Aus dem bürgerlichen Höllenleben

4. März 2024. Einmal zu hart gesoffen und gleich mit Filmriss aufgewacht! Was ist in der letzten Nacht passiert? Ein Mord womöglich? Eine Gräueltat? Jan Bosse nimmt sich an der Schaubühne Eugène Labiches Komödien-Klassiker "Die Affäre Rue de Lourcine" vor. Was für ein Kater! Was für ein famoser Albtraum!

Von Elena Philipp

Jan Bosse zeigt Eugène Labiches "Die Affäre Rue de Lourcine" an der Schaubühne in Berlin © David Baltzer

4. März 2024. Läuft. Gerade nicht so. Für den Bürger Lenglumé. Als er eines Morgens, vielleicht aus unruhigen Träumen, erwacht, schmerzt ihm der Schädel. Und er kann sich an nichts erinnern. "Diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke!", jammert Bastian Reiber. Was ist nur geschehen?

Erst einmal muss er sich auf den Teppich übergeben, direkt vor seinem blausamten verhängten Riesenbett, mehrfach und methodisch, mit Würgen und emsigem Nachkippen aus der Flasche voll Ekel-Mixtur. Weil kein Diener kommen mag, um die Sauerei wegzuwischen, und weil auch seine magischen Handbewegungen nichts bewirken, legt er eine Zeitung drüber. Und versucht dann so verwirrt wie vergeblich mit seinem hohl gesoffenen Hirn, die vergangene Nacht zu rekonstruieren.

Abgründige Boulevardkomödie

Jan Bosse inszeniert Eugène Labiches Komödien-Klassiker an der Schaubühne als Albtraumstück. Texttreu insofern, als der 1815 geborene französische Autor als Erfinder des "vaudeville cauchemar" und der abgründigen Boulevardkomödie gilt, wie die Ankündigung und das klug kontextualisierende Programmheft angeben.

Aus der fehlenden Erinnerung erwächst Paranoia: Lenglumé schließt aus der Zeitung, dass er und sein Saufkumpan – der ihm nur entfernt bekannte Internatsgenosse Mistingue (Damir Avdic), den Bürger Lenglumé morgens in seinem Bett als seinen Doppelgänger vorfindet – nachts im Rausch eine Kohlenhändlerin ermordet und grauenhaft verstümmelt haben müssen. Wie kann das sein? Vor Schreck geweitete Augen. Raufen der schlecht sitzenden Lockenperücke. Reibers blauer Schnurrbart verrückt ein Stück.

Affaere Rue de Lourcine Damir Avdic c Fabian Schellhorn 004Der gestreifte Pyjama verrät die Häftlinge in spe: Damir Avdic und Bastian Reiber mit Julia Schubert (vorn) in Kostümen von Kathrin Plath © David Baltzer

Am Tatort, so verliest Lenglumés Gattin Norine (Julia Schubert) ahnungslos die Fakten, hätten die Mörder zwei Gegenstände hinterlassen: einen grünen Regenschirm mit Affenkopf und ein Taschentuch mit den Initialen J.M. Eindeutige Beweisstücke! Den Schirm hat sich Lenglumé von seinem Cousin Potard geliehen, dessen Adresse am Griff eingraviert ist, und das Taschentuch trägt Mistingues Initialen. Zucken, Winden, Krümmen – die Neuigkeiten treffen die vergesslichen Verbrecher wie Boxhiebe.

Bloß vor der adretten Norine alles leugnen, ist Lenglumés verzweifeltes Anliegen. Unter den Teppich kehren, hinter den schweren Vorhängen verbergen. Ins Unbewusste verdrängen. Doch dann tut Cousin Potard, den Holger Bülow als schluffige Mischung aus Kurt Cobain und Billie Eilish spielt, wie nebenbei kund, dass er seinen Cousin und dessen Kompagnon beobachtet habe. Ein Zeuge! "Sakrament!"

Masters of Comedy

MC Reiber, der als Master of Comedy virtuos remixt, was das Genre hergibt, und sein Alter Ego Damir Avdic ziehen alle Register der (Körper-)Komik. Sie straucheln und verbiegen sich, stolpern und lallen. In der herrlichen, breit ausgewalzten Trunkenheitsszene zu Beginn saufen sie nacheinander wie Pferde aus der Vase mit den edlen Lilien. Diese steht auf dem Servierwagen voll bunt leuchtender Kristallkaraffen, den das Diener-Faktotum Justin (Axel Wandtke) anfangs hereinrollt und der das einzige, üppige Requisit in der katafalkschwarzen Leere von Szenograph Stephane Laimé darstellt. Seine Bühne ist die Antithese zu den vollgestellten bürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts, in denen etliche von Labiches Manufaktur-Lustspielen verortet sind.

Wenn Nosferatu hereinschleicht

Labiches französische Komödie, "abgesunkener Molière", wie im Programmheft ein Essay des Autors Urs Widmer zitiert wird, haben Jan Bosse und die Dramaturgin Bettina Ehrlich mit dem deutschen Stummfilm-Expressionismus verschaltet. Die Rückwand des Riesenbettes wird zur Projektionsfläche, mit Castorf-Vibes, wenn Lenglumé und Mistingue in den Höllenschlund hinabsteigen, der sich unterm bürgerlichen Mobiliar eröffnet, und durch die Eingeweide des Theaters zu entkommen suchen, von der immer noch ahnungslosen, nur vage Verdacht schöpfenden Norine auf offener Bühne beobachtet.

affaereRUElourcine018 c David Baltzer uSaufbold mit Stil: Damir Avdic als Mistingue © Fabian Schellhorn

In die Paranoia abgleitend, starrt Bastian Reiber mit den unheimlich geweiteten, leuchtenden Augen von Fritz Langs Dr. Mabuse vom Screen. Und wenn er brutal seinen Diener Justin erschlägt, dem Mistingue in weinerlichem Suff alles gestanden hat, ist sein Opfer Axel Wandtke wie Murnaus Nosferatu geschminkt. Das Fiebrige, Zerkratzte des Expressionismus tritt zur bürgerlichen Dekadenz von Labiches Figuren, die es gewohnt sind, sich mit Geld von inkriminierenden Vorfällen reinzuwaschen – ein Händewaschzwang befällt Mistingue und Lenglumé, und letzterer zahlt Cousin Potard Schweigegeld. Um ihn dann doch mit dem Bolzenschneider zu erschlagen, weil der leichtfertige Verwandte, der die beiden gar nicht beim Morden beobachtet hat, verrät, seiner Frau ausnahmslos alles zu erzählen. War der anfängliche Mord an der Kohlenhändlerin eine Fiktion – die Zeitung soll, komödiengemäß höchst unwahrscheinlich, zehn Jahre alt gewesen sein –, hat Lenglumé nun tatsächlich zwei Menschen umgebracht.

Oder doch nicht? Jan Bosses Inszenierung lässt das am Schluss offen. Zwei Zustände existieren hier gleichzeitig, wie beim Gedankenexperiment um Schrödingers Katze: Alle sind tot. Oder doch am Leben. Lenglumé ist in seinem Albtraum-Wahn gefangen, wie es seine sträflingsgestreiften Anzüge und Pyjamas (die genialen Kostüme hat Kathrin Plath entworfen) von Beginn an verrieten. Für ihn geht vermutlich nichts mehr. Aber die Schaubühne, um aus dem vergnüglich-versierten Abend heiter herauszuhüpfen, hat diese Saison einen ziemlichen Lauf.

 

Die Affäre Rue de Lourcine
von Eugène Labiche
Aus dem Französischen von Elfriede Jelinek
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Carolina Bigge, Arno Kraehahn, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Licht: Erich Schneider.
Mit: Damir Avdic, Holger Bülow, Bastian Reiber, Julia Schubert, Axel Wandtke.
Premiere am 3. März 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

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  • Im Dezember entwarf er seine eigene tiefsinnige Komödie Genesis im Schaubühnen Studio.


Kritikenrundschau

"Dank der tollen Schauspieler, allen voran der feine Gute-Laune-Großkomiker Bastian Reiber", sei dieser Abend "ein hinreißender, erfreulich sinnfreier Spaß", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.3.2024) und beendet seinen Text mit einer Empfehlung: "Wenn Sie wissen wollen, wie man in den Wahnsinn torkelt und wieder heraustänzelt: Ein Besuch in der Schaubühne hilft unbedingt weiter."

Eine Komödie lebe nicht zuletzt von ihrem Tempo, das in der Schaubühne aber "nicht vernehmbar" sei, urteilt Erik Zielke im nd (4.3.2024). Man sehe hier "nur das Spiel mehrerer Darsteller, die nicht recht zueinanderfinden wollen". Nichts werde "offenbart über das hinaus, was der Text uns zu sagen hat", so der Kritiker. "Einige der eingefügten, sehr anschaulichen Fremdtexte über die geldfixierte Gesellschaft bleiben in der Gesamtheit des Abends leider nur gut gemeint. Gerne hätte man an diesem Komödienabend auch ein wenig mehr gelacht."

In der legendären Inszenierung Klaus Michael Grübers vor 35 Jahren, ebenfalls an der Schaubühne, habe "die Komik im todernst zelebrierten Unsinn" gelegen, schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (4.3.2024, €). Bei Jan Bosse, der "alles ironisch weiten" wolle, reiche der Stoff indes "nicht ganz zu einem Trip in den wahren Theaterwahnsinn". Das sei "kein aberwitziger Alptraum, nur eine hübsche Paranoia-Parodie, vorgeführt als komödiantische Etüde, und das Ich ist kein Anderer."

"Lauter Witzfiguren" hat Jürgen Kaube von der FAZ (4.3.2024) in Jan Bosses Inszenierung gesehen, die "die Probe darauf" mache, "was das Lustspiel mit dem Comic Strip verbindet". Hier sei "von Beginn an alles grotesk". Während die beiden Hauptcharaktere bei Labiche immer weiter tränken, müssten sie das in Bosses Inszenierung sie das gar nicht, "weil er das absurde Theater im Boulevardgeschehen selbst" entdecke. "Die Absurdität konzentriert sich, fast ansatz- und fast folgenlos, in jedem einzelnen Bild, jedem einzelnen Satz", beobachtet der Kritiker und schreibt: "Es kann gut sein, dass ältere Komödien besonders dann wirken, wenn sie in dieser Weise drastisch, farbenfroh und holzschnittartig bearbeitet werden. Das Publikum in der Berliner Schaubühne lachte, wir auch."

Obwohl Jan Bosses Inszenierung "schauspielerisch ein Genuss" sei und sich der Regisseur "geradezu perfektionistisch allen Details" widme, könne der Abend "nicht ganz an seine Erfolgsinszenierung `Eurotrash`" anknüpfen, findet Barbara Behrendt im rbb (4.3.2024). "Bei aller Komik und interessanter Wahrnehmungsverschiebung fährt der Abend letztlich doch zu sehr den skurrilen, paranoiden Horrortrip, als dass er uns etwas über uns selbst oder die Gesellschaft, in der wir leben, erzählen könnte", argumentziert die Kritikerin. Aber: " Schrecklich unterhaltsam ist er trotzdem."

"Der inszenierte Traum wuchert hier nicht mit surrealen Effekten oder schrill verzerrten Signalen, man erkennt ihn eineinhalb Stunden lang kaum, am wenigsten der Träumer selbst, auch wenn seine grotesken Verstrickungen alles andere als realistisch sind. Alle spielen hier vielmehr mit einer auffälligen Verhaltenheit, ja irgendwie missmutig müde, wie hinter einer Glaswand. Keine Pointe wird ausgekostet, sondern eher schlaff in endlose Slapstick-Wiederholungen eingehängt." So schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (5.3.2024) und resümiert zu den Figuren: "Kippfiguren sind sie alle, wie auch der Abend selbst ein auf knappe zwei Stunden gedehnter Kippmoment ist. Viel Risiko spielt dabei mit, das am Ende doch lohnt."

Sophie Klieeisen schreibt in der Berliner Morgenpost (4.3.2024): "Die Staubtrockenheit ihres Humors und ihre zu Sprache gemachte Geistesgegenwart machen aus einer konventionellen Typenkomödie mit bloß sanft doppeltem Boden eine Gesellschaftssatire mit Tiefblick in die Abgründe menschlicher Selbstgewissheit. Dazu kommen an der Schaubühne ein auf den Punkt gebrachter inszenatorischer Zugriff und ein Ensemble, das die Selbstgewissheit aller funkeln lässt. So wird aus Schadenfreude eine Comédie humaine."

Kommentare  
Affäre Rue de Lourcine, Berlin: Kultig bei Grüber
Schöne Kritik, macht Lust sich das anzusehen. Etwas schade, dass das Theatergedächtnis nur noch selten erwähnt wird: 1988 hat Grüber (damals ähnlich geliebt und verehrt wie Pollesch heute) das Stück (auch schon in der Übersetzung von Jelinek) mit Samel, Simonischek und Imogen Kogge (die sogar in "The Zone of Interest" abgründigen Humor hineinbringt) an der Schaubühne inszeniert, eine Kultveranstaltung. Die Schaubühnendramaturgie wird die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Bürgertum (Soll's ja immer noch geben) sicher nicht zufällig mit diesem Stück versucht haben.
Affäre Rue de Lourcine, Berlin: Kurze Klinge
Jan Bosses Abende sind im besten Fall pralles Unterhaltungstheater wie sein Post-Lockdown-Oper-Spaß „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ vor dem DT oder kraftvolles Startheater wie „Richard III.“ mit seinem Stammspieler Wolfram Koch. Schwächere Arbeiten wie sein DT-Abschied mit „Der Sturm“ geraten zu slapstickhaft.

Mit der Schaubühne am Lehniner Platz hat er nun ein neues Haus in Berlin. Dort stellte er sich 2021 mit Christian Krachts „Eurotrash“ vor und inszenierte nun sein zweites Stück, die Boulevard-Farce „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche. Dieses Stück ist das mit Abstand bekannteste Werk des französischen Dramatikers, der Mitte des 19. Jahrhunderts wie am Fließband Salonkomödien produzierte. Eine Renaissance erlebte diese Komödie durch die Neuübersetzung von Elfriede Jelinek, die Klaus-Michael Grüber im Juni 1988 mit Udo Samel und Peter Simonischek in der Schaubühne am Lehniner Platz inszenierte.

Ebendort ließ nun auch Bosse die bekannte Farce über den Filmriss von zwei ehemaligen Klassenkameraden, die nach durchzechter Nacht völlig verkatert aufwachen und glauben, eine Kohlenhändlern in der Rue de Lourcine ermordet zu haben. Dafür sprechen alle Indizien, aber am Ende ist die bürgerliche Welt doch wieder im Lot. Bosse und seine beiden Hauptdarsteller Damir Avdic (Mistingue) und Herbert Fritsch-Schüler Bastian Reiber (Lenglumé) inszenieren den 90 Minuten kurzen Abend sehr körperlich, mit viel Slapstick und drastischem Humor. Es wird viel gezappelt und gekotzt, die feinere Klinge, die Karin Henkel und Anita Vulesica in ihrer DT-Inszenierung von 2016 beherrschten, kommt in dieser Inszenierung zu kurz.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/03/die-affare-rue-de-lourcine-schaubuehne-theater-kritik/
Affäre Rue de Lourcine, Berlin: Schön, aber zu lang
Ich war gestern auch in der Premiere. Ich fand das Bühnenbild und die Kostüme großartig, dieser anarchischer, Acid-ähnlicher Fiebertraum war schön, aber insgesamt meiner Meinung nach zu lang. Es ist ein kurzweiliges Stück, das sich aber zu sehr auf das unbestreitbare Comedy-Talent von Reiber verlässt.
Bei der großartigen Besetzungsliste hatte ich zumindest noch höhere Erwartungen. Habe im Publikum einige Menschen erlebt die leider während der Vorstellung eingenickt sind, es ist halt alles sehr dunkel gehalten und wiederholt sich zu oft im Wahn. Die Tatsache, dass auch mein Blick öfter durch die Zuschauerreihen schweifte und nicht konsequent beim Geschehen auf der Bühne bleiben konnte, spricht leider auch für sich.

Bastian Reiber & Damir Avdic funktionieren als kongeniales Comedy-Slapstick-Duo. Einige, wenn auch wenige Lacher wird Bosse mit der Inszenierung den Besuchern auf jeden Fall entlocken. Allerdings im Gegensatz zu vielen anderen Stücken der Schaubühne ist es keines wo sich der mehrmalige Besuch lohnt. Gibt es bei der Komödie "Nachtland" daweil noch Szenen, in welchen einem das Lachen im Halse stecken bleiben oder es gefühlt einen doppelten Boden gibt, fehlt er in diesem Stück leider und versucht mehr über die Möglichkeiten des Bühnenbildes oder filmischen Einspielungen zu punkten.

Reiber ist gewohnt lustig, aber dabei leider nicht mehr überraschend, wenn man mehr als 2 Stücke mit ihm gesehen hat, Avdic zeigt nach Nachtland erneut dass ihm auch die Komik liegt (das er laut Wikipedia) auch eine Clown-Ausbildung gemacht hat, wird hier deutlich und kommt zum Tragen. In Erinnerung bleibt noch der Monolog über Geld welchen Holger Bülow amüsant zum Besten gibt, welcher von Bosse zum Text des Stücks hinzugefügt wurde (im Original von Eugène Labiche findet man diesen nicht), die Kostüme, das Bühnenbild und die zahlreichen, teils sehr schnellen Kostümwechsel von Julia Schubert in teils extrem imposanten Kleidern.

Alles in Allem schöner Theaterabend, aber zu kurzweilig um dauerhaft zu den Erfolgsstücken der Schaubühne zählen zu können.
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