Am Strand der weiten Welt - Deutsches Theater Berlin
Die Unordnung der Dinge
25. Februar 2023. Gerade war die Welt noch heil. Aber dann zerbricht sie und vor dem Unglückshorizont treten Charaktere und Konflikte erst recht grell hervor. Daniela Löffner hat ein Familiendrama von Simon Stephens wiederentdeckt.
Von Christine Wahl
25. Februar 2023. Eine ausgesprochen nette Familie, diese Holmes! Nicht nur, dass Vater Peter seine Frau Alice nach Feierabend liebevoll mit einem Fischgericht bekocht. Auch die Gespräche, die in der Familienküche geführt werden, sind von ausgesuchter Warmherzigkeit – und zwar selbst diejenigen über aktuell nicht anwesende Personen.
"Wie ist sie so?", will Peter von Alice über Sarah wissen, die erste Freundin des gemeinsamen Sohnes Alex, die er noch nicht kennengelernt hat. "Hat mir gefallen", fasst Alice ihre Kurzbeschreibung maximal zugewandt zusammen. Kathleen Morgeneyer und Alexander Khuon spielen diese Enddreißiger-Eheleute so, wie sie einem vermutlich von jeder Familientherapeutin als schier unerreichbares Ideal einer Langzeitbeziehung wärmstens ans Herz gelegt würden. Und als der zweite Sohn, Christopher, seinem Vater später ein existenzielles Teenager-Geheimnis anvertraut – auch er hat sich in Sarah verliebt und denkt bereits konkret über Geschenke nach, mit denen er sie seinem Bruder abspenstig machen könnte –, hört Peter nicht nur verständnisvoll zu. Sondern nebenbei erweist er sich auch noch als vorbildlicher Teilzeit-Hausmann und fegt akribisch den Bühnenboden in Daniela Löffners Simon-Stephens-Inszenierung "Am Strand der weiten Welt" im Deutschen Theater Berlin.
Zwischen Stühlen und Kühlschränken
Es herrscht, mit anderen Worten, eine jener trubelig-heiteren Familienserienstimmungen, die nach klassischen Dramengesetzen nur als maximale Kontrastfolie dienen können. Und in der Tat: Bald darauf hat Christopher einen tödlichen Unfall, und das daraus resultierende Holmes'sche Binnenbeben fällt umso heftiger aus. Bei allen Hinterbliebenen treten Dinge zutage – Charaktereigenschaften, Sehnsüchte oder innere Einsichten beziehungsweise Eingeständnisse –, die es unter den Umständen prallen Familienglücks mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an die Oberfläche geschafft hätten.
Bühnenbildner Wolfgang Menardi hat den Holmes dafür eine leicht abschüssige weiße Scheibe als Spielfläche gebaut. Im Hintergrund, auf und zwischen Stühlen, Kühlschränken und weiterem Familienmobiliar, sitzen die Akteurinnen und Akteure und schauen den Kolleg:innen zu, während sie auf ihre eigenen Auftritte warten: nicht das einzige Stilelement, das in der Regisseurin Daniela Löffner die frühere Jürgen-Gosch-Assistentin verrät.
Vom Schicksalsschlag getriggert
Dass die Dinge bei Stephens eher implodieren als explodieren, kommt Löffners Interesse am psychologischen Spiel entgegen. Es dürfte auch erklären, warum sie zu diesem stellenweise bereits leicht historisch wirkenden Stück, dessen Uraufführung am Royal Exchange Theatre Manchester bereits achtzehn Jahre zurückliegt, überhaupt gegriffen hat. Die Vergegenwärtigung des vierteiligen Dramas, das jeweils ein bestimmtes Familienmitglied zentriert und in dem noch "Big Brother" geschaut sowie bisweilen etwas unbeholfen geflucht wird, ist Löffner souverän gelungen.
Ein Problem gibt es an diesem Abend dennoch: Die besagten, vom Schicksalsschlag getriggerten Dinge haben einen relativ gegenständlichen, transzendenzarmen Charakter und werden entsprechend klar ausgesprochen; einige fallen auch sehr erwartungsgemäß aus: Das Ehepaar entfremdet sich. Alex, der von Berufs wegen alte Häuser restauriert, fühlt sich von seiner strahlenden Kundin Susan (Agnes Mann) besser verstanden und erkannt als von seiner Frau. Der verbliebene Sohn Alex (Niklas Wetzel) verlässt Familie und Kleinstadt zusammen mit Sarah (Wassilissa List) in Richtung London, gepeinigt von entsprechenden Schuldgefühlen.
Ohne Entwicklung
Löffner beschreitet hier den Weg in die Expressivität und lässt vieles, was im Stück angedeutet bleibt, realistisch ausspielen. Als Alice auf den Autofahrer John trifft, die ihren Sohn, wiewohl am Unfall unschuldig, überfahren hat, kommt es im Stück zu einem erotischen Annäherungsversuch. In der Inszenierung fallen Kathleen Morgeneyer und Katrin Wichmann – John ist hier zu Joanne geworden – kurz anfallartig übereinander her, entledigen sich hastig ihrer Oberteile, und Alice ruft Joanne zu: "Ficken Sie alles, was Sie an Christopher erinnern, in mich rein!"
Kein Wunder, dass im Publikum an diesem Abend mitunter auch in solchen maximal tragischen Kontexten gelacht wird. Entwicklungsbögen, an deren Ende derartige Äußerungen vermutlich verständlich werden könnten, sieht das Stück gar nicht vor – weshalb sie notgedrungen äußerlich bleiben müssen.
Herzzerreißende Gitarrensongs
Barbara Schnitzler und Peter René Lüdicke, die als Peters Eltern Ellen und Charlie ein mittleres innereheliches Gewaltproblem haben, nach außen aber ganz gern eine gewisse Schlagseite in Richtung Loriot entwickeln, fügen sich bestens in diese Familienaufstellung ein. Und der tote Sohn Christopher (Jona Gaensslen) bleibt gleichsam als Leerstelle dauerhaft anwesend und singt zu alledem herzzerreißende Gitarren-Songs.
Am Schluss scheint die anfängliche Ordnung wiederhergestellt. Nur der riesige, dicke Holzbalken, an dem Peter gearbeitet hat und der im Verlauf des Abends lange an der Rampe lag, kreist jetzt hochkant als besonders bedrohliches Damoklesschwert über dem Familientisch.
Am Strand der weiten Welt
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Matthias Erhard, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Franziska Trinkaus.
Mit: Jona Gaensslen, Alexander Khuon, Wassilissa List, Peter René Lüdicke, Agnes Mann, Kathleen Morgeneyer, Barbara Schnitzler, Niklas Wetzel, Katrin Wichmann.
Premiere am 24. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (25.2.2023) merkt dem Stück sein Alter an: "Simon Stephens hat ein gutes Gespür für sozialen Verwerfungen, ein im Grunde politischer Autor. Im Brexit-Britannien hätte er dieses Stück auch nicht mehr so geschrieben. Da fehlen jetzt Realität und Hintergrund, und das irritiert dann doch zunehmend." Die Inszenierung leide an einem Glaubwürdigkeitsproblem. "Es ist einfach verdammt schwer, diesen Leuten irgendetwas abzunehmen." Atemlosigkeit und Hektik präge die Dialoge. Man komme kaum hinterher bei den sich überstürzenden Gedanken und Gefühlen.
Der Abend sei ein janusköpfiger Beweis für Daniela Löffners Regietalent, schreibt Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (25.2.2023). "Denn so rührselig gedankenarm das Stück auch in ihren Händen bleibt, so raffiniert hat sie es doch in ein überraschend schnelles, stark verdichtetes Szenen-Pingpong auf die Drehbühne gelupft." Und weiter: "Besonders die jungen Nachwuchskräfte Niklas Wetzel und Jona Gaensslen bringen als verliebte, singende Brüder Alex und Christopher zusammen mit Wassilissa List, der bitchigen Freundin Sarah, am meisten Glaubwürdigkeit in diesen Drei-Generationen-Brei. Während Kathleen Morgeneyers Mutter vor allem Nervenbündel ist und ihr Mann Peter (Alexander Khuon) sich meist hilflos herumdrücken muss."
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Einen schönen Auftritt haben auch Wassilissa List, die erst im vergangenen Jahr ihr Ernst Busch-Studium abgeschlossen hat, und Niklas Wetzel, eines der vielversprechenden Talente im Ensemble, der aber von der neuen Intendantin Iris Laufenberg nicht übernommen wird. Sie spielen den älteren Holmes-Sohn Alex und seine Freundin Sarah, die sich ängstlich auf die erste Teenager-Liebe einlassen.
Abgesehen von diesen Lichtblicken ist der prominent besetzte Abend eine Enttäuschung: zu krude und holzschnittartig wirkt die Stück-Vorlage. Während das Elend auf der sehr plakativen schiefen Ebene, die Wolfgang Menardi so oft und zuletzt auch im Gorki-Hit „Planet B“ als Bühnen baut, seinen Lauf nimmt, zieht übler Gestank ins Publikum. Was wäre das für ein rauschended Theaterfest geworden, wenn auch nur jede dritte völlig unmotivierte Nikotinszene durch einen interessanten Regie-Einfall ersetzt worden wäre!
Da dies leider nicht so ist, tat Iris Laufenberg gut daran, „Am Strand der weiten Welt“ im Gegensatz zu vielen anderen Inszenierungen aus der Khuon-Ära nicht zu übernehmen, so dass wenige Monate nach der Premiere gestern schon die Dernière stattfand.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/20/am-strand-der-weiten-welt-deutsches-theater-kritik/