Unmoral siegt!

29. Oktober 2023. Moral ist nicht. Dafür Mord, Schmeichelei und Lüge. Wer zahlt, gewinnt. So geht es zu im berühmten Musical des Trios Fred Ebb, Bob Fosse und John Kander, 1975 in New York uraufgeführt. Barrie Kosky hat es jetzt als Glitzerspektakel mit Brecht-Appeal aufgelegt. Und was für eins!

Von Georg Kasch

"Chicago" an der Komischen Oper Berlin © Barbara Braun

28. Oktober 2023. Ist die Welt ein Zirkus? Hier schon: Wenn die große Gerichtsverhandlung ansteht, in der die Jury (wir sind in den USA) entscheiden soll, ob Roxy Hart wegen Mordes hingerichtet oder freigesprochen wird, senkt sich ein glühbirnengespicktes rundes Podest herab. Hier führen Roxy und ihr Anwalt Billy Flynn ein Spektakel auf, das die Geschworenen und die Presse zu Statisten macht: Er gibt die geschliffenen Stichworte, sie zieht alle Register zwischen Demut, bedrängter Unschuld und Kämpferin für die Liebe.

Was ist schon ein Mord!

Natürlich ist das erlogen, natürlich funktioniert's. It's showbiz! Erst recht an diesem Abend, denn Regie führt Barrie Kosky in "Chicago" von Fred Ebb, Bob Fosse (Buch) und John Kander (Musik). Von Ebb und Kander stammt auch "Cabaret" von 1966, das an Mehrspartentheatern und manchen Schauspielhäusern rauf und runter gespielt wird. Dabei hat das Musical-Vaudeville von 1975 in seiner moderierten Nummernhaftigkeit, seinem zwar gutgelaunten, aber doch moritatenhaften Zeigegestus viel mehr von Bertolt Brecht. Viele Songs wie "All That Jazz" und "When You're Good To Mama" sind Ohrwürmer, einige klingen zudem nach Kurt Weill, "Class" zum Beispiel, zumal sie hier auf Deutsch gesungen werden.

Kosky greift das Episch-Brecht'sche im Schillertheater auf, einst die Westberliner Staatsbühne und nun schon seit vielen Jahren Ausweichspielstätte für Bühnen auf Sanierungs-Wanderschaft. Da passt dieser Auftakt mit "Chicago", einer in den Glamour getriebenen "Dreigroschenoper" gut (die Kosky ja auch schon inszeniert hat am Berliner Ensemble). Unmoral siegt, und der Brecht-Satz vom Einbruch und der Gründung einer Bank ließe sich hier so abwandeln: Was ist ein Mord an einem Mann angesichts des Mordens in der Welt?

Triumph über dumme Männer

Denn Roxy und Velma haben Menschen erschossen, kommen am Ende aber frei, weil sie die Klaviatur jenes "Im Dickicht der Städte"-Chicagos beherrschen, in dem man untergeht – oder triumphiert. Ist der Kampf der Beiden um Freiheit nicht auch weibliche Selbstermächtigung? Allzu gerne jedenfalls lässt man sich von der zynischen Glitzerwelt manipulieren, die hier um die beiden aufgefahren wird: Michael Levines Bühne ist ein Meer aus Glühbirnen, die blinken und funkeln und Muster malen.

Here we go über Leichen: Katharine Mehrling und Ruth Brauer-Kvam © Barbara Braun

In diesem Geflirre erscheint Katharine Mehrlings Roxy als eine derart hinreißend lebens- und ruhmhungrige Frau mit Drang zur großen Geste und unerschöpflichem Vorrat an Gesichtern und Nuancen, dass ihr der Triumph über die dummen Männer zu gönnen ist. Zumal sie diese immer leicht angeraute, aber scheinbar grenzenlose Stimme besitzt, die einzige, die das leider etwas ungünstig ausgepegelte Orchester lässig übertönt! Nur Jörn-Felix Alts überaus cremiger Anwalt durchschaut sie, selbst eine so scharf wie charmant konturierte Rampensau voll Gewinnsucht, Gier und schlanker Tenorschönheit. Allein dieses schiefe Lächeln unterm Bleistiftbart!

Ruth Brauer-Kvams Velma ist ebenfalls mit allen Wassern gewaschen und äußerst wandlungsfähig, kommt aber stimmlich eher in den chansonhaften Momenten zur Geltung. Da ist auch Andreja Schneider von den Geschwistern Pfister zu Hause, als Mama Morton eine Knastchefin mit Gemüt, Lust am Schmiergeld und gutaussehenden Frauen.

Kickender Musical-Drive

Um sie tanzt das Ensemble in Victoria Behrs herrlichen Glitzertraumkostümen Otto Pichlers zuverlässig überbordende Choreografien. Anfangs denkt man sich noch: Na, das kann ein gut aufgestelltes Mehrspartentheater auch, und ja, die anderen großen Book-Musicals hier am Haus, "La Cage aux Folles" mit Stefan Kurt und "Anatevka" mit Max Hopp und Dagmar Manzel, sind noch durchgearbeiteter, noch nuancierter. Aber auch hier kickt bald der Musical-Drive, den so nur die Komische Oper kann, groovt das Orchester unter Adam Benzwi besonders lässig und jazzy, reißt es das Publikum am Ende von den Sitzen.

That's showbiz: Jörn-Felix Alt und Ensemble © Barbara Braun

So leicht entlässt uns Kosky aber nicht aus der Frage, was eigentlich mit der Gerechtigkeit ist. Es gibt eine Szene, in der die Einzige im Knast, die offenbar unschuldig ist, aber keinen Sexappeal, Geld oder mächtige Freunde hat, hingerichtet wird – so richtig mit Strick und allem; der einzige Moment ohne Ironie und Augenzwinkern. Man kann das als Kommentar lesen auf unsere Lust, uns ablenken und belügen zu lassen vom schönen Schein. Vielleicht wird aber auch andersrum ein Schuh draus: Weil es das Leiden und Sterben gibt, braucht der Mensch die drei Stunden Auszeit vom Grauen draußen. Alles nur Theater, klar. Aber was für eins!
 
Hinweis 30. Oktober 2023: In einer ersten Version war die Autorschaft der Musicals "Chicago" und "Cabaret" verkürzt dargestellt worden. Das wurde jetzt korrigiert.

Chicago
Ein Musical–Vaudeville von Fred Ebb und Bob Fosse (Buch) und John Kander (Musik)
Deutsch von Erika Gesell und Helmut Baumann
Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Inszenierung: Barrie Kosky, Bühne: Michael Levine, Kostüme: Victoria Behr, Choreographie: Otto Pichler, Dramaturgie: Johanna Wall, Chöre: Jean-Christophe Charron, Licht: Olaf Freese.
Mit: Katharine Mehrling, Ruth Brauer-Kvam, Jörn-Felix Alt, Andreja Schneider, Ivan Turšić, Hagen Matzeit, Petra Ilse Dam, Mariana Souza, Martina Borroni, Paulina Plucinski, Danielle Bezaire, Lindsay Dunn, Matthias Spenke, Sascha Borris, Nikolaus Bender, Lorenzo Soragni, Michael Fernandez, Andrii Zubchevskyi, Shane Dickson, Benjamin Gericke, Ivan Dubinin, Silvano Marraffa.
Premiere am 28. Oktober 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.komische-oper-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Was könnte den Beginn am neuen Ort besser markieren als ein rauschender Kosky-Erfolg? Den gibt es auch hier", so Clemens Haustein in der FAZ (30.10.2023) Der Regisseur setze seine Reihe von Musical-Inszenierungen fort: temporeich auf die Bühne gebracht, phantasievoll, prall von Leben und Energie. "Chicago" sei eines von Koskys Lieblingsstücken, voll von hartem Zynismus und bitterer Ironie, in dem sich Nostalgie mit brennender Aktualität mischt. Der Regisseur liefere große Show, "munter in aller Schwärze des Humors, gut gelaunt bei aller Bitterkeit der Analyse". Otto Pichlers Choreographie rattere derweil wie am Schnürchen, "so überbordend und atemlos, dass es wirkt, als kämpfe die Inszenierung selbst mit allem Willen zum Leben und zum rettenden Humor gegen die Schwärze des Stückes an". 

"Noch mehr Glitzer geht nicht" ist Frederik Hanssens Kritik im Tagesspiegel (30.10.2023) untertitelt. Der weite Bühnenraum des Schillertheaters blinke und glitzere auf derart mondäne, überwältigende, metropolenwürdige Weise. "Schon in der Eröffnungsszene erlebt das Schillertheater den ultimativen Glamour-Moment. 6500 Lampen erstrahlen in Michael Levines Bühnenbild." Tänzerinnen und Tänzern umschwirren die Protagonistin Ruth Brauer-Kvam leichtfüßig, befeuert von der fantastischen Fantasie des Choreografen Otto Pichler. "Allein der Anteil von Barrie Kosky am Gelingen dieses umjubelten Abends bleibt etwas nebulös (...) Die einzigen Regieeinfälle, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben, sind zugleich jene Elemente der Inszenierung, die am meisten nerven."

"Einige turbulente Szenen kann der Regisseur auf die Bühne zaubern", so Volker Blech in der Berliner Morgenpost (30.10.2023). In der Handlung gehe es um Unmoral, die Macht der Manipulation, um Sensationsgeilheit und das schnelle Vergessenwerden. "Kosky zeigt die Welt als eine selbstverliebte Show mit viel Glitzer und Humor, aber ohne jeden doppelten Boden." Beiläufig erinnere einiges an Koskys "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble, wozu neben der stählernen Gefängnisatmosphäre auch moritatenhafte Rampenauftritte sehr frei nach Brecht gehören.

"Koskys Inszenierung kommt etwas zäh in Gang. Fängt sich aber später, schreibt Kai Luehrs-Kaiser in der Berliner Zeitung (30.10.2023). "Zwei verurteilte Mörderinnen organisieren ihre Gesangskarriere aus dem Knast heraus. Eigentlich eine originelle Geschichte". Kosky habe sich für eine All-Glamour-Version des Werkes entschieden. Von beleuchtungsdynamischer Dauererregung "gibt's gleich am Anfang eigentlich schon zu viel. Sodass es über eine Spielstrecke von drei Stunden ermüdet". Und dann auf Deutsch, "muss das sein?", so der Kritiker. "Altbackene Wendungen wie 'Wir tanzen Jazz bis das Strumpfband kracht' können das Alter der Version nicht verhehlen." 

Kommentare  
Chicago, Berlin: Feuilletonfähigkeit
Zitat: "So leicht entlässt uns Kosky aber nicht aus der Frage, was eigentlich mit der Gerechtigkeit ist. Es gibt eine Szene, in der die Einzige im Knast, die offenbar unschuldig ist, aber keinen Sexappeal, Geld oder mächtige Freunde hat, hingerichtet wird – so richtig mit Strick und allem; der einzige Moment ohne Ironie und Augenzwinkern." - Diese Szene steht im Buch und kommt in jeder "Chicago"-Inszenierung vor. Ist nicht Barrie Koskys Idee, sondern die der Autoren. Aber wie üblich in der deutschen Theaterkritik: Erst der Avantgarde-Regisseur macht das Musical feuilletonfähig, an der Qualität des Stücks kann es auf keinen Fall liegen... Ausländerin ist sie übrigens auch noch, die eine, die gehenkt wird - hat Kosky dieses brisante Faktum etwa vergessen?

Just for the record: Bob Fosse hatte mit dem Bühnenmusical "Cabaret" nichts zu tun, er führte erst bei der Verfilmung Regie. Der Satz mit dem Trio ist also falsch.
Chicago, Berlin: Korrigiert
@1: Ja, das kommt in jeder Chicago-Inszenierung vor. Aber in Zeiten wie diesen hätte man das auch weniger ausgestellt und brutal inszenieren können. Darauf kam’s mir an.

Zum Dreier-Team: Stimmt, da habe ich ungut verkürzt. Vielen Dank für den Hinweis. Ist korrigiert.
Chicago, Berlin: Gier nach Ruhm
Ein sehr schlechtes Zeugnis stellen Fred Ebb, Bob Fosse und John Kander der US-amerikanischen Gesellschaft in ihrem Musical „Chicago“ aus. Sie zeichnen das Bild einer zutiefst korrupten und oberflächlichen Gesellschaft, in der die Gier nach Ruhm und Boulevard-Schlagzeilen die entscheidende Triebfeder ist und statt rechtsstaatlicher Normen und präziser Beweisführung über den Erfolg vor Gericht entscheidet, ob man genug Geld hat, sich den manipulativen Rechtsanwalt (Jörn-Felix Alt) leisten zu können.

Diese bissige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ist tatsächlich erstaunlich nah an Bertolt Brecht/Kurt Weill und ihrer „Dreigroschenoper“, die ein paar Jahre später jenseits des Atlantiks uraufgeführt wurde. Wie Dramaturgin Johanna Wall im lesenswerten Programmbuch nachzeichnet, basiert das Musical auf realen Gerichtsprozessen, die Maurine Dallas Watkins, im Stück als Mary Sunshine als Karikatur einer sensationsgierigen Society-Reporterin präsent, für den Chicago Tribune beobachtete.

Der knapp dreistündige Abend ist im Stil des Vaudeville gebaut, Solo-Nummern ergänzen sich mit Tanz-Einlagen, die Otto Pichler gekonnt und lasziv choreographiert. Er ist der bewährte Co-Regisseur von Barrie Kosky, der nach vielen Triumphen als Intendant der Komischen Oper die neue Interimsspielstätte im Schillertheater in seiner neuen Rolle als dem Haus weiterhin eng verbundener Regisseur eröffnete. Von den 6.500 blinkenden Glühlampen bis zu Victoria Behrs Kostümen und auch sonst wartet der Abend mit so viel Glitzer und Glamour auf, wie es der Name Kosky erwarten lässt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/06/chicago-komische-oper-musical-kritik/
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