Eugen Onegin - Alvis Hermanis inszeniert an der Schaubühne Berlin eine Puschkin-Aneignung
Wie Kunst die Bilder des Menschen formt
von Simone Kaempf
Berlin, 25. November 2011. Zwei Ankleidehilfen holen Wäschestapel aus einem schweren alten Kleiderschrank. Dann geht es los. In die Stoffkorsette werden lange Bänder eingezogen und eng am Rücken zusammengeschnürt, darüber spitzenbesetzte Unterhosen mit Öffnungen im Schritt, Kleider mit Rüschen und Raffungen. Und auch die Männer verwandeln sich optisch in Bewohner St. Petersburgs der 1820er Jahre, mit hohen Hemdkragen, steifen Gehröcken, Kniebundhosen, weißen Strumpfhosen. Kleidung, die für die Inszenierung detailgenau rekonstruiert wurde, bis hin zu den Steppnähten der Korsette.
Ganz zu Anfang waren die fünf Schauspieler noch im Casual von heute auf die Bühne gekommen: Jeans, Longsleeves, Turnschuhe, man kauert im Schneidersitz auf einem Stuhl oder hängt schief im Sessel. Doch mit den Miedern, Westen und Zylindern werden die Rücken gerade, die Haltung eleganter, schmeichelt die Kleidung nicht nur den Körperrundungen, sondern betont sie noch. Wie die Mode doch das Bild der Menschen formt, denkt man bereits an dieser Stelle. An diesem Abend, an dem es auch darum geht, wie man sich durch die Kunst ein Bild von den Menschen macht. Und allen voran symbolisiert die Verwandlung der Schauspieler, dass Alvis Hermanis' Inszenierung von "Eugen Onegin" eine Aneignung ist.
Historische Rekonstruktion
Einerseits eine Aneignung der speziellen Biografie des Autors. Anfangs erzählen die Schauspieler zwischen dem alten Mobiliar des Bühnenbilds erst einmal von Puschkin selbst, dem russischen Autor, der mehr als hundert Frauen geliebt haben soll, bevor er seiner Frau den Heiratsantrag machte, und doch eine so hochromantische Liebesgeschichte schrieb, als die "Eugen Onegin" ins kollektive Gedächtnis einging. Es ist aber auch eine Aneignung der Figuren, in die die Schauspieler immer wieder schlüpfen, um die entscheidenden Szenen zu spielen: Tatjanas (Eva Meckbach) Liebesgeständnis, ihr zarter Annäherungsversuch an Onegin. Oder das Duell zwischen Onegin (Tilman Strauß) und seinem Freund Lenski (Sebastian Schwarz), das wie viele andere Szenen unterbrochen wird von akribischen historischen Infos, die wie in einem Dokumentartheaterstück eingestreut werden. Etwa über die umständlichen Duell-Rituale, die damals gepflegt wurden, bis hin zu kleinen Gegenständen, die es in jedem Haus gab, Pistolenkoffer eben, mit Ladestangen und einem Kugellöffel, mit dem die Kugeln einzeln gegossen wurden.
Durch aufwendige Recherchearbeit der Dramaturgie ist die Inszenierung gespickt mit einer Fülle von Fakten über die Lebens- und Liebes-Gepflogenheiten der damaligen Zeit. Sehr körperliche Einzelheiten vor allem. Dass die Menschen furchtbar stanken. Dass Wasser aus Angst vor Pest und Cholera gemieden wurde. Haarfett diente dazu, die Frisuren zu tragen, für Frauen waren Unterhosen verpönt, im Sommer jedoch trug man sie aus Schutz vor Flöhen. Zimperlich ging es auch sonst nicht zu: Affären waren in adligen Kreisen üblich, Verehrer verschenkten Miederstäbe, auf die geheime Nachrichten eingraviert waren, und wenn davon die Rede ist, zieht sich Luise Wolfram einen Stab aus dem Korsett. Es sind viele kleine Details, die davon erzählen, wie damals gegangen, gesessen, sich aus- und angezogen wurde, ohne dass man in Einfühlung verfällt.
Diese Balance zwischen dem Bericht über einen Menschen und der gestischen Verkörperung seiner Existenz kennt man aus früheren Arbeiten von Hermanis. Dieses Prinzip hat er offensiv eingesetzt, wenn die Schauspieler etwa für die "Lettischen Geschichten" einen Monat lang eine Kindergärtnerin oder eine Stripperin begleiteten und sich deren Charakteren, der Phantastik ihrer Geschichten, den Details und Leerstellen annäherten, was auf der Bühne schließlich eine Verdichtung ihrer Existenz ergab. Auch Hermanis' "Eugen Onegin" lebt von diesem Prinzip, wenn auch subtiler.
Zurückverwandlung der Geschichte
Denn eigentlich geht es darum, wie die Kunst die Bilder der Menschen formt. Während unten auf der breiten, ganz nach vorne gezogenen Bühne zwischen alten Schränken, historischen Frisiertischen, Spitzendecken und Kanonenofen gespielt wird, werden auf die Wand darüber alte Ölgemälde projiziert, in denen diese Stuben so gediegen wirken, und die porträtierten Frauen beispiellos rosig und lieblich, in ihren edlen Kleidern und mit den aufwendig gesteckten Frisuren. Was selbst auch schon eine Illusion war, weil die Maler damals den Auftrag hatten, draller zu malen als das Fleisch eigentlich war. Und natürlich unterliegt auch die Aneignung des "Eugen Onegin" dieser Illusion, ist der regelrecht satirische Blick des Puschkin'schen Originals einer durch die Oper weichgezeichneten Version gewichen.
Auch wenn die Inszenierung ihre Längen hat, mit teils ermüdender Langsamkeit einen anderen Zeitbegriff strapaziert, und nicht jedes Detail die Phantasie beflügeln kann, ist es doch höchst inspirierend, wie Hermanis die Geschichte mit historischen Fakten anreichert, sie quasi in sich selbst zurückverwandelt, davon erzählt, was auf den Bildern fehlt, die wir uns via der Kunst von der Vergangenheit machen, und diesen Prozess auch immer sichtbar hält. Wie in der kleinen Szene, in der Eva Meckbach auf der Bühne in einem Roman blättert, die Seiten über ihr Gesicht streicht, um ihm nah zu sein, und das ohne jeden Kitsch oder falsches Gefühl. Und nichts anderes macht die Inszenierung, die bei aller realitätsnahen Detailliebe eine Fiktion ist und einem doch sehr nahe kommt.
Eugen Onegin
nach Alexander Puschkin, unter Verwendung der Übersetzung von Ulrich Busch
Regie: Alvis Hermanis, Bühne: Andris Freibergs, Mitarbeit Bühne: Elena Zykova, Kostüme: Eva Dessecker, Dramaturgie: Carola Dürr, Florian Borchmeyer.
Mit: Robert Beyer, Eva Meckbach, Sebastian Schwarz, Tilman Strauß, Luise Wolfram.
www.schaubuehne.de
Weise weiche dieses Theater vor der Aufgabe aus, die Liebesgeschichte und ihre Epoche spielerisch zu ergründen, es bleibe im Schwebezustand zwischen Dokumentartheater und Fragmenten eines Seelengemäldes, so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (26.11.2011). Ein Duell, das Lesen in einem sentimentalen Roman, Sehnsucht und Müßiggang, all das seien allemal Skizzen, in denen die Akteure mit ihrem Schicksal allein bleiben. Im Dunklen bleibe die Geschichte ebenso wie die Entwicklung der Figuren. Das Ergebnis sei eine Meditation im Russlandmuseum, subtil organisiert und kunstvoll arrangiert. "Den entfernten Planeten Puschkin aber erreicht diese Aufführung nicht."
Hermanis und das Schaubühnen-Ensemble, "das sich zwischen den historischen Exkursen augenzwinkernd in die Oneginschen Liebesposen, Schmachtchoreografien und Zylinder-Slapsticks wirft", hätten Puschkins ironischen Tonfall, der den Text aus heutiger Perspektive erstaunlich staubfrei wirken lasse, bühnentechnisch korrekt verdoppelt, schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (27.11.2011). Diese "mit sehr zartfühlendem, bisweilen fast etwas bravem Spott zur Schau gestellte historische Rekonstruktion" findet Wahl als Inszenierungsansatz "nahe liegend". Allerdings erschöpfe sich dieser Inszenierungsansatz "in seinem ironischen Volkshochschulcharme" zusehends und laufe Gefahr, zum "bühnenaktionistischen Bremsklotz" zu werden. "Spätestens, wenn Onegin nach langen abstinenten Jahren Tatjana zufällig in Moskau auf einem Ball wiedertrifft und sich nun seinerseits unsterblich in die mittlerweile zur Generalsgattin aufgestiegene Salondame verliebt, möchte man kein Wort mehr über formvollendete Kratzfüße hören."
Um die Verwandlung ohne Verstellung gehe es dem Theaterwundertäter Hermanis in seinen atmosphärischen, genauen, poetischen, unesoterisch-spirituellen Inszenierungen, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.11.2011). Was also in der Schaubühne stattfinde, sei eine sehr behutsame, absolut unaufgeregte technisch-magische Rekonstruktion von Vergangenheit, Es werde weniger gespielt als geforscht: "Wie geht, spricht, fühlt und denkt es sich in der Garderobe vergangener Zeit? Reicht die Luft in der von Fischbeinen eingeklemmten Brust noch für die vierfüßigen Jamben? Wie anders als arrogant kann man unter dieser Haartolle durchgucken?" Selbst der Gestus, mit dem Tilman Strauß den Sitz seines Kleb-Backenbärtchens korrigiere, verheiße "erstickendes Ennui".
Das Faszinierende an Puschkins Roman sei ja, dass man bei allem Abstand, den der Autor zu seinen Figuren hält, trotzdem mit ihnen leide, liebe und seufze, schreibt Matthias Heine in der Welt (28.11.2011). An Hermanis' schönen jungen Russen jedoch "hängen die Fußnoten wie Stahlkugeln an Häftlingen". Was dazu führe, dass man am Ende der knapp zwei Stunden viel gelernt und gelacht, aber zu wenig gefühlt habe. Heine fühlt sich an die Arbeitsweise erinnert, die Peter Stein in den siebziger und achtziger Jahren an der Schaubühne pflegte - "nur dass das damals alles während der Probenzeit stattfand und auf der Bühne nur das Ergebnis der Bildungstrips zu sehen war." Trotzdem kniet der Rezensent "innerlich nieder vor Dankbarkeit darüber, dass Onegin & Co. die haustypische Trainingsjackenästhetik erspart blieb."
Als Grundprinzip der Inszenierung macht Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.11.2011) "Distanz und Nähe, Verfremdung und Realismus und wie sich das eine immer wieder in das andere übertragen lässt" aus. Der Prozess der Anverwandlung vergangener Befindlichkeiten, Konstellationen, Gestimmtheiten sei hier von Anfang an künstlerisch-formal gestaltet und stets an den Roman gebunden, der – nach Auszügen aus diverser Sekundärliteratur – zunehmend in den Vordergrund rücke, so die begeisterte Bazinger. Die sich am Schluss von der "suggestiv magischen Aufführung mit dem brillant harmonierenden Ensemble" auch insofern "fast ein wenig an die legendäre Ära der Schaubühne unter Peter Stein" erinnert fühlt, "als jedem Detail in Text und Ausstattung zentrale Bedeutung beigemessen wurde."
Von der "Bilderlust" des Regisseurs Alvis Hermanis schreibt Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung (29.11.2011) und lässt seinen Blick genüsslich über das von Andris Freibergs angerichtete Inventar wandern, ehe er zur Textkritik an den prosaischen Einlassungen der Bühnenbearbeitung schreitet: "Unbequem" sei "das Gezerre, das auf der Tonspur der Bilderfolge von Beginn an zwischen der didaktischen Prosa eines kulturhistorischen Lexikons und dem funkelnden 'Roman in Versen' herrscht, als den Puschkin seinen 'Eugen Onegin' verfasst hat. Man würde der quecksilbrig lebendigen, um keine Pointe verlegenen Übertragung von Ulrich Busch gern den Sieg gönnen." Indem "das kulturhistorische Lexikon" viel Raum in der Darstellung einnehme, passiere es, dass "der Raum des großen Russland schrumpft", den Puschkins Versroman abstecke.
Das Theater des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis könne beides: präzise Atmosphären schaffen und den Abstand zur Vergangenheit vermessen, poesievolle Bilder bauen und effektvoll Pointen setzen, so Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (1.12.2011). Mit "Eugen Onegin" habe Hermanis jetzt das eine mit dem andern zusammengeführt: "Man sieht das russische 19. Jahrhundert auferstehen und erlebt es zugleich als fern, als fremd." Hermanis' "Onegin" sei "eine Liebeserklärung an die Verwandlungskraft des Theaters", vor allem aber "eine Geschichte über das Verhältnis gegenseitiger Verstärkung und Resonanz". Das Erzählte werde zum Echoraum des Gegenwärtigen, das Fremde zum Spiegel des Eigenen. Alles bleibe in wundersamer Schwebe, im Zwitterstand des Mehrdeutigen, vor allem dank der betörenden Leichtigkeit des Spiels der Schauspieler, die nie nur Figuren vorführten, sondern sie zu Chiffren verdichteten. "Dieser Abend hat keine isolierbare Botschaft, er glaubt an die Kraft der Schauspielkunst, an den magische Zauber der Verwandlung. Zum Glück."
Alvis Hermanis gebe Puschkin eine Rolle in dessen eigenem "Stück", schreibt Eva Biringer in der Zeit (1.12.2011). Den Onegin, der Literaturwissenschaftlern als "Enzyklopädie des russischen Leben" gegolten habe, nutze Hermanis "als Quelle, an der er seine Neugier stillt". Mehr als die "Tändelei" zwischen Onegin und Tatjana interessierten den Regisseur "die russischen Zustände im frühen 19. Jahrhundert". Das Handeln und das Sprechen darüber seien in der Erforschung dieser Zustände "simultane Vorgänge". "So zeigt Hermanis mit den Mitteln, die nur der Bühne zueigen sind, wie Vorstellung und Wahrnehmung ineinander fallen." Dass dieser Abend gelinge und nicht "zum leidigen Kultursampling" verkomme, liege daran, dass der Regisseur die Balance halte zwischen Primär-, Fremd- und Subtext. Am Ende sei gesprochenes Wort zum Bild, eine Erzählung zum Ereignis geworden.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott Eggenfelden: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
neueste kommentare >
-
Frau Yamamoto, Stuttgart Gesamtkunstwerk
-
Frau Yamamoto, Stuttgart Schonung
-
Neumarkt Zürich Klage Zitat des Staatswanwalts
-
Kultursender 3sat bedroht Kontaktformular
-
Neumarkt Zürich Klage Was wäre die Alternative?
-
Neumarkt Zürich Klage Jens Balzers Essay
-
Der Reisende, Essen Variation
-
Neumarkt Zürich Klage Kopf auf Füße
-
3sat bedroht Mehr Vielfalt
-
euro-scene Leipzig Arnas Kinder
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Sie überinterpretieren hier. Hermanis geht es um unser romantisierendes Bild von Geschichte, das er ironisch hinterfragt. Er schafft keine Wohlfühlatmosphäre, sondern bebildert anhand des Textes von Puschkin und den Kommentaren von Jury Lotman (der übrigens als Quelle im Programmheft auch ausgewiesen ist, Herr Rothschild) den tatsächlichen Zeitgeist des damaligen Russlands. Er hätte auch in der deutschen Romantik und im Biedermeier fündig werden können, aber als Lette sind ihm wohl die russischen Klassiker näher. Hermanis versucht einen realistischen Blick, wenn auch mit einem Augenzwinkern. Und da kommt ihm entgegen, dass der Dandy Puschkin eigentlich sehr modern und im Geiste vielleicht einem Oscar Wilde näher war, als einem Lord Byron. Das Baudelairezitat passt demnach sehr gut auf Puschkin. Die bürgerliche Revolution 1848 in Deutschland hat Puschkin nicht mehr erlebt und in Russland hat es sogar noch über ein halbes Jahrhundert länger gedauert. Aber es geht Hermanis auch nicht um das Revolutionäre bei Puschkin, die Abkehr von den romantischen europäischen Vorbildern hin zur russischen Nationaldichtung. Sondern vielleicht darum zu zeigen, wie Menschen in anderen Epochen gelebt, geliebt und gelitten haben. Das lässt sich an Puschkins „Eugen Onegin“ sehr gut nachvollziehen. Man hat sich schon gefragt, warum Hermanis 5 Stunden lang in Wien Tschechows Platonov in einem naturalistischen Bühnenbild zeigen muss und sich die Darsteller so verhalten, als wäre da überhaupt kein Zuschauer. Er hat sich die Geschichte einfach so vorgestellt, wie sie in echt stattfinden würde, also realistische Alltagssituation und kein gespieltes Bühnenstück. Hermanis unterläuft damit unsere heutigen Sehgewohnheiten und Erwartungen, ein Stück unbedingt modern mit Gegenwartsbezug zu inszenieren, sondern hinterfragt über den Umweg Historie unser heutiges Bild von Authentizität. Und da ist er, wenn auch ungewollt, wieder ganz nah an der alten Schaubühne von Peter Stein und hat damit echt einen Nerv im Publikum getroffen, wie ich gestern feststellen konnte.
Ich frage mich aber immer noch, was die Bild- bzw. Diaprojektion an die Wände über der Spielfläche eigentlich aussagen soll. Ist das das Aufblitzen eines Bildes der Vergangenheit, in welchem sich die Gegenwart gemeint oder nicht gemeint fühlt? Oder ist das wirklich nur "Bebilderung", im Sinne eines vermeintlich "natürlichen" bzw. linearen Ablaufs der Geschichte? Ich persönlich kann mit dem "Wissen über Mieder, Korsettstangen oder das richtige in Ohnmacht fallen" jedenfalls nichts anfangen. Ich trage keine Mieder und Korsettstangen. Und auch das theatralische In-Ohnmacht-fallen, um die Beschützerinstinkte in einem Mann zu wecken, gehört nicht zu meiner tätigen Lebenspraxis. Tränen lügen nicht.
Dass Sie ein Mieder tragen oder ständig in Ohnmacht fallen, hätte ich auch nicht vermutet. Man muss sich nicht in ein Korsett zwängen, um sich in die Menschen des 19. Jh. hinein zu fühlen. Sie dürfen aber auch nicht immer von sich auf andere schließen. Ich bin auch kein Verfechter des Einfühlens oder der Theaterästhetik von Peter Stein. Sie haben mich mit dem Kierkegaard aber doch noch auf eine Spur gebracht. Er hat sich ja mit Sinnlichkeit und Augenblick befasst. Dem hat er nicht über den Weg getraut. Der ästhetische Mensch lebt nur im Augenblick und erhebt den Augenblick damit in die Ewigkeit. Nicht altern zum Beispiel wie in Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Kierkegaard nennt das sinnliche Leben im Augenblick die „Parodie des Gegenwärtigen“ oder „Das Ästhetische in einem Menschen ist das, dadurch er unmittelbar das ist was er ist." Und genau das stellt Hermanis uns mit seiner Kostümshow vor. Wilde und Baudelaire waren übrigens gar nicht so unpolitisch und nur im Augenblick verhaftet. Wilde benutzte seinen Dandyismus auch als Maske.
Ich sehe auch als Problem, wenn man über das zaristische Russland redet, die Leibeigenschaft der Bauern nicht zu erwähnen. Das haben Sie dann erst bei den Realisten oder auch schon bei Gogol, der ist dann aber religiös abgedreht. Goethe, Schiller oder Lessing haben ja auch über das Bürgertum geschrieben und nicht über die Bauern in Deutschland. Zumindest wird bei Puschkin noch der Dekabristenaufstand gegen Zar Nikolaus I. erwähnt. Die russische Literatur ist bis Anfang des 19. Jh. durch Westeuropa beeinflusst, besonders durch Aufklärung und Klassizismus. Puschkin löst sich vom klassizistischen Muster der drei Stile von Lomonossov (hoch für Heldenepos, mittel für ernsthafte Literatur und niedrig für Komödie etc.), mischt die Stile, bringt russische Stoffe und vor allem Gefühle rein (Kleist hat das übrigens auch gemacht). Ein anderer Vertreter der Romantik neben Puschkin ist Lermontow, der auch in einem Duell starb. Das ist doch ganz gut, wenn im Theater so etwas mal thematisiert wird. Hermanis verherrlicht doch die romantische Ästhetik nicht. Er beklagt nur, dass die Leute, die heute ins Theater gehen, keine Bücher mehr lesen und daher wohl die Allgemeinbildung etwas gelitten hat. Er reagiert nun darauf, indem er, Zitat: „Eugen Onegin mit Fußnoten“ macht. Das hat schon durchaus Witz, sollte aber nicht zur Masche werden, da es sich irgendwann abnutzt, wie das Theater von Peter Stein auch nicht mehr zeitgemäß ist. Und darin liegt das Missverständnis, wenn man Hermanis mit der alten Schaubühne vergleicht, es wirkt nur auf den ersten Blick so. Außerdem können Sie nicht immer nur verbissen reflektieren wie Kierkegaard, sondern müssen der „Prosa der Welt“ nach Hegel, die Poesie des Augenblicks entgegensetzen, oder im ganz alltäglichen finden. Und das kann nur die Kunst.
Zu den Bildern: Da war sehr viel russische Romantik und Symbolismus dabei, mit Wäldern, Bären und idealisierenden Portraits, aber ich kenne mich da nicht so genau aus. Nur die Bilder des Duells in „Eugen Onegin“ von Ilja Repin sind mir bekannt und die sind schon nicht mehr zeitgenössisch, sondern weit nach Puschkins Tod entstanden. Das Damen sich vorzugsweise nackt duelliert haben sollen, war mir auch neu. Es war wohl eher ein Topless Fencing aus Gründen der Infizierungsgefahr, beim Eintritt der Kleidung in die Wunde. Sie sehen also, auch wenn Ihnen das als nutzloses Wissen erscheint, geschadet hat es doch auch nicht.
Sie schreiben: "Hermanis verherrlicht doch die romantische Ästhetik nicht. Er beklagt nur, dass die Leute, die heute ins Theater gehen, keine Bücher mehr lesen und daher wohl die Allgemeinbildung etwas gelitten hat." Ich weiss nicht, worum es Hermanis geht, und ich würde es auch nicht "Klage" nennen, aber vielleicht passt der Begriff der "Gefahr" (gerade gelesen, irgendwie blöd, diese Fremdzitate, aber Lesen meint Denken mit anderem Verstand und ausserdem passt es so schön):
"Es ist sehr gefährlich, eine Ordnung abzuschaffen - selbst die Ordnung der Langeweile -, bevor man seinen Frieden mit dem Gedanken gemacht hat, daß es nichts nützt, diese Ordnung zu vermissen, wenn sie erstmal zerschlagen ist."
(Dietmar Dath, "Die Abschaffung der Arten")
Und in diesem Zusammenhang könnte man auch mal darüber nachdenken, ob es eigentlich eine klassenlose Intelligenz gibt bzw. ob die Intelligenz zwangsläufig an eine soziale Schicht - zur Zeit Puschkins an die adelige Klasse - gebunden sein muss, Stichwort: Demokratisierung von Literatur und Bildung.
Hermanis sagt in einem Deutschlandradiointerview, dass Schauspieler vorgeben jemand anderes zu sein, also eine Rolle spielen, was ja wohl auch der Normalfall ist. Das findet er schräg. Nun ist das ja nicht neu, dass man sich damit beschäftigt, wie authentisch Theater sein kann und soll. Viele Regisseure zeigen deutlich, dass es sich nur um Theater handelt. Zum Beispiel geht Jan Bosse so vor, er entlarvt ironisch die Illusion, Polleschs Figuren sprechen die ganze Zeit von nichts anderem. Sie meinen beide, das Authentische am Theater gibt es nicht. Bisher hat Hermanis versucht, Authentizität damit zu erreichen, dass sich seine Schauspieler in möglichst naturalistischer Kulisse so bewegen, als wären sie tatsächlich im Moment an diesem imaginären Ort und tun dabei ganz alltägliche Sachen. Es wird vorher ewig lang recherchiert, die Schauspieler sollen sich richtig in die Figur einleben. Schönes Beispiel dafür war „Ruf der Wildnis“ an den Münchner Kammerspielen. Da haben die Schauspieler immer wieder Hundebesitzer besucht und sich deren Geschichten erzählen lassen, um diese dann glaubwürdig ans Publikum weitergeben zu können. Herausgekommen ist etwas ganz ähnliches wie bei „Eugen Onegin“, nur wesentlich intensiver erlebbar für das Publikum. Obwohl die Schauspieler teilweise grotesk geschminkt und kostümiert waren, schienen sie doch eins zu sein mit der Figur hinter der Geschichte. Ich sage schienen, denn jeder weiß trotzdem, dass es nicht ihre Geschichten sind. Das war, ob nun mit oder ohne echten Hund, glaubwürdig. Das Buch von Jack London war dabei nur der Aufhänger für authentische Geschichten und wurde am Rande in kurzen Passagen vorgetragen. Im Platonov hatte Hermanis nicht die Möglichkeit echte Zeitzeugen zu befragen, also muss eine Atmosphäre von Authentizität geschaffen werden. Auch das ist ihm über weite Strecken der 5 Stunden geglückt, würde ich sagen. Nur werden hier eben die Seh- und Hörgewohnheiten der Zuschauer überfordert, indem die Darsteller sich zum Essen in einen Nebenraum begeben und wie bei einer Tischgesellschaft nun mal üblich, alles durcheinanderredet. Und im Platonov wird ständig gegessen, getrunken und gestritten. Die Schauplätze überlagern sich zum Teil noch dabei. Kein Zuschauer kann sich da auf Dauer hineinfinden, aber es ist, wenn man das Stück kennt, ziemlich logisch, es genauso zu machen. Es geht also um das Finden einer speziellen Theaterästhetik. Und Hermanis probiert dabei immer wieder etwas Neues aus. Beim Onegin scheint es so, als ob er gemerkt hätte, Authentizität nur durch Bilder und Spiel zu erreichen, funktioniert nur bedingt. Also erklärt man noch bestimmte Begriffe der Zeitgeschichte, um den Zuschauern ein möglichst genaues Bild der Epoche zu vermitteln. Trotzdem zeigt Hermanis die Schauspieler zuerst in Alltagsklamotten und lässt alles anfänglich wie eine Leseprobe aussehen. Die Darsteller rutschen dabei immer mehr in ihre Rollen hinein und trotzdem spielen sie nicht wirklich eine Rolle, sondern vermitteln nur Einblicke in die Puschkin`schen Figuren und deren Gefühlswelt. Ob dabei Puschkins Text zu kurz kommt, ist reine Ansichtssache. Zum Vorwurf des Unpolitischen kann man eigentlich nur sagen, dass das zwangsläufig in jeder Alltagssituation, auch in der ästhetischen Überhöhung, enthalten ist und nicht vordergründig erwähnt werden muss. Puschkin fällt ja auch nicht mit der Tür ins Haus, sondern liefert die Kritik zwischen den Zeilen mit.
Zu Ihrem Dath-Zitat. Ich kenne den genauen Zusammenhang nicht genau, aber man könnte das genau auf die Ex-DDR anwenden. Wenn ich mit etwas nicht endgültig abgeschlossen habe und es dann plötzlich weg ist, dann kommen zwangsläufig nostalgische Gedanken. Die Vergangenheit fällt einem immer wieder vor die Füße. Dath ist Sozialist oder zumindest links anzusiedeln, soweit ich weiß, und meint das hier vermutlich etwas globaler. In seiner Dystopie einer Zukunft, indem die Tiere die Herrschaft übernommen haben, begehen diese aber zwangsläufig die gleichen Fehler wie die Menschen vor ihnen. Der Mensch lernt nicht aus der Geschichte, da ist Marx natürlich nicht weit.
Es wird immer Unterschiede zwischen den Menschen geben. Ob nun in der Standes- oder Klassenzugehörigkeit, von Religionen und Rassen will ich gar nicht sprechen. Aufklärung durch Bildung, ist ja auch kein besonders neues Thema, Kunst ist mit Bildung eng verkoppelt. „Eugen Onegin“ ist aber kein Aufklärungsroman, sondern hier bildet sich eine neue Ästhetik heraus, die einerseits auf Einflüssen der klassischen Literatur fußt und andererseits neue romantische Elemente enthält. Kein radikaler Bruch aber eine bewusste Umorientierung in den künstlerischen Werten. Was meinen sie mit Demokratisierung der Literatur? Da denke ich sofort an Johannes R. Becher, Kulturminister der DDR in den 50er Jahren. Förderung von Arbeiterdichtern, Schaffung und Rezeption von Literatur durch das Volk, leider mit einem vorgefertigten Ziel und Kunstverständnis. Wenn wir hier über das Thema diskutieren, ist das eigentlich schon Demokratie. Bildung muss natürlich für alle zugänglich sein und gleiche Chancen schaffen. Zu Zeiten Puschkins war einer Elite die Bildung und Kunst vorenthalten, heute spielt Geld auch immer noch eine Rolle, aber Kunst kommt trotzdem aus allen Bereichen der Gesellschaft. Kunst gab es immer, auch in Diktaturen. Kunst sollte aber vor allem frei und unabhängig sein, also Demokratie wäre eine ideal Voraussetzung. Kunst muss trotzdem gefördert werden, und das ist die Aufgabe einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, denn die Kunst ist im besten Falle auch immer Spiegel und Kritiker der Gesellschaft.
Der zweite Fehler ist: Zu Zeiten Puschkins war einer Elite die Bildung und Kunst vorenthalten. Es muss natürlich heißen: der Zugang dazu vorbehalten.
Natürlich spielen Schauspieler eine Rolle. Aber auch im alltäglichen Leben werden ständig Rollen gespielt, schauen Sie sich nur mal unsere Politiker(-Debatten) an. Es geht also um die Frage, WIE man eine Rolle spielt und was darüber ausgesagt werden soll. Einerseits geht es um die psychologische Einfühlung (Stanislawski), andererseits um den Körper bzw. die Gestik (Meyerhold, Biomechanik). Damit wird natürlich Verschiedenes ausgesagt. Im ersten Fall wird nur repräsentiert, im zweiten Fall wird die Repräsentation aufgebrochen und in ihrer vermeintlich "natürlichen Ordnung der Dinge" hinterfragt.
Was macht Hermanis? Es geht doch wohl mehr in Richtung der psychologischen Einfühlung.
Zu Dietmar Dath: Das Zitat steht im Kontext der Abschaffung der Menschen durch die Gente ("Freunde mit Fell"), wobei teilweise aber wiederum "im Grunde nur degenerierte Gente" entstanden sind, keine "HOMINES SAPIENTES", also Menschen/Tiere im Besitz von Sprache. Was wir sind, sind wir über unser Denken und die intersubjektive sprachliche Vermittlung. Ob Dath damit auf das Ende der DDR bzw. DDR-Nostalgie abspielt, das weiss ich nicht, lese ich aber nicht so. Nostalgie ist ja bloß ein Gefühl, es geht in meiner Wahrnehmung aber eher um das vertiefte Nach-Denken über evolutionäre bzw. historische Entwicklungsprozesse, welche von der Idee her gut waren, aber aus dem Ruder liefen, so auch im Fall des Kommunismus bzw. des Staatssozialismus der DDR.
Mit der Demokratisierung der Literatur meinte ich die Zeit nach Puschkin, also die Bildung einer neuen politischen und literarischen Avantgarde, zu der ja zum Beispiel auch Meyerhold zu zählen ist. Ich meinte den Gegensatz zwischen der alten, vergnügungssüchtigen, blasierten Residenz, mit ihren hohen Beamten und Generälen und der modernen Universität, mit ihren Studentenvereinigungen und Selbstbildungsvereinen, mit ihrer begeiertungsfähigen und wißbegierigen Jugend.
Da machen Sie aber gleich einen großen Satz von Puschkin bis zu Meyerhold und überspringen die Naturalisten und Realisten. War Meyerhold eigentlich auch Schriftsteller oder hat er selbst Stücke geschrieben? Meyerhold pflegte doch als Regisseur einen recht symbolistischen Theaterstil mit ausladender Mimik und Gestik. Das war ja schon eher eine Rückbesinnung zur Romantik, aber Avantgarde war es schon, auch politisch gesehen. Hermanis ist von Stanislawski gleichermaßen wie von Meyerhold beeinflusst, ahmt ihren Stil aber nicht einfach nur nach, sondern versucht Eigenes, wie eben das Kommentieren, was ja wiederum sehr episch ist und an Brecht erinnert. Also, er ist nicht einfach nur Traditionalist, sondern mischt Theaterstile. Ich finde das durchaus interessant und mal einen anderen Ansatz, als das ständige Dekonstruieren und Provozieren. Das ist ein anderer Weg, um einen Bezug zum Stück zu bekommen. Und er macht das für den Zuschauer sichtbar auf der Bühne. Übrigens ich habe nachgeschaut, auch Thomas Ostermeier soll sich an Meyerhold orientiert haben. Ich kann zwar nicht mit Sicherheit sagen, in welcher Inszenierung das sichtbar sein soll, aber das gleiche könnte man dann auch von Castorf behaupten.
Meyerhold war aber auch eine sehr tragische Persönlichkeit in der Sowjetunion und ist der Beweis, dass avantgardistische Kunst und politisches Engagement in der Diktatur zum existentiellen Problem werden können. Es gab immer wieder Künstlergruppen die sich als Avantgarde, also Speerspitze einer Kunstströmung verstanden haben, meist auch mit dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Umwälzung. Scheitert die Bemühung, verschwindet der Avantgardist schnell wieder in der Künstlerbohème. Heutzutage pflegt der Künstler ja eher wieder sein eigenes Image und Theater bleibt in Deutschland nur Revolutionsersatz, wie es Heiner Müller formuliert hat.
Was Sie zu Dath gesagt haben, sehe ich ja ähnlich. Dath ist Dialektiker und dazu gehört eben die Analyse der Vergangenheit. Er steht eben in der Tradition von Peter Hacks. Ob das Avantgarde ist, weiß ich nicht, aber es kann nie verkehrt sein, analytisch zu denken. Wenn dann dabei auch noch ansprechende Kunst herauskommt, umso besser.
Ostermeier hat sich am Anfang seiner Theaterarbeit intensiv mit Meyerhold und Biomechanik beschäftigt. U.a. bei "Mann ist Mann" (noch an der DT-Baracke) und zuvor schon am BAT bei seiner Diplom-Inszenierung im Doppelpack mit Christian von Treskow. Vielleicht kann man "Personenkreis 3.1." (sein Beginn an der Schaubühne) noch dazu zählen. Aber viel mehr gibt es da, denke ich, nicht.
Heute hat sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt wiederum weiterentwickelt, die meisten Arbeitsgänge werden aktuell wohl bereits von Computern gesteuert, Stichwort: Übergang vom Arbeiter zum modernen Dienstleister in der Informations- und Wissensgesellschaft.
Zu Puschkin passt die Methode der Biomechanik nicht, denn es geht hier ja um die Schicht des russischen Adels. Dieser arbeitet nicht, sondern erhebt das stilisierte Äußere zum Selbstzweck. Nun frage ich mich, ob sich hier - bei aller Wiederverzauberung durch die Welt des 19. Jahrhunderts - auch nur bei einem Zuschauer ein dieser Lebensweise inhärenter Widerspruch eröffnet. Manch einer weiss vielleicht auch aus eigener Erfahrung, dass nur plötzliche hereinbrechende Ereignisse, wie zum Beispiel die russische Oktoberrevolution, die hermetisch abgeschlossene Welt des schönen Scheins empfindlich stören können.
"Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören." (Rilke, "Die Erste Duisener Elegie")
Werter Myerhold,
ich schrieb bezüglich des Analysierens über Dietmar Dath und nicht Alvis Hermanis. Wir waren vom eigentlichen Thema etwas abgeschweift. Zu Hermanis habe ich weiter oben alles gesagt. Er versucht eine Annäherung an die Puschkin-Zeit, das ist jetzt auch lang und breit in den Kritiken nachzulesen. Wenn Ihnen das zu unpolitisch ist, müssen Sie ihm das bei einem Publikumsgespräch sagen, oder Sie sagen hier, was Sie anders machen würden. Mit Vergleichen wie Kerkeling oder Musicalindustrie kann ich nichts anfangen. So etwas sehe ich mir nicht an, es interessiert mich auch nicht. Vielleicht erklären Sie uns mal, was Sie unter neoliberalem Tourneetheater verstehen und versprühen Sie ruhig ein paar expressive Revolutionsfunken dabei. Werfen Sie die Abstraktionsmaschine an Meyerhold, ich bin gespannt.
warum wollen Sie unbedingt auf Krampf die politische Aussage bei Hermanis finden? Und was hat Meyerhold damit zu tu? Hermanis sucht eine künstlerische Ausdrucksform Inhalte zu transportieren und Sie sind schon wieder einen Schritt weiter. Ich finde was Dirk Pilz in der NZZ geschrieben hat sehr treffend. "Man sieht das russische 19. Jahrhundert auferstehen und erlebt es zugleich als fern, als fremd." und "Das Erzählte werde zum Echoraum des Gegenwärtigen, das Fremde zum Spiegel des Eigenen." Wie bewege ich mich in diesem Raum? Wie verändert sich mein Ich durch diese Begegnung mit dem Fremden? All das sieht man an den Schauspielern. Also, alles was Sie suchen, können Sie, wenn Sie wollen, auch darin wiederfinden.
Den gleichen Zweck würde ich auch die historische Distanzierung in Hermanis Eugen Onegin zuschreiben. Wir entgehen den Klischees unseres Denkens, indem wir erstmal alles so weit in die Distanz rückenl, dass wir die dargestellte Welt von Grund auf neu aufbauen müssen.
P.S.: Nichts gegen ein Stück, dass die ökonomischen Lebensgrundlagen der russischen Gutsbesitzerschicht darstellt. Vielleicht schenkt es uns Hermanis ja als Nächstes mit einer Inszenierung der Toten Seelen von Gogol.
"Tränen lügen nicht"? - Kennen Sie die Tränenszene aus Erich von Strohheims "Foolish Wives"? Die Tränen kommen aus einem Wasserglas.
"Ich trage keine Mieder und Korsettstangen." - Dann leben Sie in einer idealen Welt. Wir andern stecken alle im Korsett gesellschaftlicher und kultureller Zwänge und Konventionen.
"Ich frage mich aber immer noch, was die Bild- bzw. Diaprojektion an die Wände über der Spielfläche eigentlich aussagen soll. " - Kunst ist - nicht nur - nach Schiller freies Spiel (z.B. der Gedanken, Gefühle, Assoziationen). Für mich hat die Ebene über der Spielfläche wie ein Fußnoten-Apparat funktioniert: Man schaut und hört, was im Haupttext geboten (gesprochen, gespielt, kommentiert) wird. Dann schweifen die Augen nach oben zum Paratext, dann wieder runter usw. Bei jedem anders. Man hatte ja auch nicht die ganze Totale der Spielbühne immer im Blick, sondern musste immer eine Entscheidung treffen, wo man fokussieren wollte: auf welchen Schauspieler, welche Handlung. Das ist dieselbe Überforderungserfahrung, die für Schlingensiefs Arbeiten konstituierend war. Man wird sich dabei bewußt, dass man immer nur Ausschnitte - das Ganzen? der Realität? was auch immer - bekommt. Wer solche (ästhetischen) Erfahrungen macht, wird nie wieder darauf bestehen: So ist es, und nicht anders. Oder wird nie wieder einen gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte postulieren. Damit wird auch Gewalt abgebaut (die Gewalt des Anspruchs auf Meinungsführerschaft z.B.). Es ist also (meine ich) nicht nur eine ästhetische Erfahrung, sondern führt auch zu ethischen Konsequenzen. Außerdem regt es die Phantasie an. Ich mache mir ein Bild vom Gesagten. Dann gucke ich hoch und sehe das Bild. Und siehe da, es ist vielleicht ganz anders. Aber überhaupt nicht bevormundend. So vielfältig kann Welt sein.
Was macht Hermanis? Es geht doch wohl mehr in Richtung der psychologischen Einfühlung."
Da bin ich anderer Meinung:
1. Ob man eine Rolle für sich über Phantasie ("Einfühlung") konstruiert bzw. rekonstruiert oder über deren Motorik ("Gestik") schließt nicht aus, dass in jedem Fall das Eine das Andere nach sich zieht. "Einfühlung" ohne Motorik gibt es auf der Bühne ebenso wenig wie vice versa. Brecht hat sein Leben lang erfolglos versucht z.B. zu verhindern, dass das Publikum sich in die Mutter Courage einfühlt. Er versuchte die Einfühlung bzw. Phantasietätigkeit des Publikums umleiten, indem er es auffordert, nicht mit der Figur zu fraternisieren (sein Begriff, ein Nazischlagwort polemisch aufgreifend), sondern sie zu konditionieren.
2. "Was macht Hermanis?" Das Gegenteil von psychologischer Einfühlung. Indem er die Figuren Schicht für Schicht in diese historischen Kostüme + Perücken einschnüren lässt, werden sie immer "unnatürlicher". Das ist reine Biomechanik. Da bewegt nicht die einfühlende Seele von Tilman Strauß den Menschen, sondern das Kostüm bewegt den Menschen, zwingt ihm Gesten, Haltungen, Bewegungen auf, die nicht aus der Seele, sondern aus dem Korsett kommen und von außen gut materialistisch das Innere konditionieren.
Eine der verblüffenden Erfahrungen dieser Inszenierung bestand für mich darin, zu erleben, dass diese Biedermeier-Leute ja durch ihre Kleidung alle zu Puppen gemacht wurden. Die haben sie unnatürlich und geziert gemacht, weil ihre Kleidung bereits keinerlei Natürlichkeit und Spontaneität mehr zuließ. Und jetzt gehe ich in die Boutiquen, Frisiersalons, Styling-Spas, Bräunungscenter und Fitness-Studios von nebenan und erlebe, dass Cindy aus Marzahn oder Ahmed aus Neukölln dort wie Eugen und Tatjana Stunden über Stunden mit ihrer Toilette zubringen... Dandyismus ist heute klassenlos demokratisiert. Warum lachen wir über Puschkins Helden und nicht über uns und unsere Zeitgenossen? Das ist jenes Philistertum, das Goethe an Fausts Wagner lächerlich macht: Zu sehen, wie ein großer Mann vor uns gedacht und wie wir's dann so herrlich weit gebracht.
Ihre Haltung, Guttenberg, die Einkommensverteilung bzw. den Begriff des Eigentums hier vollständig zu nivellieren, indem sie den Dandyismus als "klassenlos demokratisiert" bezeichnen, das empfinde ich als reaktionäre Verzerrung der strukturellen Bedingungen vergangener und heutiger Tage. Es muss nicht immer die explizite Kritik sein, aber für mich eröffnet diese Inszenierung gleichwohl eine durchaus berechtigte Kritik des Lebens des (russischen) Landadels, allerdings durch die Hintertür. Das wäre dann quasi Lukács (gegenüber Brechts) Position im Expressionismusstreit.
Dandyismus ist nicht an Eigentum gebunden, sondern eine Geisteshaltung. Sowohl Cindy aus Marzahn als auch Eugen Onegin brauchen nur Schere und Nagelpfeile für 5 Stunden Pediküre. Aber nicht jeder, der sich eine Schere und eine Nagelpfeile leisten kann, sitzt auch 5 Stunden vor dem Spiegel, um den Anderen durch sein Äußeres zu verblüffen.
Und welche "Absichten" verfolgte Lukács? Ich lese Lukács (mit Bezug auf Puschkin bzw. Hermanis) folgendermaßen:
In der Folge des sogenannten "Expressionismusstreits" geht es um die Begriffsbestimmung des "Realismus" zwischen Brecht und Lukács. In seiner ästhetischen Konzeption fasst Lukács den Realismus als die Weiterführung der großen progressiven Strömungen des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Balzac, Tolstoi, Stendhal usw.) auf und stellt das Engagement des bürgerlichen Dichters für Fortschritt und Demokratie in den Mittelpunkt. Brecht geht es in seiner ästhetischen Arbeit um die Eroberung und Aufdeckung neuer Kunstmittel aufgrund neuer gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. um die Verbindung von künstlerischem Experiment und gesellschaftlicher Erneuerung.
Lukács will Wesen und Erscheinung der Dinge im Kunstwerk harmonisieren und gesellschaftliche Widersprüche (zum Beispiel den ethischen Solipsismus des bürgerlichen Individualismus) über die geschlossene Form des Kunstwerks überwinden. Brecht will Unterschiede und Disharmonie zwischen dem Wesen und der Erscheinung der Dinge über die offenen Form des Kunstwerks demonstrieren. Auf diese Weise soll die Veränderbarkeit der Gesellschaft und ihrer ökonomischen Existenzbedingungen bewusst gemacht werden.
Zum Thema "Dandyismus als Geisteshaltung": Das ästhetische Ideal der gewollten Künstlichkeit befragt das anthropozentrische Denken. Andererseits liegt darin aber auch die Gefahr eines (männlichen) Geniekults, welcher die Frau bloß als Spielball des männlichen Verführer-Interesses benutzt. Wer angesichts der Darstellung der Frauenfiguren in "Eugen Onegin" keinen Bruch zur Gegenwart empfindet, der hängt für mich einem wirklich schiefen Frauenbild an.
Und dann noch diese furchtbar kitschigen Gedichte! Also, ich könnte darin nicht schwelgerisch aufgehen. Da halte ich es mit Gottfried Benn:
"Die Öffentlichkeit lebt vielfach von der Meinung, da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten - ein Gedicht wird gemacht."
"Die historische Imitation wird über die sanft herablassende Information tatsächlich zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - allerdings einer ziemlich besserwisserischen. Vom breit zurückgelehnten Erzähler-Katheder aus wird das Damals leise verlächelt. Das Heute als Herr der Geschichte oder: Wer überlebt, hat Recht. Hinter Hermanis' ausgeklügelter Konstruktion lauert am Ende doch nur das ziemlich simple Gefühlsleben der historischen Sieger."
Da verspüre ich wirklich den Drang, mich zu äußern.
Um den Standpunkt, von dem aus ich spreche, gleich klar zu machen:
Für mich ist dieser "Eugen Onegin" eines der großen Theatererlebnisse gewesen.
Nun zu Franz Wille:
Der Kritikpunkt des Zitats scheint mir der "pädagogische" Zug der Inszenierung zu sein: "sanft herbalassende Information", "besserwisserisch", "Erzähler-Katheder" usw. Daraus wird gefolgert, hinter der Inszenierung lauere "das ziemlich simple Gefühlsleben der historischen Sieger".
So kann man die Inszenierung meines Erachtens weder beschreiben, noch bewerten.
Meines Erachtens ist die Methode der Inszenierung eine Historisierung des Stoffes wie auch der Form. Sie lässt uns die Differenz zwischen 1820 und 2011 theatralisch erleben. Diese Differenz radikalisiert Hermanis. Er tut alles, um 1820 so fremd wie möglich erscheinen zu lassen. Aber er tut es nicht auf Teufel komm raus, das heisst: er tut der historischen Forschung keine Gewalt an, sondern wählt nur aus, was wirklich different ist. Die Lebenswelt von "Eugen Onegin" soll uns also wirklich als "das Fremde", "das Andere" im Sinne der Hegelschen Erkenntnis-Dialektik (Vorrede, "Phänomenologie des Geistes" erscheinen.
Natürlich kann man dieses Prinzip als Volkshochschule denunzieren. Aber dazu war es zu diskret eingesetzt, zu raffiniert und auch theatralisch zu vieldeutig "lesbar" (interpretierbar).
Wenn Herr Wille meint, dieses Verfahren gleich abwertend beschreiben zu müssen ("herablassend", "besserwisserisch" etc.), scheint mir das eher Ausdruck einer narzisstischen Kränkung zu sein: er mag nicht demonstriert bekommen, dass er was nicht weiss. Ich könnte es aber auch ohne diese Wertung formulieren: Das Publikum möchte nicht belehrt werden. Ok. Das muss jeder für sich entscheiden, wie er zu diesem Verfremdungsprinzip steht.
Woraus Herr Wille das "Gefühlsleben der historischen Sieger" extrapoliert, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Die Inszenierung führt ziemlich wertfrei den Versuch vor, sich etwas total Fremdem anzunähern, es nachzuspielen, soweit es diesen fünf Personen möglich ist. Natürlich: man lacht über Puschkins viele Liebschaften, über die Frisiermode, die Mieder für Männer, man staunt und gruselt sich ein wenig dabei, wie Frauen sich verhalten mussten, um ein halbwegs erträgliches Leben führen zu können - aber es wird meines Erachtens in keinem Augenblick suggeriert: Kinder, waren die alle doof. Ein Glück, dass wir heute leben. Nee: Es ist das erste mal, dass ich den Anhauch von "Geschichte", das Phänomen Zeit im Theater in einer derart suggestiven, theatralischen Weise (also nicht diskursiv-begrifflich, sondern unmittelbar) erlebt habe. Ich war unglaublich gebannt. Und ich meine nicht, irgendeine geschichtliche Epoche, sondern das Prinzip Geschichte selbst: nämlich Vergänglichkeit, Veränderung, Existenz dessen, was völlig aus dem Gesichtskreis der Gegenwart und des Ortes, an dem ich mich aufhalte, tritt. Es ist wirklich die Erfahrung des Anderen.
Und noch etwas ganz Unmittelbares: Zu den Thesen der Aufführung gehört, dass die Menschen, d.h. die mittlere russische Gutsbesitzer-Klasse 1820 sich verhüllten, d.h. Schicht um Schicht Kleidungsstücke wie ein Zwiebel um sich legten. Dieses kommentierte, auch erzählerisch begleitete Ankleiden nimmt als Spielvorgang fast die ganze erste Hälfte der Aufführung in Anspruch. Es ist ein Ritual, das unglaublich viel an Einsicht sinnlich über die Rampe bringt: 1. Diese aufwendige Verkleidung kostet unglaublich viel Zeit und Geld. Kein Wunder, dass dieser Kleinadel ständig pleite war und wahrscheinlich kaum Zeit zu produktiver Arbeit hatte.
2. Man bekommt das Gefühl, die Leute versuchten ihre Haut unter möglichst vielen Stoffschichten, Perücken, Puder so weit wie möglich von der Welt entfernen. Gab es eine Angst vor der Berührung? (Berührung auch der Haut mit der Wirklichkeit?)
3. Nach einer Stunde sind die Darsteller nur noch Puppen. Sie haben sich mit so vielen Stoffschichten wie möglich buchstäblich verpuppt. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch natürlicher Regungen fähig sind.
Da werden dem Zuschauer Widersprüche und Erfahrungen mit gegeben, die mich zumindest nicht wieder losließen und die Aufführung lange nachwirken lassen. Und ein Nachdenken über etwas Vergangenes, Fremdes oder Erfundenes (Fiktion, Märchen) ist ja immer auch ein Nachdenken über sich selbst und seine eigene Zeit.
Mir hat diese übrigens sehr leise gespielte Inszenierung nie das Gefühl einer Siegerpose vermittelt und nicht eine Sekunde lang den Gedanken eingegeben: "Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie diese."
Was ist die "Theater heute". Eine Satire
Zeitschrift ?
Gruß
Klaus
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
Und würden Sie mir zustimmen, dass hier nicht vielleicht auch ein Zusammenhang von Neid und Liebe zwischen zwei Männern (Onegin und Lenski) eine Rolle spielt? Präziser gefragt: Könnte in der Eifersucht eines Mannes auf einen anderen Mann auch ein Stück verschobener homosexueller Liebe am Werk sein? Ist die Liebe Onegins zu Olga also vielmehr Narzissmus? Typisch, Adel. Hauptsache, der Schein ist gewahrt. Ist das gutes oder schlechtes Leben?
Also Oda - Stroheim: Sie schreiben "Tränen lügen nicht." Finde ich ganz falsch. Das hat Stroheim in Foolish Wives auf geniale Weise gezeigt, indem der Heiratsschwindler Karamsin einfach seine Finger in ein Wasserglas taucht, sie sich vor die Augen hält und die Tropfen dann langsam aufs Tischtuch tropfen lässt, um die Geschichte vom Tod seiner Frau wirkungsvoll zu begleiten.
Zu ihrer 2. Frage: Das steht doch eigentlich im Buch. Ganz unabhängig davon, ob Lenski Onegin liebt oder nicht (mir ist beides recht): Olga liebt Onegin bestimmt nicht, weil er in dieser Lebensphase ja noch Narziss ist. Dass Narzissmus "Typisch Adel" sei, finde ich eine gewagte These.
Ob Männertränen lügen, zumal angesichts des Todes ihrer Frau - bei Strohheim, nicht bei Puschkin -, auch das ist wohl von Einzelfall zu Einzelfall unterschiedlich. Aber dass der Dandy lügt, das ist keine Frage, denn er erhebt die Künstlichkeit bzw. Inszenierung seiner selbst ja zum ästhetischen Prinzip. Und genau deswegen ist der Ästhetizismus (nicht nur) des Adels narzisstisch, weil er allein auf die Eigenliebe abzielt.
Letztlich ging es mir aber eher darum, wie sie hier überhaupt auf Erich von Strohheims "Foolish Wives" kommen. Noch einmal - inwiefern steht das in einem inhaltlichen Kontext zu Puschkin?
Wer sich selbst nicht liebt und achtet, kann auch Andere nicht lieben und achten.
Wer sich selbst inszeniert, begehrt den Blick des Anderen und damit auch den Anderen. Sartre war nicht umsonst selbst Dandy und Dandy-Fan (siehe seine Baudelaire-Studie).
Wer seinen Körper stilisiert, trägt zur Schönheit und damit zur Menschlichkeit der Welt bei. Dass jedes Gute, wird es übertrieben, ins Zerstörerische umschlagen kann, ist eine Binsenweisheit. Man muss eben differenzieren: Was eo ipso "gut" oder "schlecht", "richtig" oder "falsch" ist, wissen nur Ideologen, Terroristen, Diktatoren, Geheimdienstler, Polizisten und Wagnerianer (Pardon, Sie werden dieses kleine concetto wieder nicht goutieren - aber ohne Humor geht die Welt zu Grunde).
Und wie kommen Sie jetzt auch noch auf Sartre?
Auf mich hat der Abend eher gewirkt wie ein Nahverwandter von Rimini-Protokoll oder einer Sache wie "Schöpfer der Einkaufswelten"
(Kühnel) nach Harun Faroki, was die Aneignung im Wechselspiel zwischen Abbildung/Bild/Filmsequenz und im weitesten Sinne "Schauspiel" angeht, ähnlich auch der Moderatorenstil und die Zeit, die einem gelassen wird, sich mit den Situationen vertraut machen zu können. Natürlich sind hier Experten eines ganz speziellen Alltags am Werke: des Schauspiel-Alltags, und -wie einige KritikerInnen bemerkten- beschränkt sich Alvis Hermanis vor allem auf Details, die eine Fremdheit, eine Differenz zum Heute aufweisen; mir ist schleierhaft, wie an dieser Stelle von "Siegern der Geschichte" und Selbstüberhebung über den Gegenstand gesprochen werden kann. Immerhin wäre so ein sich selbst Überhebender schwerlich ein Reaktionär, oder ? Und ist der Vorwurf nicht "Besonnte Vergangenheit"-"Verklärung"-"Wohlfühltheater" ??
Nein, fremd und informativ sind die Details, der Abend kippt weder in die Vergangenheitssehnsucht noch ist er frei davon, durch Schönheit und "Sich-Zeit-lassen" zu reizen.
Offenbar ist der Abend ja zum Beispiel anregend genug, daß Frau Wahl überhaupt von Handlungsblockern schreiben konnte wie jenen Kratzfüßen, obschon garnicht allzusehr, nur minimal, überhaupt gehandelt wird; das spricht meineserachtens eher für ihn.
Aber, wo ist das Problem ? Onegin kehrt zurück in die Stadt, und sein Alltag ist dort von Kratzfüßen umstellt, wem auch immer er
begegnet, und sei es auch der "Duellgrund" von einst ! Ein anregender Abend, der allemal einlädt, immer wieder zu verharren, hier und dort, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ein wenig gab mir das ein ähnliches Gefühl wie ein Truffautfilm, und tatsächlich ging es ja auch fast so los wie in "Der Mann, der die Frauen liebte", war hier auch die Rede von Puschkin und nicht von Bertrand Morane (Bilder, Poesiealben !), und die Stelle mit den Büchern auf dem Kopf (der geraden Haltung wegen) ist eigentlich (man verfolge nur, wie Truffaut immer wieder die "Pflege des Buches" in seine Filme einfließen läßt) schon reiner Truffaut, so als hätte ich die beiden Engländerinnen mit ihrer Liebe zum Kontinent beispielsweise (als ich den gleichnamigen Film sah) selbst mit einem Buch auf dem Kopf gesehen..
Und Rimini Protokoll arbeitet anders als Hermanis. Bei Ersteren geht es um die Theatralisierung der eigenen Biografie als einer ganz speziellen, aktuellen Lebenswirklichkeit. Bei Letzterem geht es dagegen vielmehr um eine über die Schaubühnen-Darsteller in die Gegenwart zurückgerufene Vergangenheit bzw. vergangene Lebensform. Das Einzige, was bei Rimini Protokoll und Hermanis ähnlich funktioniert, ist das epische Erzähl- gegenüber dem mimetischen Einfühlungstheater, wobei das bei beiden immer auch ineinanderfließt. Denn sobald man einen Text spricht, wird man insofern zum Schau-spieler, als dass das eigene oder fremde Leben objektiviert bzw. in eine perspektivische Distanz gerückt wird, ebenso wie die über die Bühne projizierten Bilder.
Aber wo haben Sie da jetzt in dieser "Eugen Onegin"-Inszenierung eine Filmsequenz gesehen? Oder war das nur eine weitere Assziation ihrerseits?
Liebe Inga, Filmsequenzen gibt es bei diesem Hermanis nicht, bei "Schöpfer der Einkaufswelten" gibt es sie dafür (daher schrieb ich Bild/Abbildung/Filmsequenz nebeneinander, weil sie eine sehr ähnliche Funktion im Aneignungsprozeß der genannten Theaterereignisse haben, freilich kommt beim Faroki noch Suse Wächters Puppenspiel hinzu, und ich habe an keiner Stelle von inhaltlich-thematischer Verwandtschaft gesprochen, sondern mich auf die Art und Weise bezogen, wie hier der jeweilige Kontext erschlossen wird, und da nehmen die Schaubühnenakteure halt vor unseren Augen gewissermaßen diese fremde Zeit, diese Formen der Vergangenheit in IHRE BIOGRAPHIE hinein; ich sehe also sowohl eine strukturelle Verwandtschaft zu den von mir genannten Künstlern als auch die Tatsache, daß diese Abende ganz ähnlich auf mich wirkten (auf der Gefühlsebene, wenn Sie so wollen). Mir ist das zB. schon einmal sehr ähnlich mit zwei Filmen gegangen, die von ihrer Entstehungszeit eine Filmemachergeneration auseinanderliegen: Als ich Emir Kusturicas "Erinnerst Du Dich an Dolly Bell" etwa im Alter von 21 oder 22 Jahren sah, wurde ich schlagartig daran erinnert, daß ich mit 14 oder 15 Jahren nach einem Film auf ganz ähnliche Weise betroffen war: "Sonne im Netz" von Stefan Uher (das lief seinerzeit im DDR-Fernsehen), und als ich späterhin nachforschte, wo Emir Kusturica studiert hat (in Prag !), ging mir immer mehr auf, daß diese gefühlte Nahverwandtschaft durchaus sehr konkrete Wurzeln hat(te). Sie werden auch bei Hermanis und Faroki "Kreuzwege" finden..
Und dieser Diskurs passt vielleicht insofern zu Hermanis' "Eugen Onegin", als dass wir darüber erkennen können, wie Wahr-Nehmung generell funktioniert: über historische Aneignung und bildliche Vorstellung. Das heisst, wir konstruieren Geschichte von unserer heutigen Perspektive ausgehend immer wieder neu. Darüber wird nicht nur die Vergangenheit kritisch befragt, sondern gerade auch die Verfasstheit unserer Gegenwart und Zukunft. Und vielleicht verstehe ich Sie jetzt, wenn Sie auf das Gegenbild von Farockis "Einkaufswelten" verweisen. Das reine Konsumieren reicht eben nicht aus. Vielmehr ist der Gebrauchswert entscheidend. Oder: auf welche Weise der einzelne Zuschauer das Kunstwerk/eine Aufführung über sein Denken und seine Wahr-Nehmung wesentlich mitgestaltet.
Darauf, auf das Göttliche = gestalterisch Tätige in jedem Menschen gegenüber einer autoritären Instanz wie Gott, verweist zum Beispiel auch Elfriede Jelinek, wenn sie sagt: "Nein, verherrlichen tun wir das Göttliche nicht, aber wir wollen es uns wenigstens einmal anschauen." Es geht also um die Anschauung, nicht um die Unterwerfung unter ein religiöses, ideologisch-politisches usw. Prinzip.
denken und leben sie religiös und ordnen somit alles, was ihnen zustößt,
in ihr religiös bestimmtes welt-bild ein?
diesen eindruck haben sie bisher nicht auf mich gemacht.
Inga stieß sich an "Kreuzwege" in An- und Abführungszeichen, ist aber oftmals gemäß Eigenaussage geradezu eine "Fachfrau" im Bedenken von Kontexten; insofern überließ ich es ihr, sich die Antwort(en) auf die gestellte Frage selbst zu geben. Ich hätte statt "Kreuzweg" auch von "Schnittmenge" oder "gemeinsamen Bezugsgründen" sprechen können. Ich könnte zwar vom Konzept der "Kommunion" tatsächlich auf solche für mich prägenden Kunst-Erlebnisweisen hin reflektieren, und es geht mir ja hier -hoffentlich nach-spürbar- um Momente eines erhebenden Gefühls, das durchaus Verwandtschaft zum pochenden Herzen des die Kommunion empfangenden aufweist/aufweisen dürfte: insofern finde ich es nachträglich ganz treffend, wenn "Kreuzwege" dort steht in einer von Inga angeregten gedanklichen Linie. Ich hoffe, wenn sie zitiert, geht ihr so ein Gefühl nicht ganz ab: religiös muß das mitnichten sein.. Guten Rutsch !!