Gott schütze die Unschuldslämmer!

von Georg Kasch

Berlin, 14. April 2018. Wie war das noch mal mit dem Universum? Ach ja: Die schwarze Materie ist das, was das Ganze zusammenhält. Die schwarze Energie treibt alles auseinander. Und die schwarzen Löcher? Entwickeln vor allem dann zerstörerische Kräfte, wenn man ihnen zu nahe kommt. Alles nicht so schwer, sondern ziemlich nachvollziehbar. Jedenfalls wenn man, wie Yael Ronen, die Zusammenhänge einem youtubenden Wissenschaftsvermittler in den Mund legt und zugleich die physikalischen Urkräfte auf der Bühne personalisiert.

Drei Brüder beim Zusammenstoß

Natürlich geht es in Yael Ronens neuem Stück "A Walk on the Dark Side" am Gorki Theater nicht um Naturphänomene. Sondern einmal mehr um jene menschlichen Abgründe, die in Gewalt münden, psychische und physische. Drei ungleiche Brüder treibt sie mit größter Lust am Zusammenstoß aufeinander: Immanuel, den arroganten und preisgekrönten Astrophysiker. Mathias, den coolen, ein bisschen narzisstischen Nachwuchswissenschaftler mit riesiger Fanbase. Und David, den ungeliebten Halbbruder, die Nervensäge, den, der nicht richtig dazugehört, und mit dem sie eine gescheiterte Integrationsgeschichte verbindet: Immanuel und Mathias waren Schuld daran, dass David als Kind aus dem Fenster sprang.

awalkonthedarkside1 560 ute langkafel maifoto uYael Ronen gibt eine Erzählung von Schuld, Rache und Vergebung unter Brüdern: mit Jeff Wilbusch und Dimitrij Schaad © Ute Langkafel / Maifoto

Von alttestamentarischer Wucht sind hier nicht nur die Namen (Immanuel – Gott mit uns, Mathias – von JHWH gegeben, David – Liebling Gottes), sondern auch Schuld, Rache und Vergeltung. Kain und Abel, Jakob und Esau lassen grüßen, nur dass die Brüder hier zu dritt sind. Mitleid? Versöhnung? Wieso auch? Gott, der alles sieht und alles straft, ist tot. Um alles zu sehen, gibt es Google, Facebook und Co. Und wenn Verfehlungen offen zutage treten, regeln die Menschen das mit der Rache schon allein.

Well made play und Psychothriller

Ronen pfercht die drei Brüder zum Seelenstriptease und Showdown in ein Hotel in der Uckermark. Mit dabei: Mathias' suizidale Freundin Magda und Immanuels Frau Mania. Auch hier sprechen die Namen: Dass Magda als die bekehrte Sünderin ein ironischer Kommentar ist, liegt ebenso nahe wie die Vermutung, dass "die Rasende" an Davids Rachefeldzug stärker beteiligt ist, als die Handlung vordergründig nahelegt.

Lange regieren auf der Bühne – Magda Willis Schnürchenvorhang verbirgt ein kühles Raumgestell, über das blasse Uckermarck-Impressionen huschen – bitterböse Pointen. Edward Albee grüßt vernehmlich. Bis der Psychothriller die Herrschaft übernimmt. Das funktioniert als well made play hervorragend, vor allem weil die Schauspieler allesamt abheben: Dimitrij Schaads Immanuel ist ein arrogantes Aas und hemmungsloser Egomane, aber das wahre Ausmaß seiner Empathielosigkeit überrascht dann doch. Jonas Dassler wirft sich als Mathias so fatzkenhaft die Haare aus der Stirn, dass man ahnt, wie klein das Ego dahinter wirklich ist. Ihr erbittertes Tennismatch in Zeitlupe gehört zu den szenischen Höhepunkten des Abends – mehr gibt es über diese nur vordergründig freundschaftliche Brüderrivalität nicht zu sagen.

awalkonthedarkside2 560 ute langkafel maifoto uFamilien-Action und trockene Pointen: Lea Draeger, Jonas Dassler, Orit Nahmias, Dimitrij Schaad
© Ute Langkafel / Maifoto

Jeff Wilbusch wiederum als Kaugummi gnatschender israelischer Halbbruder wirkt anfangs so anmaßend und deplatziert, dass man erst allmählich begreift, wer hier die Fäden zieht. Orit Nahmias als frustrierte Ehefrau hat mal wieder die trockensten Pointen, während Lea Draegers gespenstischer Nölton endlich eine Rolle gefunden hat, in der er durchweg glänzt.

Ein bisschen schade ist, dass zum Schluss die Fäden allzu gut aufgedröselt werden und jeder kriegt, was er verdient. Ein merkwürdiges Happy End, das so gar nicht verstört, allenfalls durch die Erkenntnis, dass wir uns Big Brother längst ausgeliefert haben. Und dass Unrecht neues Unrecht gebiert. Die Antwort auf die Frage: "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?" bleibt indes nur angerissen, wird aber dafür äußerst wirkungsvoll ausgespielt.

Christian Weise inszeniert Daniil Charms

Abgründe tun sich auch in "Elizaveta Bam" auf. Das Leben in einer Diktatur, und sei es die des Proletariats, lässt sich eigentlich nur mit absurdem Theater fassen. Daniil Charms schlägt in seinem einzigen langen Stück von 1928 – Elisaveta soll jemanden umgebracht haben, aber irgendwie klappt das mit ihrer Verhaftung nicht so recht – einen Haken nach dem nächsten, lässt Stimmungen, Genres, Sprechstile wechseln.

Christian Weise folgt im kleinen Studio Я dem Autor in seinen Anweisungen (die sicherheitshalber zum Nachlesen auf den Stühlen liegen) getreu und toppt sie zugleich: durch Julia Oschatz' geniale Bühne, ein naiv gemaltes Zimmer in Schräglage, das sich überraschend ins Dreidimensionale weitet, durch Pina Starkes comichaft überzeichnete Kostüme, durch Herbert-Fritsch-ähnliche Lust an der körperlichen Verknäuelung. Allein die Nummer, in der die Figuren mit größter Ausdauer versuchen, einen Rollator durch die Tür zu kriegen, ist ein (ja:) absurdes Meisterstück – und Sinnbild für den ganzen Abend.

elizavetabam 560 ute langkafel maifoto uDas Gorki Exil-Ensmble besticht: Szene mit Karim Daoud, Kenda Hmeidan, Mazen Aljubbeh
© Ute Langkafel / Maifoto

Vor allem ist es die erste Produktion des Exil-Ensembles, in der alle Schauspieler auf der Bühne überwiegend Deutsch sprechen (und zwar ziemlich gut) und zugleich mit einer irren Ganzkörperakrobatik glänzen, manisch angefeuert von Musiker und Geräuschemacher Jens Dohle im taktsicheren Dauereinsatz. Wie Mazen Aljubbeh und Karim Daoud zwischen treudoofen Slapstick und Bedrohlichkeit pendeln, wie bei Daoud sich immer wieder ein berührender Melancholierand dazuschleicht, wie man nie weiß, ob Kenda Hmeidans hübsche Elizaveta jetzt Unschuldslamm ist oder gerissene Schlange, das ist ein hemmungsloser Spaß über einem Schlund an Gewalt und Undurchsichtigkeit.

Dass neben vielen Russland-Klischees auch nahöstliche Ruinen zitiert werden, etwa die in Syrien liegende und durch den Krieg zerstörte Krak de Chevaliers, dass auch immer mal wieder arabisch gesprochen wird, sind dezente Hinweise darauf, dass sich das Charms'sche Absurdistan auch heute noch finden lässt.

 

A Walk on the Dark Side
von  Yael Ronen und Ensemble
Regie: Yael Ronen, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Nils Ostendorf, Video: Benjamin Krieg, Licht: Hans Fründt, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Jonas Dassler, Lea Draeger, Orit Nahmias, Dimitrij Schaad, Jeff Wilbusch.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten

Elizaveta Bam
von Daniil Charms
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg
Ein Projekt des Exil Ensembles
Regie: Christian Weise, Bühne: Julia Oschatz, Livemusik: Jens Dohle, Dramaturgie: Mazlum Nergiz, Kostüme: Pina Starke, Fechtchoreographie: Klaus Figge, Fechttraining: Jan Krauter; Sprecherzieherinnen: Gabriella Crispino, Caroline Scholz Ott und Christine Kugler.
Mit: Maryam Abu Khaled, Mazen Aljubbeh, Aram Tafreshian, Karim Daoud, Tahera Hashemi, Kenda Hmeidan.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"'A Walk on the Dark Side' hätte das Zeug gehabt für ein böses, bissiges Kammerspiel über die Abgründe menschlicher Beziehungen. Yael Ronen bringt stattdessen eine teilweise ziemlich überdrehte Komödie auf die Bühne", sagt Nadine Kreuzahler im rbb Inforadio (16.4.2018). "Das ist sehr lustig, und man guckt den Schauspielern dabei gerne zu." Aber viel besser sei das Stück, wenn es seine "oft guten, lustvoll bösen" Dialoge zelebriere. "Schade, dass sich Yael Ronen nicht allein darauf verlassen möchte."

"Überraschend ordentlich" findet Dirk Pilz "A Walk on the Dark Side" in der Berliner Zeitung (16.4.2018). "Yael Ronen, Spezialistin für gebrochene, zerfurchte postsäkulare Seelen, macht mit diesem Abend der Konversationsdramakunst einer Yasmina Reza Konkurrenz. Das ist nicht die schlechteste Referenz", so Pilz: "Aber es erstaunt doch, wie einfach es sich Ronen diesmal macht, wie selbstverständlich fast sämtliche Konflikte und Figurenkonstellationen einer Wirkungsästhetik in den Rachen geworfen werden, wie das Makabre dem Sarkasmus, das Bittere der Pointe geopfert wird." "Garstiger, auch kantiger" sei dagegen "Elizaveta Bam": "Gemeinsam mit dem Exil-Ensemble hat Weise dieses Stück absurder Literatur nicht nur herrlich schräg auf die Bühne gepuzzelt, sondern auch als leise, aber unübersehbar Bezug zur Gegenwart genommen."

"A Walk on the Dark Side“ sei ein durchaus unterhaltsamer Abend, findet Christine Wahl im Tagesspiegel (17.4.2018). "Auf Magda Willis Gerüst-Bühne spielt sich ein solide gruseliger Familienclinch ab, der durch Benjamin Kriegs gelegentliche Video-Autobahnbilder in Richtung David Lynch äugt." Die gewaltigen Universumsdimensionen, die Titel und Materientheorie andeuteten, blieben aber eher nett-lustiger Behauptungsüberbau. "Jede und jeder hat – so viel steht fest – mindestens eine dunkle Seite. Voilà."

Kommentare  
A walk on the dark side, Berlin: Biss fehlt
Jenseits des Physik-Intros entspinnt sich ein klassisches Beziehungsdrama zweier Paare mit einigen amüsanten Pointen. Den schrägen Rollenspielchen von Mathias mit der eben aus der Psychiatrie entlassenen Magda (Lea Draeger) schaut man ebenso gerne zu wie den neurotischen Streitgesprächen zwischen Immanuel und seiner Mania (Orit Nahmias).

Der knapp zweistündige Abend kommt aber erst auf Betriebstemperatur, als in der Uckermark plötzlich der Halbbruder David (Jeff Wilbusch) auftaucht. Das Ex-Residenztheater-Ensemble-Mitglied verleiht seiner Figur mit seiner Sonnenbrille und einem Schuss Maximilianstraßen-Schnöseligkeit die nötige Mischung aus Aalglattheit und Zwielichtigkeit. Mit der leitmotivisch wiederkehrenden düsteren Musik gewinnt der Abend, der langsam bei Psychodrama-Motiven ankommt, an Kontur.

„A walk on the dark side“ ist handwerklich solide gemachte Unterhaltung einer Könnerin, die diesmal aber doch deutlich hinter ihren stärksten Stücken zurückbleibt. Dem Abend fehlt der richtige, schwarzhumorige Biss. Ungewöhnlich, aber legitim ist, dass Ronen die Politik, die in ihren besten Inszenierungen auf humorvolle Art im Zentrum steht, diesmal komplett außen vor bleibt. Bei einem Physiker-Ausflug in die Uckermark hätte man auch anderes erwarten können…

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/15/a-walk-on-the-dark-side-eine-schrecklich-nette-familie-reist-in-die-uckermark/
A walk on the dark side, Berlin: Versuchsanordnung
Zu "A Walk on the Dark Side":

Es geht natürlich wieder darum, wer man selbst ist, wer man sein kann, wenn das Leben auf Lüge und strategischem Selbstbildaufbau fußt. David, den Jeff Wilbusch als Klischee-Neureichen spielt, freundlich, ein bisschen zu laut und sich nie in die Karten schauen lassend, ist der Katalysator des Ganzen. Er kennt die Geheimnisse – Facebook und Google lassen grüßen – und spielt sie meisterhaft gegeneinander und ihre Träger aus. So wird es zunehmend düstern, bleibt das Lachen im Halse stecken, entfalten sich nicht die wahren Gesichter, aber neue, hässlichere Fratzen, Gegenbilder des schönen Scheins. Das Aufdecken der Wahrheit hat nichts Kathartisches, weil sie nur das Nichts offenbart, das sich hinter der Oberfläche verbirgt. Der Wille, nachzuschauen, was „da drin“ ist, führt zu einer gespenstischen Schlusspointe. Es ist ein überraschender und recht starker Abend geworden, der vielleicht zu viel ausbuchstabiert und sich noch stärker auf die atmosphärische ebene und die Auseinandersetzung mit den zitierten Genres hätte einlassen können. Natürlich ist die Physik-Metaphorik ein wenig plakativ und geht am Ende zu sauber auf. So bleibt letztlich der Schlag in der Magengrube aus und doch die Konsequenz, mit der hier die alltäglichen Lebenslügen ausgespielt und die Ich-Konstruktion aus dem Geist der Verdrängung vorgeführt werden, im Gedächtnis. Als ein wenig kühle, aber umso wirkungsvollere Versuchsanordnung, die nicht ins Mark fährt aber wenigstens ins Hirn.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/04/16/auf-der-dunklen-seite/
Elizaveta Bam, Berlin: hochtourig, mit kleinen Durchhängern
Aus dem Versuch, den Rollator mit dem Diebesgut durch die Wohnungstür der Familie Bam, wird ein perfekt arrangiertes Körperknäuel. Maryam Abu Khaled, Mazen Aljubbeh, Karim Daoud und Kenda Hmeidan vom Exil Ensemble legen gemeinsam mit Aram Tafreshian, der seit 2013 am Haus engagiert ist, eine Nummer hin, die genauso schräg ist, wie die Bühne von Julia Oschatz.

Hochtourig, mit wenigen Durchhängern im mittleren Teil lässt Christian Weise seine Spielerinnen und Spieler einen Klassiker des absurden Theaters performen. Bevor es zum ersten Mal an der Wohnungstür von „Elizaveta Bam“ klopft, gibt Afrashian in einem Prolog einen kurzen Abriss über das Leben des Dichters. Live-Musiker Jens Pohle, der auch später immer wieder ins Geschehen eingreift, treibt ihn mit stalinistischen Verhörmethoden in die Enge.

Aus dem Ensemble ragen vor allem Aljubeh und Daoud als Iwan Iwanowitsch und Pjotr Nikolaiwitsch heraus, die mit breitem Grinsen und in Sträflingsanzügen den Haushalt der Familie Bam aufmischen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/07/elizaveta-bam-christian-weise-inszeniert-den-klassiker-des-absurden-theaters-mit-dem-gorki-exil-ensemble/
Elizaveta Bam, Berlin: Welch Spaß! Welch Abgrund!
Zu "Elizaveta Bam":

Christian Weise nimmt Charms‘ Text ernst und übersetzt ihn in lebendiges Theater. Jens Dohles Live-Musik kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Er treibt das Geschehen an, zwingt die Darsteller*innen immer wieder in rhythmisierte Sprach- und Körperverrenkungen, legt das mechanische Grundprinzip einer entseelten Welt offen. In der das Exil Ensemble des Gorki, bestehend aus schauspielern mit Migrations- und Fluchterfahrung, Menschenzerrbilder spielt, die um einen letzten Rest an Menschsein kämpfen. Atemberaubend die mehrminütige Routine im ersten Szenenkomplex, als eine der Schergen versucht die Bamsche Wohnung samt Rollator und Diebesgut zu verlassen, was in einer vierköpfigen Vergeblichkeitsverknäuelung von zwerchfellerschütternder Verzweiflung resultiert. Diese Welt ist nicht zu bewältigen und schon gar nicht zu verlassen.

In der Folge gibt Weise dem absurden Affen ordentlich Zucker. Immer skurriler, undurchdringlicher wird das nicht mehr als solches identifizierbare geschehen. Rotkäppchen füttert den Wolf, die Wohnung wird zur Höhle, die in einer Mischung aus Totenkostüm und Sträflingskleidung gewandeten Unholde, ebenso in ihrem System gefangen wie das vermeintliche Opfer (auch hier ist der Text nicht weit von Kafka), tanzen Ballett, in einer Art Kriminalfarce lösen sich plötzlich die Worte auf, der Vater (Tafreshian) wird zum orientalischen Säbelkämpfer und spricht in reimen des Heldeneops. Alles ist möglich, nichts real und doch gerade deshalb umso wirklicher. An einer Stelle zieht sich Elizaveta in ein unterirdisches Schreibzimmer zurück und tippt ein Gedicht von Charms ab. Die (unschuldig?) Verfolgte als Chronistin des eigenen Verschwindens: Im Zusammenspiel von Hmeidans affirmative, gegen die Angst anrennnende Selbstbehauptung mit den trotzig lächerlichen (Mazen Ajubbeh) und grotesk traurigen (Karim Daoud) Clown-Marionetten einer Macht, deren Existenz immer fragwürdiger erscheint, löst sich jede Gewissheit auf, wird die einzelne zur Getriebenen, die sich wie Realität und Sprache am Ende auflöst.

Da werden die Figuren zu Zielscheiben, auf die das Publikum eingeladen ist, zu feuern. Ein hochkomisches und atemberaubend schmerzvolles Bild der Objektivierung und Materialisierung des Menschen als Knetmasse machterhaltender Gewalt. Gewalt, die sich selbst befeuert und nicht von der Stelle kommt. Am Schluss klingelt es wieder, Elizaveta wird verhaftet und wehrt sich diesmal nicht. Die Schergen sind nun als Feuerwehrleute gekleidet. alles ist anders und alles gleich. Die Macht erhält sich, indem sie sich selbst in den endlosen Schleifen der eigenen Mechanismen gefangen nimmt, sie wird so selbst zum Opfer und kann nur als solches überleben. Damals wie heute: Mehrfach fallen die Akteur*innen ins Arabische, einmal wird die Kreuzritterburg Krak de Chévaliers, gelegen in einer der vom syrischen Bürgerkrieg am stärksten heimgesuchten Gegenden, projiziert. Da kriecht sich die Wirklichkeit ein, die Gegenwart, so brutal, so absurd, so entmenschlichend wie die, welche Charms erlitt und künstlerisch transformierte. Und die Kunst, das Theater, dieses Theater ist ihr Entlarver wie ihr Erhalter. Indem sie die Opfer am Leben erhält, tut sie selbiges auch mit den Tätern. Ein Kreislauf so absurd wie dieser Abend. Eine schiefe Welt, in der alles, was abrutscht, wiederkommt, ein Perpetuum Mobile der Sinnlosigkeit, in der die einzig mögliche Bedeutung liegt, dort, wo alles „aus den Fugen ist“. Da sind Realismus, Farce, Vaudeville und Krimiklamotte Lebenselixiere, der Stein, den Sisyphos den Berg hinauf rollt, der Gipfel der Existenz. Welch ein Spaß! Welch ein Abgrund!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/10/der-rollator-des-sisyphos/
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