Kanon - HAU Berlin
Der "Was bin ich-Faktor"
von Christian Rakow
Berlin, 22. November 2019. Nachdem der letzte, vielgepriesene She-She-Pop-Abend mit seinem Titel Oratorium deutliche musikalische Akzente setzte und sogar in einem kollektiven Summen des Publikums gipfelte, hätte man hinter der Novität "Kanon" auch mehrstimmige Gesangsübungen vermuten können. Vielleicht etwas Kanon in D-Dur von Pachelbel oder "Bruder Jakob" oder so. Aber tatsächlich haben sich She She Pop den Kanon im kunsttheoretischen Sinne vorgenommen: als Bestand exemplarischer Werke. Es geht ihnen um die Sammlung herausragender, bleibender Theatererlebnisse.
Postdramatik
Es sind die Festwochen der Postdramatik in Berlin. Man feiert den zwanzigsten Geburtstag von Hans-Thies Lehmanns kanonischer (!) Studie "Das postdramatische Theater", die herauskam, als Gruppen wie She She Pop, Showcase Beat Le Mot oder Rimini Protokoll von Gießen aus aufbrachen, um die Vierte Wand und mit ihr das herkömmliche Repräsentationstheater aus den Angeln zu heben. Die Akademie der Künste widmet Lehmann ein zweitägiges Symposium; am HAU steuern Protagonist*innen der Bewegung wie eben She She Pop frische Kostproben bei.
Lehmann gab den Künstler*innen dereinst nicht nur eine Beschreibungssprache und den Blick auf den Gesamtzusammenhang mit auf den Weg. Sein Werk las sich auch als Manifest: Wer Postdramatik betrieb, war politisch wie ästhetisch ganz weit vorn; nah an der performativen Essenz des Theaters. Postdramatik war Gegenkultur, subversiv, dekonstruktiv, massenmedial nicht zu vereinnahmen. Heute, zwanzig Jahre später, ist manches von der einstmals so vitalen Praxis selbst in der Routine angelangt. Flächige, endlos an jeglichen Spannungsbögen vorbei mäandernde Texte gibt’s inzwischen als Meterware. An den Bühnenrampen drängeln sich Kleinstchöre und einzelne Verlautbarungsknechte, um im Dauersendemodus Monolog um Monolog aufs Parkett zu feuern.
Umso schöner, bei She She Pop noch einmal erinnert zu werden, was Postdramatik an bleibenden Ereignissen hervorgebracht hat. Denn tatsächlich ist der Kanon in "Kanon" im Wesentlichen eine Schau des nicht-dramatischen, nicht-repräsentationstheaterhaften Bühnenschaffens. Momente bei Christoph Schlingensief, Johann Kresnik, Pina Bausch, William Forsythe (überhaupt viel Tanz, mit choreographischer Unterstützung von Constanza Macras adaptiert) werden aufgerufen. Vor Forced Entertainment und anderen britischen Gruppen verbeugt man sich. Vor Susanne Kennedys "Selbstmord-Schwestern", vor Milo Raus "Die Wiederholung". Die fancy Kostüme von Lea Søvsø huldigen in poppigen Andeutungen "Säulenheiligen der Aktionskunst" – von Joseph Beuys bis Valie Export oder Yves Klein.
Meta-Meta-Nerds unite!
Der Abend hat einen sentimentalen Charme. She She Pop (in der Premiere: Sebastian Bark, Johanna Freiburg und Ilia Papatheodorou) sowie Gäste (in der Premiere: Brigitte Cuvelier, Sean Patten, Leicy Valenzuela, Zelal Yesilyurt) beschreiben ihren je persönlichen "unvergessbaren" Theatermoment in seinen äußeren Abläufen, während die übrigen Spieler*innen im Hintergrund mit kargen Verkleidungen und Handwerksutensilien eine betont dilettantische Visualisierung des Moments probieren. Schon bald bekommt das den Robert-Lembke-"Was bin ich"-Faktor, rätselt man innerlich mit (und feiert sich ab, wenn man diese oder jene der zitierten Produktionen schnell erkennt). Meta-Meta-Theaternerds kommen voll auf ihre Kosten.
Leider aber bewegt sich "Kanon" selten übers bloße Anzitieren hinaus. Die Erzählungen genügen sich im Unterstreichen der Emphase ("das war mein Moment"), ohne dem überindividuellen Gehalt allzu weit nachzuspüren.
Viele der Erzählungen verblassen in schnöden Beschreibungen. Auf Hälfte der Strecke wird das Publikum didaktisch aktiviert: Wie in der "Flüsterphase" einer Schulstunde darf man sich in den Erfahrungsaustausch mit der Sitznachbarin begeben. Anschließend kommen zwei – am Premierenabend äußerst geschult wirkende, womöglich eingeweihte – Zuschauerinnen zum Vortrag fürs Rund. Nach diesem partizipativen Höhepunkt beschleunigt sich das kataloghafte Aufsummieren von Erinnerungssplittern (Kataloge sind überhaupt das Standardverfahren postdramatischer Kompositionen) bis zum Finale.
Penetranz mit Pipi-Eimer
Aus dieser etwas durchsichtigen, additiven Gesamtdramaturgie mit ihren unebenen Einzelbeiträgen ragt am Premierenabend eine Erzählung heraus – kann sein, ich registrierte sie auch nur stärker, weil ich bei dem berichteten Ereignis selbst anwesend war ("Kanon" zehrt, wie gesagt, von der persönlichen Verbundenheit): In der Episode erinnert sich Ilia Papatheodorou an ihre Erstbegegnung mit der amerikanischen Hardcore-Performerin Ann Liv Young in "Cinderella" im Januar 2011. Young, berühmt für ultra-invasiven Stand-up-Talk mit dem Publikum, hatte seinerzeit Papatheodorou im Zuschauerraum des HAU 3 nach allen Regeln ihrer Kunst verbal traktiert.
Jetzt, acht Jahre später, spielt Papatheodorou die Situation nach, wühlt sich ins Publikum vor, gönnt sich Momente von Young’scher Penetranz. Derweil Sean Patten (üblicherweise beim Kollektiv Gob Squad tätig) in einen Eimer urinieren muss. Bei Young wird an dieser Stelle eigentlich gekackt, aber so werktreu hat man es nicht hinbekommen. Papatheodorou reflektiert derweil über das System der Unterordnung im Theater von Ann Liv Young: "Sie hat uns in ihr kunstvolles Joch gepresst." Wunderbar gesagt.
Anschließend wird der Urin in eine hingeworfene Zuschauerflasche abgefüllt und zur Versteigerung angeboten. Mit dem Ausspruch: "Das ist das Kunstwerk. Wir haben kein Wechselgeld." Keiner will die Flasche haben. Und so lernt man doch noch etwas über echte, unvergessbare Kunst: Sie lässt sich nicht wirklich vereinnahmen. Und sie kommt nie in kleiner Münze.
Kanon
von She She Pop
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf, Gastperformance in wechselnder Besetzung: Antonia Baehr, Daniel Belasco Rogers, Jean Chaize, Martin Clausen, Brigitte Cuvelier, Sean Patten, Tatiana Saphir, Leicy Valenzuela, Zelal Yesilyurt, Kostüme: Lea Søvsø, Lichtdesign: Michael Lentner, Sounddesign: Jeff McGrory, Bühne & Requisiten: Sandra Fox, Motiv Videoprojektion: Mel Bochner, Choreografie: Constanza Macras, Künstlerische Mitarbeit: Valeria Germain, Alisa Tretau, Laia Ribera, Mitarbeit Kostüm: Jana Donis, Mitarbeit Choreografie: Miki Shoji, Hospitanz: Magdalena Hofmann, Natasha Borenko, Technische Leitung: Sven Nichterlein, Produktionsleitung: Anne Brammen, Kommunikation: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro, Freie Mitarbeit Kommunikation: Tina Ebert, Finanzadministration: Aminata Oelßner, Company Management: Elke Weber.
Premiere am 22. November 2019 am HAU Berlin
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
Mehr dazu: Auf Deutschlandfunk Kultur (19.11.2019) sprachen Ilia Papatheodorou von She She Pop und Shanli Anwar über postdramatisches Theater, nämlich hier.
"Es ist ein Familienalbum, in dem She She Pop und die ihnen Verschworenen blättern. Gemütlich wie ein Pub-Quiz zum postdramatischen Theater", so beschreibt Janis El-Bira den Abend für die Berliner Zeitung (online 23.11.2019). Dabei gehe es der Gruppe um das "warme Herz des Performativen, das in seiner Offenlegung von Material und Konstruktion, Machern und Gemachtem, oft mehr Identifikationspotenzial liefert als die bruchlosen Repräsentationstechniken klassischen Schauspiels". Manche Szenen wie die zu Ann Liv Young werden als eindrücklich beschrieben. In anderem "fehlt" es "an der Ambition, der Erinnerung mehr als einen Augenblick zu entreißen, das private Plaudern zu verlassen".
Für Deutschlandfunk Kultur (23.11.2019) spannt Gerd Brendel eine kurze Impression des neuen Abends von She She Pop mit einem Bericht über das Postdramatik-Symposium an der Akademie der Künste zusammen. Postdramatik sei gegen identitäre Politik gerichtet. "Gegen nationale Identität, oder gegen einen nationalen Bildungskanon. She She Pop zum Beispiel setzt dagegen auf das Teilen individueller Erinnerungen."
"Die kanonischen Momente werden auf die biographische Wirkung auf den einstigen Zuschauer abgeklopft, was sie darüber hinaus bedeuten, bleibt in der bruchstückhaften Erinnerung unterbelichtet. Das Private wird hier weder politisch noch eigentlich ästhetisch", schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (25.11.2019). "Der Abend wirkt in den besseren Momenten wie ein Stuhlkreis von Erstsemestlern der Angewandten Theaterwissenschaft. In den schlechteren wie ein Treffen von Veteranen, die sich gegenseitig Geschichten aus der guten alten Zeit erzählen."
"Unbestritten besitzt diese Revue der individuellen Erfahrungen Unterhaltungswert." Die Beliebigkeit sei Programm, sie mache den Abend andockfähig, so Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (24.11.2019). "Aber man hätte sich doch gewünscht, dass aus dem kollektiven Erinnern des Persönlichen etwas Sinnstiftenderes entsteht, nicht bloß eine Aneinanderreihung von Momenten."
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Aber so richtig lachen musste ich über den Kommentar.
Diese Szenen sind es, die den neuen Abend „Kanon“ sehenswert machen.
Er stellt sich allerdings selbst ein Bein: Vermutlich um nicht in die Falle zu tappen, in kitschiger Nostalgie zu versinken, übergießen die Performer*innen ihre Erinnerungen mit Ironie-Soße und fallen dabei ins andere Extrem. Die bewusst dilettantisch gestalteten Re-Enactments eines Klassikers, den eine*r von ihnen herbeizitiert, geraten manchmal zu albern. Alle tragen die Konterfeis berühmter Vorbilder wie Joseph Beuys, Valie Export oder Yoko Ono auf den Kostümen, die Lea Søvsø gestaltet hat.
Dennoch bekommen She She Pop immer wieder die Kurve und schaffen es, ihr Anliegen zu erreichen: Dieser „Kanon“ ist ein unterhaltsamer Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte und ein aufschlussreicher Abend über Theatergeschichte, der mich oft auch neidisch macht, dass ich die als Referenzwerke zitierten Inszenierungen nicht live erleben konnte.
Da sowohl das She She Pop-Kollektiv als auch ihre Gäste jeden Abend in anderer Besetzung auftreten, sind logischerweise bei jeder Vorstellung auch ganz unterschiedliche, stets sehr subjektive Erinnerungen der Performer*innen zu erleben. Das gelingt offensichtlich mal mehr, mal weniger gut.
Nach der Premiere überwogen die enttäuschten Stimmen. Christian Rakow (Nachtkritik) und Janis El-Bira (Berliner Zeitung) beschreiben einen Abend, der vieles nur anzitiere und im Plauderton recht beliebig im Familienalbum blättere. Bei der dritten Vorstellung wurde jedoch trotz einiger oben genannter Schwächen deutlich, was das postdramatische Theater im Kern ausmacht und welche Arbeiten stilprägend waren. Vielleicht habt ihr einfach eine schwächere Version des "Kanons" erwischt, Christian und Janis?
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/25/kanon-she-she-pop-kritik/