Onkel Wanja - Thorsten Lensing & Jan Hein treiben Tschechow auf den Gipfel der Verzweiflung
Giftige Ausdünstungen der Seele
von Simone Kaempf
Berlin, 21. März 2008. Wenn Astrow sich in Rage redet, dann kennt die Zerstörung keine Grenzen. Nicht nur, dass der Wald stirbt, nein, die Flüsse versiegen, das Vieh verendet, Schwäne, Enten und Gänse verschwinden. Astrow, der Landarzt, der nur noch unter Alkoholeinfluss operiert und nachts nicht schlafen kann vor Angst, zu einem Kranken gerufen zu werden, für diesen Astrow der eigentlich doch so baumstarken Statur des Devid Striesow, wird die Welt, so sagt er, jeden Tag ein Stück hässlicher.
Dabei ist es doch Sommer auf dem Landgut. Ein Gewitter liegt in der Luft. Ausgangsbasis für einen beschwingt-melancholischen Stillstand könnte das sein. Doch Astrows Schweißflecken sind von Anfang an tellergroß. Rotwein und Wodka spritzen flaschenweise über die Bühne, und bald werden hier noch viel giftigere Ausdünstungen verbreitet, seelische Ausdünstungen. "Gleich wird es regnen, die Natur wird aufatmen. Nur ich werde nicht erfrischt sein". Immer wieder fallen solche Sätze, in denen sich Weltverdammnis, versauertes Provinzleben und Selbstmitleid vermischen.
Zwei glorreiche Jammerlappen
Einen Unglücksraben wie Astrow könnte ein heiterer "Onkel Wanja" noch vertragen, aber allen voran Josef Ostendorf als Gutsverwalter Wanja steht ihm in nichts nach. Nach einem furiosen Solo Striesows als sturzbetrunkener Astrow, der über die Bühne torkelnd erst die Kleidung, dann allerlei skurrile Weltanschauung los wird, liegen beide verknäult in der Ecke. Bis Gutstochter Sonja sie mit dem Wasserstrahl des Gartenschlauchs auseinander treibt. Gesindel, das man mit dem Kärcher wegputzt, sind sie jedoch nicht, sondern Pechvögel und vor allem auch ziemliche Jammerlappen.
Die beiden Regisseure des Abends, Thorsten Lensing und Jan Hein, haben diesen "Onkel Wanja" mit den Schauspielern Devid Striesow, Josef Ostendorf, Ursina Lardi, Margot Gödrös und Rik van Uffelen für eine freie Produktion nicht nur ungewöhnlich prominent besetzt, sie haben auch die Tschechow'sche Weltverzweiflung ambitioniert auf die Spitze treiben wollen. Die Mittel dafür sind einfach. Ein paar Tische, einige Stühle, wenige Requisiten reichen.
Kalter Tee, gereizte Stimmung
Gespielt wird in den Berliner sophiensaelen (als Koproduktion mit dem Pumpenhaus Münster, Theater am Neumarkt Zürich, Kampnagel Hamburg, schauspielfrankfurt) im Festsaal vor abblätternder Paneelholzwand und den abgewetzten Dielen, die von ganz allein ein perfektes Bühnenbild abgeben. Alles etwas kaputt und marode. Selbst der silberne Samowar funktioniert nicht. Der Tee ist kalt, die Stimmung gereizt. Pathos hat hier keinen Platz. Liebe auch nicht, aber natürlich zieht Elena, die junge Frau des gealterten Professors, alle Blicke auf sich, wenn sie im eleganten roten Rock über die Bühne schreitet. An der roten Kinderschaukel, rechts auf der Bühne, wird Wanja sie umgarnen, bekommt sogar einen Kuss, schubst sie kurz darauf – wissend, doch keine Chance zu haben – herum und schleift sie an der Strumpfhose über die Bühne.
Wo in anderen Tschechow-Inszenierungen immer soviel die Rede ist vom Leben, geht es bei Lensing und Hein zusätzlich ziemlich handgreiflich zu. Stühle, Gläser, des Professors Medikamentenpackungen fliegen durch die Luft. Gutserbin Sonja und die Professoren-Gattin Elena schlagen, kratzen und beißen sich, als der Verkauf des Guts angesprochen wird. Ventil für die latent aggressiven Beziehungen untereinander. Wer sich hier nicht gequält fühlt, wie die junge Elena von ihrem Mann, der quält sich selbst wie Wanja. Die Schauspieler verkörpern das mit großem Einsatz und mit offensichtlicher Lust, diese Arbeit als Gemeinschaft auf die Bühne zu bringen.
Das Leben ist schlimm, die Menschen sind schlimmer
Louis Malles Film "Vanya on 42nd Street" soll bei der Vorbereitung eine Rolle gespielt haben, ist als Gerücht von den Proben durchgedrungen. Spürbar ist jedenfalls ein intimes Zusammenspiel. Und ein düsteres Beziehungsgeflecht: Man hat entweder Angst voreinander oder kein Vertrauen zueinander. Der Quell aller Qualen ist auch hier das Leben selbst, aber, und das ist die Akzentverschiebung: die Menschen machen alles nur noch schlimmer. In einer Szene erklärt Astrow auf eine Landkarte, die er selbst gemalt hat, was es alles bald nicht mehr geben wird, den Wald nicht, die Schwäne nicht, "wir haben es mit einem Verfall zu tun als Folge von Dummheit, Mangel an Selbsterkenntnis, weil der Mensch besinnungslos nach allem greift."
Die Verschiebung ins Zerstörerische funktioniert als Lesart. Eine neue Spielweise findet der Abend jedoch nicht. Er exerziert das Stück über dreieinhalb Stunden in all seinen Wendungen, in abblätternder Umgebung, ohne jeden Naturalismus. Ist sogar so sehr Tschechow, dass der zweite Teil eigentlich nur Wiederholung des ersten ist. Der Abend verschießt sein Pulver viel zu früh und leidet dann erheblich darunter, dass sich Verzweiflung und Weltverdammnis auf der Bühne eben doch nicht auf immer höhere Gipfel treiben lassen.
Onkel Wanja
Szenen aus dem Landleben in vier Akten
von Anton Tschechow
Koproduktion der sophiensaele mit dem Pumpenhaus Münster, Theater am Neumarkt Zürich, Kampnagel Hamburg und schauspielfrankfurt
Regie: Thorsten Lensing & Jan Hein, Bühne: Hannah Landes, Kostüme: Anette Guther, Dramaturgie: Jan Hein. Mit: Margot Gödrös, Ursina Lardi, Josef Ostendorf, Ursula Renneke, Devid Striesow, Christoph Tomanek, Rik van Uffelen.
www.sophiensaele.com
Kritikenrundschau
Ulrich Seidler jubelt in der Berliner Zeitung (25.3.2008) über den "Glücksfall" des doppelten Wanja-Gelingens in Berlin. Erst der von Gosch im Deutschen Theater, jetzt der von Lensing und Hein in den sophiensaelen: "So ein Glücksfall ist kaum zu verkraften: Die beiden eigentlich sehr unterschiedlichen Arbeiten stehen sich, was ihre Radikalität, aber auch was ihre radikale Werktreue betrifft, in nichts nach ... beide wachsen sich zu himmelhohen Schauspielerfesten aus." Bei Tschechow stelle sich am Ende immer heraus, dass diese Welt bei allen seelischen Verwerfungen ihrer Menschlein unverrückbar ist. Das sei bei Lensing und Hein von Anfang an klar. "Sie verzichten bewusst auf den bei Tschechow weit gespannten Bogen, der ein Geschehen eigentlich nur simuliert. Die Ausbrüche und Übergriffe kommen in den Sophiensælen schnell, hart und heftig, weil den Figuren klar ist, dass sie damit nichts und niemanden erreichen." - "Elektrisiert von der Selbstverständlichkeit, mit der Theater hier funktioniert, fragt man sich: Wieso ist das so selten?"
Die Darsteller böten "viel Engagement", schreibt Jörg Sundermeier in der taz (25.3.2008),"es wird gebrüllt, geküsst, gedrückt, um sich gespritzt, Schweiß fließt und Tränen". Allerdings: dies ist Herrn Sundermeier entschieden des Guten zuviel. "Wo sich Tschechow auf die Intelligenz seines Publikums verlassen durfte und sich mit Andeutungen begnügen konnte, geht es bei Lensing und Hein stets körperlich zur Sache: Die Schauspieler dürfen nicht begehrlich schauen, sie müssen kleinkindergleich greifen, sie dürfen nicht zittern, sie müssen rennen, sie dürfen nicht stottern, sie müssen schreien." Es fehle überdies "der Begriff von der sozialen Krise": "Lensing und Hein denken, sie und ihr Publikum wüssten schon, worum es geht, und ein gesellschaftlicher Konsens wäre bereits hergestellt, bevor das Stück seinen Verlauf nimmt. Doch angesichts von Patchworkgesellschaft oder kapitalismusbedingter Depression, von denen man allerorten lesen kann, ist diese Annahme reichlich naiv."
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Ich fand den Abend großartig, weil es ein klasse zusammenspielendes Ensemble großartiger Schauspieler war, bei denen es eine Freude war, zuzuschauen.
Das Stück wird nicht exerziert, sondern die sieben spielen mit Leib und Seele.
Ich glaube fast, die Kritikerin hatte einen schlechten Tag (oder das Ensemble?), der diese Kritik bedingte...
Der erste Akt führt eine fahrige, nervöse Gesellschaft vor, viel zeitgenössischer als in anderen Wanja-Inszenierungen. Der zweite Akt treibt dem Tschechow dann vollendes die sämige Melancholie aus und gibt stattdessen ein unglaublich scharfes Bild des Jammers, des Sichgehenlassens, des würdelosen Selbstmitleids. Toll gespielt von Ostendorf und Striesow. Und der leise Despotismus des Professors von Rik van Uffelen spielt den doofen Grashof am DT aber so was von an die Wand.
Und dann der 3. Akt: Wie Ostendorf nicht einfach nur Matthes-mäßig ableidet, sondern seine Figur langsam in den Wahnsinn kippen lässt - das ist nicht zäh, das ist einfach nur stark. Keiner hat die irre Szene beschrieben, wie Wanja nach seinen beiden Fehlschüssen den immer noch geladenen Revolver an des Professors Kopf hält, um dann ein kindisch-albernes "Peng" herauszuglucksen: Das ist schon jenseits der Verzweiflung, das ist der totale Braincrash.
Goschs Wanja ist schon auch toll, zugegeben. Aber dieser Wanja ist überragend, ein Ereignis. Geht hin, Leute!
da Sie sich als Tschechows Frau ausweisen, gehören Sie wohl zu den Hütern einer bestimmten Tschechow-Tradition. Zu Ihrem kurzen Beitrag folgendes: Ich verbitte mir die Gleichsetzung meiner Person mit der des Regisseurs oder des Dramaturgen. Ich bin ein "echter" Zuschauer, der von der Vorstellung begeistert war - wie übrigens viele andere auch. Und dass Sie mich bitten, meine Begeisterung nicht kundzutun, das ist ja wohl der Gipfel! Ja, dieser Tschechow war durchaus nicht traditionell, da scheinen wir beide einig zu sein. Aber können Sie nicht auch mal argumentieren, warum das nun schlecht gewesen sein soll? Ich habe ja meine Deutung der Aufführung offengelegt - eine nervöse Atmosphäre mündet in einen Exzess des Sichgehenlassens, woraus dann so etwas wie der "Wahnsinn" Wanjas resultiert. Das ist eine Spannungskurve, wie ich sie so noch nicht vorgeführt bekommen habe. Darum finde ich es gut, ja sogar toll. Toll, Frau Knipper, toll! Obwohl ich es nicht selbst inszeniert habe, weil ich das nämlich gar nicht könnte. Jetzt sind Sie dran. Warum ist es doof? Warum ist es schlecht? Sprechen Sie, Frau Knipper, sprechen Sie jetzt!
Bemerkenswert finde ich, dass mir vorgeworfen wird, durch Sprache eine Aufführung vernichten zu wollen, während es der anonyme Beiträger von 9. offenbar darauf abgesehen hat, meine Person durch Sprache vernichten zu wollen. Der Beitrag ist eine einzige große Unterstellung, die mich als genussgeilen Kunstbürger hinstellen soll - verliebt in den Wahnsinn, verliebt in die "Bedienung" meiner künstlerischen Vorstellungen. Gut, vielleicht ist da ja auch was dran: Aber, liebe(r) Anonymus, wie soll es denn sonst gehen. Niemand ist, wenn er ein Kunstwerk anschaut, eine "Tabula rasa", immer steht das Neue in einem Spannungsverhältnis zu meiner "alten" Vorstellung. Das wird auch bei Ihnen so sein, auch wenn Sie das hinter einer seltsamen Schweigeästhetik verstecken wollen.
Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Kunst ein reaktionäres Verbrechen sein soll?
PS Neugierig wäre ich allerdings noch, was die drei Punkte in Kommentar 11 bedeuten? Wurde da Unflätiges zensiert? Das zeigt ja nur, wie unseriös der, der mich des Unseriösen bezichtigt, sich selbst geriert. So ein Arschloch! möchte ich da ausrufen.
Ganz subjektiv, gerade aus der Vorstellung gekommen: ich fand's zäh. All dieses Spektakel - transportiert hat das für mich leider gar nichts. Kein Gefühl. Bei mir kam da nichts an, kein "unglaublich scharfes Bild des Jammers" (Kommentar 6) und auch kein Wahnsinn, nicht mal Melancholie oder Verzweiflung. Dem Wanja habe ich keine Minute des Abends ein Gefühl abgenommen, nichts gespürt. Mit den anderen Figuren ging es mir nicht viel besser. Doch, Astrow hat mir gefallen, in den ruhigen Momenten. Ich glaube weniger hätte mehr sein können.
Oder schauen Sie am besten fern, gehen in eine Revue oder in ein Boulevardstück. das ist alles nicht schlecht. Man unterhält sich und wird intellektuell nicht so sehr gefordert.
Kennen Sie Tschechow. Dem sollten Sie begegnet sein! Oho!
Geht es darum nicht letztenlich im Theater: Unterhaltung? Dazu ist die Kunst doch da - auch die mit intellektuellem Niveau.
Ich glaub' ja kaum dass irgendwer nur für seine Kritiker geschrieben hat bzw. die Menschen, die "Ahnung" haben. Letzteres scheinen eben diese zu Denken. In jeder Hinsicht ein anmaßender Gedanke. Meine Meinung.
Aber mal ganz abgesehen davon geht Dein Kommentar am Kern meiner Kritik vorbei. Ich finde Tschechow an sich nicht zäh - ich persönlich konnte mich nur nicht wirklich mit der Inszenierung bzw. der Darbietung anfreunden.
Und wenn man alle, die sich bisher so begeistert, so empört, so wütend gegen- und miteinander geäußert haben, gemeinsam aus dem Internet ins enttäuschende Leben krabbeln lässt, dann hat man schon wieder das Personal für die zeitgemässe Neubesetzung des nächsten "Onkel Wanja" beisammen. Denn das ist ja die Tragikomödie: Jeder fühlt sich mißverstanden, und jeder redet so verzweifelt, weil er sich verstanden wissen will! Den Vorhang zu - und alle Leiden offen!
Liebe Katharina, gestehe mir, dass ich die Inszenierung grandios fand. So einen betrunkenen zu spielen, sich dann noch in dieser grandiosen Weise ohne Kleidung zu präsentieren und am Ende dennoch eine ernste Nummer hinzulegen, das ist Schauspielkunst. Danke Striesow!!! Das sexuelle Verlangen, das Ostendorf darstellt, ist unglaublich. Er ist fantastisch!!!
Leistung zählt. Bewundert diese doch bitte einmal. Wer das nicht kann und nur sich selbst als Mittelpunkt des Universums sieht, ist einfach beschissen dran. Der sollte aber vielleicht erst einmal etwas leisten. Gefällt mir etwas nicht, halt ich das Maul, weil ich eine gewisse Achtung vor der Leistung anderer habe.
Tudou scheint mächtig geil zu sein. Mit Kritik hat das nichts zu tun, dumme V... Und der Vergleich mit dem Dirndlnamen ist voll daneben. Wenn ich deine ganze verf... Scheiße lese, wird mir übel.
Zum Glück sieht man dich nie im Theater, du Schreibpinsel. Was da deinem Pinsel entspringt ist absolut gequirltes Sauerbier, abgestanden, nervend, ohne Humor und Intelligenz. Versuch doch mal so richtig witzig zu sein.
Übrigens Frauen sind schöner als Männer und sie versüßen das Theater, Hoss, Harfouch, Manzel, Tismer, Angerer (besonders die!!!), Rieger. Willst du noch mehr Namen hören?
Also, ich erwarte deine Antwort, witzig und spritzig!
Was hat das noch mit Theater zu tun. Hier verselbständigt sich was. Das ist interessant. Ich bin auf der Suche nach Material und Text. Vielleicht lesen Sie bald etwas.