Ein Chor erinnert sich

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 10. Januar 2019. Glamourös wird’s. Das bedeutet der rote Teppich, der draußen vorm HAU 1 ausgerollt ist, und das bedeuten die 13 Chorist*innen, die um kurz nach sieben in rotsamtenen Ganzkörperanzügen einem Minibus entsteigen und über den Teppich ins Theater schweben. Ihre langen, ebenfalls rotsamtenen Schals enden in schweifartigen Fransen – was schön aussieht und das spektakulärste Bild des knappen Abends vorwegnimmt. Rund ist er, meisterhaft einstudiert und offensiv charmant. Verstörend, wie – der Rede nach – einst Einar Schleefs Theater? Null.

"Tarzan rettet Berlin" eröffnet eine Woche vor Einar Schleefs 75. Geburtstag und mehr als 17 Jahre nach seinem Tod ein Mini-Festival zu Schleefs Gedenken. Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier und (Schleef-Veteranin) Christine Groß haben Passagen aus Schleefs ausufernden Tagebüchern montiert und mit Mini-Exkursen von den Chorist*innen Kim Ley und Jayrôme C. Robinet sowie der Schriftstellerin Maggie Nelson durchsetzt.

Die Sprache des Stotterers

In den Tagebüchern schloss Schleef Erfahrungsberichte aus seinem Leben kurz mit philosophischen und theatertheoretischen Gedanken. Es hat (mindestens für die Nachgeborene) zunächst etwas Befreiendes, wie der junge Hommage-Chor im HAU nun die schwere Theorie herausgekämmt hat und stattdessen vor allem Schleefs biographische Passagen in voller Bildlichkeit schillern lässt. Daran können sie anknüpfen: wie der junge Einar in Sangerhausen Ostereier bemalt hat. Wie der etwas ältere Einar im Zuge seiner Konfirmation Bekanntschaft mit dem Rausch machte und der Rausch direkt etwas mit dem Blut zu tun hatte, indem sich das Blut vom Auf-die-Lippe-Beißen mit dem Abendmahls-Wein vermischte. Wie der erwachsene Einar aus dem Westen zurückgekehrt ist nach Sangerhausen und in seine Eltern dringt, ihm zu erklären, woher die Spitznamen kommen in Sangerhausen – um herauszufinden wo seine eigene Sprache herkommt. Die Sprache des Stotterers.

tarzan 1 560 hannesfrancke uBrücke ins Publikum © Hannes Francke

Ganz Schleef-durchwirkt ist "Tarzan rettet Berlin"; es wird nicht nur mit Schleefs Texten, sondern auch mit den Mitteln des Regisseurs gearbeitet. Der Theatermacher schlägt den Autor: In strenger Form bleibt der Chor stets ein Chor, auch wenn zwischendurch Passagen auf Einzelne aufgeteilt werden. Betont wird der Zusammenhalt noch durch Lieder und synchrone Choreografien, die die Bilder verbinden. Ausstatterin Janina Audick hat einen Schleef-Spielplatz ins HAU 1 gebaut, eine ins Publikum ragende, grün gestrichene Doppelrampe und eine Treppe stehen als angeschrillte Schleef-Zitate in der Gegend herum.

In immer neuen Spotlight-Posen erhält der Chor seine Energie über anderthalb Stunden aufrecht, allerdings mehr aus sich selbst heraus als aus Schleefs Texten. Inhaltlich versandet "Tarzan rettet Berlin" ziemlich schnell. Deutlich wird das in der titelgebenden Szene (aus dem Tagebuch), die in aufgeteilten Rollen gesprochen wird. Tarzan und Jane werden als hilfloses (Geschwister?-)Paar Zeugen eines stumpfsinnigen Nachwende-Familienlebens (Ost) und laden das Geschehen durch ihre mythische Präsenz apokalyptisch auf, indem auf einmal Wasser aus dem Fernseher kommt, Honecker im weißen Motorboot erscheint und von außen der Ruf nach der "Arbeiterklasse" schallt – die comic relief-Wirkung dieses Ausrufs kostet der Chor aus, wiederholt die Szene gar noch einmal, aber eher, weil es rhythmisch in die Chor-Komposition passt, als um in der Tiefe zu schürfen.

tarzan 2 560 hannesfrancke uTanz den Tarzan! © Hannes Francke

Das bedeutet nicht, dass es diesem Chor nicht auch ernst ist, aber sein eigenes Anliegen platziert er irgendwie nur kursorisch in die Gedankenfreiheit hinein, die Schleefs Texte ihm als roten Teppich ausrollen: Es handelt sich nämlich um einen non-binären Chor aus Menschen, die sich offensiv konventionellen Gender-Zuordnungen entziehen. Ganz nebenbei stellt dieser Chor in einer kurzen Szene seine diverse Identität aus, indem jede*r einmal einzeln an die Rampe tritt und ein Statement aus der geteilten Lebenswelt ins Publikum feuert, während dahinter blitzartig die Kostüme gewechselt werden, bis aus dem Einheits-Look in rotem Samt eine Unterschiedlichkeits-Palette geworden ist. Das ist sehr elegant – und interessant, denn es blitzt ein Spannungsfeld auf, das über Schleef hinaus und eher in Richtung von René Polleschs unermüdlicher Repräsentationskritik weist: Eine Gruppe ausgewiesener Hyperindividualist*innen demonstriert Solidarität. Fängt gar vor lauter Übermut kurz an zu marschieren; wie die deutlich uniformeren Chöre bei Ulrich Rasche, insofern ein Schleef-Nachfolger, als dass auch er sich heute immer wieder dem Vorwurf einer faschistoiden Ästhetik stellen muss.

Aber dieser Chor hier will nicht provozieren und sich leider auch nicht wirklich aufs Immer-Weiter-Denken konzentrieren, wie es ein Pollesch-Chor wohl täte – dieser Chor will wirklich nur milde utopisch spielen. Zum Beispiel mit den Papierbahnen, zu denen die zwei Banner "Lufft" "Verteidigen", die den ganzen Abend über von der Decke hängen, zum Schluss geschreddert werden. Stellvertretend für die Papierwüsten, die Schleef mit seinen Tagebüchern hinterlassen hat, werden sie nun in Streifen geschnitten und zu Bällen geknautscht, die liebevoll in die Luft geworfen und anschließend plattgetanzt werden. Wie nach einem Kindergeburtstag ist am Ende nochmal alles gut gegangen.

Tarzan rettet Berlin
nach Texten von Einar Schleef, Kim Ley, Maggie Nelson (Übersetzung Jan Wilm), Jayrôme C. Robinet
Inszenierung: Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier, Christine Groß; Chorregie: Christine Groß; Choreografie: Brigitte Cuvelier; Bühne / Kostüm: Janina Audick; Dramaturgie: Martina Bosse; Musikalische Leitung: Sacha Benedetti, Roman Ott; Komposition Tinder Match: Sanni Est; Lichtdesign: Klaus Dust; Technische Leitung: Fabian Eichner.
Mit: Jona Aulepp, Claudio Campo-Garcia, Maikel Drexler, Yasmin El Yassini, Sanni Est, KAy Garnellen, Kim Ley, Naomi Odhiambo, Marina Prados, Jayrôme C. Robinet, Nathalie Seiß, Julian Süss, Meo Wulf.
Premiere am 10. Januar 2019 im HAU Berlin
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Die 'Tarzan'-Künstlerinnen gehen nie Gefahr, den Denkmalsockel für Schleef zu hoch zu bauen", so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (12.1.2019). Aus den Tagebüchern, eigenen Textpassagen und chorischen Liedern fügen sie das Bild eines Drifters zusammen, der weder in Ost-, noch in Westdeutschland ins System passte – was auf der Bühne nie zur heroischen Rebellenpose überhöht werden. Denn "auch Anecken ist Arbeit". "Tarzan rettet Berlin" heiße tatsächlich ein frühes Stück von Schleef. Das Stück ist eine Groteske, entwerfe einen kleinbürgerlichen Sozialismus-Albtraum mit Schimpansen, "ganz ehrlich: nach spätem Ruhm schreit das Stück nicht". Aber der "Tarzan"-Chor gebe es auch nicht der Lächerlichkeit preis, "es steht einfach seltsam und ein bisschen unbeholfen zwischen Erinnerungen an die eigene Konfirmation oder den Tod von Elvis, neben Beschreibungen der Zerrissenheit und des Wunsches nach Zugehörigkeit."

"Es ist also längst eine andere Gesellschaft, die sich nun noch mal Schleef und seine Kunst vorlegt," schreibt Esther Slevogt in der taz (15.1.2019). "Eine Gesellschaft, für die Schleefs Hardcore-Germany-Themen nicht mehr in dem Maße existenziell sind, wie ein Vierteljahrhundert zuvor. So tut dieser luftige Abend nicht viel mehr, als auf subtile Weise eine Ahnung davon zu vermitteln, wie stark Gesellschaftsmodelle und Formen des Zusammenlebens Kunst und ihre Lesearten formatieren."

Kommentare  
Tarzan rettet Berlin, Berlin: roter Faden
Dieser unkonventionelle Einstieg hätte Einar Schleef vermutlich gefallen: das Publikum wird in die Januar-Kälte hinausgescheucht. Eine Limousine fährt vor, die 13 Protagonist*innen schreiten hüftwackelnd und in rubinroten Togen über den eigens ausgerollten roten Teppich, während wir Spalier stehen. Ein glamouröser Auftritt, bei dem Andrea Nahles, falls sie als Hausherrin im gegenüberliegenden Willy Brandt-Haus zufällig aus dem Fenster schauen sollte, neidvoll erblassen dürfte.

Danach ist erst mal Pause: die Zuschauer*innen geben ihre Mäntel ab und suchen ihre Plätze im Theatersaal, das von wummernden „Shake it“-Beats beschallt wird. Sonst passiert zunächst nichts, bis sich nach einigen Minuten endlich eine Tür am Balkonfoyer öffnet und die tapferen 13 Chormitglieder eine steile, eigens angebrachte Rampe als Catwalk für ihren zweiten Auftritt nutzen. Schleef, der kommende Woche 75 Jahre alt geworden wäre, liebte dieses Spiel mit den Erwartungen und unerwarteten Pausen.

Schade ist, dass bei den ausgewählten Tagebuch-Notizen ein roter Faden fehlt. Das Chorprojekt, mit dem das Hebbel am Ufer in ein verlängertes Schleef-Festivalwochenende startet, setzt nur einige Schlaglichter und fokussiert sich vor allem auf die 1950er (Schleef begann schon als 9jähriger mit dem Tagebuch-Schreiben) und die 1980er Jahre.

Leitmotivisch schieben sich immer wieder Passagen über „Tarzan“ und „Jane“ an. Sie stammen offensichtlich aus dem ersten Schleef-Theaterstück, an dem er 1974 unter dem Arbeitstitel „Tarzan rettet Berlin“ schrieb.

Der glamouröse, rubinrote Einheitslook der Spieler*innen weicht nach und nach einem bunten Klamotten-Stilmix, bei einigen auch als Geschlechtergrenzen verwischendes Cross-Dressing mit jungen Männern in schicken Abendkleidern.

Was hätte Schleef wohl zu diesem Abend gesagt? Gemessen an der Wucht und den starken Bildern seiner „Sportstück“-Uraufführung wirkt diese Hommage an sein Werk etwas zu brav.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/11/tarzan-rettet-berlin/
Kommentar schreiben