Oasis de la Impunidad - Schaubühne Berlin
Freddy Krueger will nicht mehr
2. April 2022. In der "Oase der Straffreiheit" ermöglicht das Mitläuftertum das gute Leben. Der chilenische Regisseur Marco Layera und die Gruppe La Re-sentida sind mit ihrem kritischen Theater zum brodelnden Erbe von Gesellschaften bekannt geworden. Dieser Abend choreographiert gewaltvoll auch die Gegenwart.
Von Georg Kasch
2. April 2022. Nach gut eineinhalb Stunden blendet plötzlich ein Scheinwerfer auf die nackte Frau im Parkett. Ein Performer hatte sie zuvor umständlich durch die Reihe getragen und dort abgeladen wie einen Sack. Die Frau ist tot, gestorben am Schmerz um ihr totes Kind und an der Gewalt der anderen. Jetzt, im Scheinwerferlicht, sagt ihre Stimme vom Band, dass wir, klar, hinterher applaudieren können. Nur wird es nichts ändern: "Niemand hat gewagt, die Party zu beenden."
Menschen, in Anpassung verrenkt
Die Party, das ist in "Oasis de la Impunidad" ("Oase der Straffreiheit") das gute Leben all der Mitläufer:innen einer Mittel- und Oberschicht, die es denen an der Spitze erst ermöglichen, Macht auszuüben. Sie alle porträtiert Regisseur Marco Layera im neuen Abend der chilenischen Gruppe La Re-sentida, der beim F.I.N.D.-Festival an der Schaubühne internationale Premiere feierte. Die Gruppe ist hier wohlbekannt: Mit Tratando de hacer una obra que cambie el mundo erzählte sie 2014 rasant und witzig von der (Un-)Möglichkeit, politisches Theater zu machen. La imaginación del futuro 2015 war ein etwas verunglückter Versuch, die Utopien der Allende-Jahre mit der Medienwelt der Gegenwart kurzzuschließen. Dafür gelang der Gruppe 2019 mit Paisajes para no colorear eine Arbeit über Machismo und männliche Gewalt, der dazu gemacht war, einem im Verlustfall den Glauben ans Theater zurückzugeben.
Mit "Oasis de la Impunidad" hat Layera nun einen genau choreografierten, äußerst wortkargen Abend geschaffen, der in sich verdrehte, vor lauter Anpassung verrenkte Menschen zeigt, seelenlose Puppen, wie fremdgesteuert. Einmal steht ein Performer zur pulsierenden Club-Musik nackt vor uns, kneift sich mit einer Zange in Wange, Kinn, Lippen, reißt sich dann damit die Zähne aus und lässt sie knackend vor unseren Augen zerspringen. Ein anderer zerrt und quetscht an seinen Genitalien, eine dritte pult sich nur langsam das alles zerschneidende Fadennetz aus dem Gesicht.
Mit der "Oase der Straffreiheit" ist natürlich Chile gemeint, das seine Diktaturvergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat. Noch immer gilt die Verfassung aus der Pinochet-Diktatur, wegen der Chile eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit der Welt ist – Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und Rentensystem wurden privatisiert. Einmal spricht der "Geist der Gesellschaft" zu uns, ein Gespenst, das in Öl an der Wand hängt (die Stimme kommt wie stets verzerrt vom Band) und das Recht und Ordnung durchdrückt, um den Besitz zu sichern. Später steht Schaubühnen-Schauspieler David Ruland in Unterhose und Springerstiefeln in der gläsernen Vitrine und verteidigt seinen Einsatz als Polizist oder Soldat für die Demokratie: "Auch wir sind Opfer." Bitter wirkt das vor dem Hintergrund der chilenischen Massenproteste 2019 gegen soziale Ungleichheit, bei denen der damalige Präsident Sebastián Piñeda schießen ließ. Viele Menschen verloren ein Auge, etliche ihr Leben.
Die Gewalt bleibt Theater
Das Problem mit der Bühnengewalt aber: So genau sie choreografiert ist, so weh sie vielleicht auch dem einzelnen Performer, der einzelnen Performerin tut, bleibt sie doch Theater, geht einem kaum nahe. Das gilt auch für die großen Bilder, die Layera baut, die Beerdigungs- oder die Barbecueszene, in der sich eine außer Rand und Band geratene Oberschicht überfrisst. Man hat sie schon nach wenigen Sekunden begriffen, muss den Performer:innen dann aber noch eine ganze Weile beim Auspinseln zuschauen. Ein wenig kann man sich noch mit den Zitaten zwischen Goya, Sidney Pollack und Luis Buñuel beschäftigen oder damit, ob in den begleitenden Canciones nun von privatem oder öffentlichem Schmerz die Rede ist.
Aber dann sieht man wieder, wie schwer sich die Performer:innen verausgaben, mit welch heiligem Ernst sie sich in die Qual stürzen und möchte das so gerne wertschätzen, kommt aber nicht über den Holzhammer hinweg, mit dem das alles präsentiert wird. Etwa wenn am Ende sich eine merkwürdige Horror-Karnevalsparade versammelt und ausgerechnet der Freddy-Krueger-Typ beteuert, er habe das alles nicht gewollt, sei zu seiner Mitarbeit gezwungen worden und fleht: "Holt mich hier raus!" Offenbar schwebte Layera ein bitterböses Entertainment vor, eine Art unendlicher Spaß. Er ist, trotz seiner Bannkräfte, endlich.
Warum lässt einen das alles so kalt? Kurz zuckt man ja zusammen, wenn die nackte Frau beim Applaus immer noch dasitzt und wie tot zur Seite wegkippt, als ihr Nachbar aufsteht. Eine Zuschauerin hält ihr den Kopf, jemand bedeckt sie mit einer Jacke, die anderen drücken sich an ihr vorbei oder verlassen den Saal zur anderen Seite hin. Ja, wir sind gemeint, die wir uns nun davonstehlen.
Wir und unsere Lebenslügen
Nur möchte man sich lieber von einem Theater in moralische Haft nehmen lassen, das richtig gut gemacht ist. Paisajes para no colorear war so ein Fall, oder, um in Europa zu bleiben, Oliver Frljics "Arbeit macht frei". Lateinamerikanisches Theater hat ja öfter mal das Problem, dass sein Pathos, seine moralische Wucht in Europa kaum vermittelbar ist. Gut möglich, dass der Abend in seiner Deutlichkeit in Chile funktioniert. In Deutschland aber, wo wir gerade an unseren eigenen Lebenslügen knabbern, einer jahrzehntelang blauäugigen Außenpolitik, der verschleppten Energiewende, dem ewigen Business first, wirkt dieses pantomimische Bildertheater merkwürdig arrangiert und fremd zugleich.
Oasis de la Impunidad (Oase der Straffreiheit)
von Teatro La Re-sentida
Regie: Marco Layera, Dramaturgie: Elisa Leroy, Martín Valdés¬-Stauber, Bühne: Sebastián Escalona, Cristian Reyes, Kostüm: Daniel Bagnara, Musik: Tomás Gonzales, Andrés Quezada.
Mit: Diego Acuña, Nicolás Cancino, Lucas Carter, Mónica Casanueva, Carolina Fredes, Imanol Ibarra, Carolina de la Maza, Pedro Muñoz, David Ruland.
Deutschland-Premiere am 1. April 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.teatrolaresentida.cl
www.schaubuehne.de
Kritikenrundschau
In"Oasis de la Impunidad" sehe man, wie Menschendressur funktioniere und Schlägertypen im Dienst einer autoritären Regierung geformt würden, so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (8.4.2022). "Allerdings wirken die grotesken Schockbilder eines Gebrauchssurrealismus dabei etwas beliebig."
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Auch Marco Layera und sein Ensemble sind zwar bereits alte Bekannte, aber es gelingt ihnen bei jedem Gastspiel, ihr zentrales Thema, die Wut auf politische Missstände und die Gewalt in ihrer Heimat, auf überraschende und herausfordernde Art darzustellen.
Während ihr letzter Auftritt „Paisajes de la colorear“ noch viel Text bot und in ein feministisches Manifest mündete, setzt die Gruppe diesmal fast ausschließlich auf Bildertheater: drastische, sehr körperlich-explizite Szenen, die das Publikum schonungslos mit der Brutalität konfrontieren, mit der Polizei und Militär die Proteste von 2019 niederschlugen.
Der Abend ist aber nicht nur drastisches Holzhammer-Theater, sondern spielt mit Motiven aus Zombie- und Horrorkultur sowie Pop- und Filmgeschichte, die er mit der politischen Realität in Lateinamerika kurzschließt. Manches ist sicher nur für das chilenische Publikum komplett zu entschlüsseln.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/04/oasis-de-la-impunidad-schaubuhne-kritik/
PS: Im letzten Absatz der Nachtkritik ist sicher "Balkan macht frei" von Oliver Frljić gemeint.
"Lateinamerikanisches Theater hat ja öfter mal das Problem, dass sein Pathos, seine moralische Wucht in Europa kaum vermittelbar ist. Gut möglich, dass der Abend in seiner Deutlichkeit in Chile funktioniert. In Deutschland aber, wo wir gerade an unseren eigenen Lebenslügen knabbern, einer jahrzehntelang blauäugigen Außenpolitik, der verschleppten Energiewende, dem ewigen Business first, wirkt dieses pantomimische Bildertheater merkwürdig arrangiert und fremd zugleich."
Ich erlebte an dem Abend in der Schaubühne ein Stück, das mich auf unterschiedliche Weise stark berührt hat und dort tatsächlich Art und Weisen benutzt, die ich selten zuvor so komponiert erlebt habe.
Das eine "Wucht" in Europa kaum vermittelbar sei oder etwas "merkwürdig arrangiert" sei ist etwas, das mir in Gesprächen vor und nach dem Theater öfter begegnet: klassistische und teils auch rassifizierte Überheblichkeit deutscher Theatermenschen.