Kekse für alle!

13. Oktober 2023. She She Pop, die Veteranen der freien Performance-Szene, suchen am HAU Berlin mit "High" den kollektiven Rausch. Und bringen dafür mysteriöse Substanzen unters Theatervolk.

Von Michael Wolf

"High" von She She Pop am HAU Berlin © Dorothea Tuch

13. Oktober 2023. Beim Einlass versperrt der Performer Sebastian Bark den Weg zu den Sitzplätzen. Er hält ein Tablett in der Hand, die kleinen Teige darauf sehen bereits ganz lecker aus, es fehlt aber offenbar noch eine letzte Zutat. Jedenfalls fordert Bark jeden einzelnen Zuschauer auf, einen der Teige zu berühren und sei es hygienisch korrekt mit dem Ellbogen statt dem Finger. Die Kekse landen sodann bei Ilia Papatheodorou, die am Rand der Bühne Blech um Blech in eine Mikrowelle schiebt.

Währenddessen soll sich das Publikum einstimmen, was hier ganz wörtlich gemeint ist. Auf einer Stoffbahn erscheint ein projizierter Text, der dazu auffordert, einen beliebigen Ton zu singen, dann zur Abwechslung den Ton eines anderen Besuchers zu imitieren. Später kommen auch noch Musikinstrumente hinzu, Körbe mit kleinem Schlagwerk und Rasseln werden gereicht.

Die Zuschauer sollen damit die Gedanken verscheuchen, wenn ihnen solche entgegen der Abmachung durch den Kopf schießen. Denn das Denken und vor allem die Bedenken sind an diesem Abend im HAU unerwünscht. She She Pop verschreiben sich in ihrer neuen Arbeit "High" dem Rausch. Sie planen fest mit einer kollektiven Ekstase.

Harte Drogen, weiche Drogen

Dabei sind ihre eigenen Erfahrungen, zumal für Berliner Verhältnisse, eher spärlich. Sie nennen den Konsum von Ecstasy, den Besuch des Festivals "Fusion" oder auch das Volleyballspiel. Mieke Matzke immerhin hat etwas Härteres mitgebracht. Sie schreitet mit einer riesigen roten Schleppe die Stufen der Tribüne hoch und erzählt eindringlich, wie man ihr eine unbekannte Droge verabreichte und sie daraufhin panisch und zugleich neugierig darauf wartete, was nun mit ihr geschehen würde. Allerdings fand das nur im Traum statt. Selbst der Horrortrip kommt also ohne Substanzen aus.

High 01 805 Dorothea Tuch uDie Prozession der Berauschten: Ilia Papatheodorou, Lisa Lucassen, Tatiana Saphir, Sebastian Bark und Berit Stumpf © Dorothea Tuch

Nein, hier sind keine Drogen im Spiel, auch wenn Papatheodorou ihre Kekse als solche "mit Wirkung" bezeichnet. Zu einem festgelegten Zeitpunkt sollen sie zusammen verspeist werden, auf dass ein jeder die Spuren und Abdrücke, im Zweifel auch Schweiß und Hautschüppchen eines anderen in sich aufnehme. Nicht eigentlich die Ekstase ist mithin das Ziel, sondern eben die gelebte Kollektivität. Singend und lärmend möge das ewig einsame Individuum aus der Haut fahren. Denn: "Dieses Selbst, es ist gar nicht real. Warum klammern wir uns daran?"

Bongas in Lüdenscheid

Nun, warum? Vielleicht ja deshalb, weil seine Überwindung sogar wünschenswert sein könnte, sie aber den meisten Menschen nicht möglich ist. In dieser Aufführung zumindest bleibt sie pure Behauptung. Am Schluss tanzen zwar ein gutes Dutzend Zuschauerinnen auf der Bühne und eine tapfere Fraktion traktiert dazu eifrig das Schlagwerk, aber – mit Verlaub! – ein Bonga-Schnupperkurs an der Volkshochschule Lüdenscheid stiftet nicht weniger Gemeinschaftsgefühl als dieses Finale.

Klar, das Nichtgelingen des Experiments ist von Anfang an eingepreist, nicht zufällig eignet jedem Satz, jedem Vorgang eine merkliche Ironie. She She Pop performen exemplarisch ihr eigenes Scheitern und verweisen damit auf die allgemeine Unfähigkeit, das Schneckenhaus des tumben Ichs zu verlassen. Es sind wohl weiterhin die bedrückenden Gedanken, die sie auf dem Boden der Tatsachen halten. Explizit genannt werden diese nur in einer Szene. Von Alltagssorgen, vom Krieg und nun auch noch dem zweiten Krieg ist da die Rede, genau wie von den kaputten Kastanien vor dem Haus und dem Wissen darum, dass alles nur noch schlimmer werde.

Biedermeierliche Haltung

Erlösung scheint lediglich in der Gemeinschaft vorstellbar, allerdings eben nicht, um im solidarischen Verbund den niederdrückenden Status Quo zu verändern, sondern nur um diesen für den Moment aus dem Bewusstsein zu verbannen. Eine geradezu biedermeierliche Haltung liegt der Produktion zugrunde. Hier wagt niemand auch nur die Vermutung, dass die eigene Verzagtheit auch kuriert werden könnte, indem man die Verhältnisse ins Visier nimmt.

Erstaunlich, dass ausgerechnet She She Pop so mutlos auftreten. In der Freien Szene waren sie doch immer stolz auf ihre Gruppen und die demokratischen Prozesse. Moralisch und politisch sah man sich den streng hierarchisch organisierten Stadttheatern stets überlegen. Und nun? Nun hinterlässt eines der erfolgreichsten Kollektive den Eindruck, es ginge eigentlich nur darum, nicht so alleine mit sich selbst zu sein. Was für ein seltsamer Theaterabend.

 

High
Idee und Konzept: She She Pop
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Tatiana Saphir, Claudia Splitt, Berit Stumpf.
Künstlerische Mitarbeit: Rodrigo Zorzanelli, Raum und Kostüm: Lea Søvsø, Künstlerische Mitarbeit Raum und Kostüm: Hannah Wolf, Ulrike Plehn, Künstlerische Beratung Raum: Michael Kleine, Lichtdesign und Technische Leitung: Christian Maith, Sounddesign: Manuel Horstmann, Video: Benjamin Krieg.
Premiere am 12. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Wirklich schade nur, dass man das HAU nach dieser Veranstaltung so wahnsinnig down verlässt", verkündet Patrick Wildermann im Tagesspiegel (€ | online 13.10.2023) enttäuscht. Für ihn werden bei einigen der Trommeleinlagen und "meditativen Atem- und Summübungen" dieses Abends "Erinnerungen" wach "an diese wunderbare Institution namens 'Theater für die Allerjüngsten', wo man erleben kann, wie krabbelnde oder wackelig laufende Kleinkinder sich auf Schellen und Glockenspiele stürzen, während die Eltern ganz gerührt danebenstehen und denken: irgendeinen pädagogischen Wert wird's schon haben."

She She Pop scheint das eigene Unterfangen während der Proben irgendwie ein bisschen peinlich geworden zu sein, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 14.10.2023, 9.48 Uhr). "High" starte als gesellschaftskritische Wir-Suche - und lande als ironische Meditationsübung mit Widerstandsbetrachtung, Schamüberwindung und Mitmachspäßen. "Am Beginn des Abends haben alle Mitzuschauer ihre Finger in einen veganen und glutenfreien Keksteig gedrückt." Am Ende darf jeder ein paar ausgebackene Kekskrümel davon essen. Dann wird in aller Verlegenheit getrommelt und getanzt und geschrien.

"Ist ja nicht schlimm, das mit dem Scheitern, wenn man daraus performativ wenigstens noch irgendwas gemacht hätte", resümiert Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (€ | 13.10.2023). "So aber geht man nach diesem eher dünnen Abend nicht gerade berauscht, sondern einigermaßen ernüchtert nach Hause."

Kommentare  
High, Berlin: Verkatertes Gefühl
Ideenlos schleppen sich die knapp 75 zähen Minuten dahin, halbironisch kreisen die Performer*innen um Rausch- und Ausnahmezustände.

She She Pop fällt dazu aber nicht mehr ein, als Kekse zu backen, das Publikum zu Atemübungen, Trommel-Percussions und etwas Ausdruckstanz eingeladen. Vom überwiegend jungen Publikum in der sechsten und vorerst letzten Vorstellung im HAU 2 wird dieses Angebot dankbar angenommen. Ein Rausch stellte sich in dieser Herbstnacht nicht ein, nur das verkaterte Gefühl, wie weit She She Pop diesmal von ihrem gewohnten Niveau entfernt blieben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/17/high-she-she-pop-hau-kritik/
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