Inszenierung – vor einem Zeitstrahl von 18 Szenen seine Erfahrungen mit dem Auf-der-Bühne-Stehen Revue passieren, zeigt Videos aus dem Stück, die er erklärt, und öffnet sich auf dieser Meta-Ebene noch weiter als er es ohnehin schon getan hat. Denn einerseits gibt es in der Monolog-Konstellation weniger Trigger für seine Ticks, aber andererseits bekommt auch jeder Tick, jedes "Arschloch!", jedes Zucken die volle Aufmerksamkeit des Publikums, gibt es hier keine Mitspieler, die diese Aufmerksamkeit gemeinsam mit ihm abfangen.

Originalität unnötig

Offensiv sucht er immer wieder den Kontakt zum Publikum und interessiert sich dafür, was wir denken, ob wir befremdet sind, Mitleid haben, begeistert sind. Tatsächlich kann man nicht anders als begeistert sein davon, wie es diesem Spin-off, wie auch schon der Original-Inszenierung, gelingt, eine Theaterarbeit mit dem Thema Tourette-Syndrom so zu gestalten, dass man Tourette allmählich komplett ausblendet und dem Spieler völlig ungestört von seinen den Erzählfluss unterbrechenden Ticks zuhört. Es ist eine wunderbare Wiederbegegnung mit einem tollen Protagonisten einer äußerst gelungenen Inszenierung, die sehr dafür spricht, dass das Theater auch inhaltlich mehr recyceln und sich vom Originalitätsdruck freimachen sollte.

Costa Compagnie 1200 Costa Compagnie uAnna Mrachkovska in "Kharkiv Calling" © kimi palme

Das zweite Stück des Eröffnungsabends fällt dagegen ab, obwohl es ein gewichtiges Thema hat und interessantes Videomaterial präsentiert. Die Gruppe Costa Compagnie interviewte im Sommer 2022 im ukrainischen Charkiw Frauen, die sich freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet haben. Die Interviews werden in der Inszenierung "Kharkiv Calling" vorgestellt von einer jungen ukrainischen Schauspielstudentin, die selbst mittlerweile in Berlin lebt und drumherum ihre eigene Geschichte erzählt. Eine Fluchtgeschichte und gleichzeitig eine Emanzipationsgeschichte, denn sie ging gegen den Willen ihrer Eltern ins Exil, um hier mit ihrer Partnerin zusammenzuleben.

Bilder als Waffen

Die Geschichten bleiben nebeneinander stehen, es findet nicht wirklich eine Auseinandersetzung statt. Zwei der interviewten Video-Protagonistinnen arbeiten im Presse-Korps der ukrainischen Armee, und es wäre interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie sie den Krieg dokumentieren, was für Bilder sie produzieren und wie sie diese Bilder wiederum als Waffen einsetzen. Aber dafür bleiben die Interviewer zu nahe an den jeweiligen persönlichen Schicksalen, die betroffen machen, aber im Kontext der Inszenierung zu sehr wirken wie unverarbeitetes Rohmaterial.

Doch gehört es zur Narrenfreiheit des Monologs, skizzenhaft zu bleiben. Und trotz ihrer Skizzenhaftigkeit öffnet auch diese Arbeit zumindest eine Ahnung der unterschiedlichen Lebensentscheidungen, die man im Krieg treffen kann – und ermöglicht also eine weitere Begegnung mit dem "Anderen".

Monologfestival

Chinchilla Spin-off, waswas
von Rimini Protokoll / Helgard Haug
Konzept/Text/Regie: Helgard Haug / Rimini Protokoll; Technische Leitung/Video/Licht: Marc Jungreithmeier; Produktionsleitung: Renée Merkel.
Mit: Christian Hempel, unterstützt durch Stefan Schliephake.
Premiere am 9. November 2023
Dauer: 50 Minuten

Kharkiv Calling
von Costa Compagnie
Regie/Text/Recherche vor Ort: Felix Meyer-Christian; Kamera: Thomas Oswald; Videoschnitt/Dramaturgie: Marichka Lukianchuk; Kostüm/Künstlerische Mitarbeit: Zoë Sebanyiga.
Text/Performance: Anna Mrachkovska.
Premiere am 9. November 2023
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten

https://td.berlin/


Kritikenrundschau

"Eine gelungene Kurzversion des 2020 zum Theatertreffen eingeladenen Originals. Nur wer Neues erwartet hat, wird enttäuscht", schreibt Elena Philipp in der Morgenpost (11.11.2023) über "Chinchilla Spinoff, waswas". "Kharkiv Calling" sei "detailreich und etwas länglich, aber in seiner Konkretheit so anschaulich, dass man auch über eineinhalb Stunden dranbleibt".

"Es berührt und schmerzt, macht zornig und tieftraurig, dass diese Zhenya sogar bei ihren härtesten Aussagen noch immer nachdenklich wirkt, regelrecht durchlässig. An ihrem groß auf die Wand projezierten Gesicht kann man ablesen, was Krieg auch mit denen macht, die für eine sehr gerechte Sache ihr Leben einsetzen und das Leben anderer nehmen", schreibt Tom Mustroph von der taz (13.11.2023) über 'Kharkiv Calling'. Und weiter: "Mrachkovska liefert eine sehr brüchige, fragile und in sich zum Teil widersprüchliche Rahmung der Interviews. Gerade diese Fragilität ist aber eine Stärke. Sie stellt Nähe her und eröffnet den Blick auf die Kriegsfolgen jenseits der Schlagzeilen, großen Erzählungen und auf den Schockreiz setzenden Bilder."

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