Die Uhr tickt

19. August 2023. "Exit above" ist eigentlich eine Regieanweisung aus Shakespeares "Sturm". Anne Teresa de Keersmaeker und ihrer Compagnie Rosas beziehen ihre gleichnamige neue Arbeit auf Shakespeare, aber auch auf die Schönheit und Brüchigkeit menschlicher Existenz, auf sich türmende Katastrophen. Täuscht man sich oder bricht de Keersmaeker den Stab?

Von Elena Philipp

"EXIT ABOVE after the tempest" von Anne Teresa De Keersmaeker und ihrer Compagnie Rosas bei Tanz im August Berlin © Anne von Aerschot

19. August 2023. Abschiednehmen, wenn man als Machthaber alle Fäden in der Hand hält – das ist ein großer Schritt. Prospero wagt ihn, als er auf seiner Insel diejenigen versammelt, die ihn vormals aus Mailand vertrieben haben, um zu verzeihen und sich wieder mit ihnen gemein zu machen: "Exit above" ist eine Regieanweisung aus Shakespeares "Sturm". "Was von Kraft mir bleibt, ist mein, / Und das ist wenig", heißt es im Epilog, nachdem der Meister-Magier und usurpatorische Inselherrscher seinen Stab zerbrochen hat. "EXIT ABOVE after the tempest" heißt nun das neueste Stück der flämischen Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker und ihrer Compagnie Rosas, das sich auf Shakespeares "Sturm" bezieht.

In die Hände klatschend beschwört Solal Mariotte auf dunkler Bühne das Geschehen herauf. Carlos Garbin, dessen E-Gitarren-Rack das einzige Requisit dieses Abends ist, lässt dazu Elektrosounds wabern. Effektvoll bauscht sich ein silbrigweißer Vorhang, wird vom Gebläse der Windmaschine skulptural geformt. Als Block treten die 12 Tänzer*innen auf – und schauen erst einmal nur ins Publikum, bevor sie zum ersten Blues-Song, den Carlos Garbin und die Sängerin Meskerem Mees anstimmen, lange Zeit geradeaus gehen. Vorwärts bis zur Rampe, Kehrtwende, vorwärts bis zur Brandmauer, Kehrtwende. Dann schwingt die rigide Linienform in Kreise aus, die hier, wie meist bei Keersmaeker, auch den Boden zieren.

Die Konstellationen im Ensemble werden variabler. Soli, Duette, Trios kristallisieren sich heraus. Meskerem Mees bannt einen mit einer anfangs verhaltenen, aber klaren Gesangsstimme. Mit Walter Benjamins Engel der Geschichte und den sich unaufhaltsam türmenden Katastrophen beginnt sie den Abend. Dann handeln die Texte bluesgemäß vom Gehen, von Verlust und dem Brüchigen wie der Schönheit menschlicher Existenz. Inselgefühle, die sich durch Musik in einen alle verbindenden, tröstlichen Weltschmerz verwandeln.

Weltschmerz verbindet

Vielsagende Oberteile trägt das Ensemble, stylishe Trikots wie Radrennfahrer, mit Lettern wie auf alten Folianten: "I Cried To Dream Again" oder "There`s Nothing I Can’t Do", es gibt nichts, was ich nicht vermag, ist auf die individuell unterschiedlichen Shirts gedruckt. Manche klingen wie Motivationssprüche oder Einträge im Poesiealbum, andere sind Zitate aus Gedichten – Goethes "über allen Gipfeln ist Ruh" – oder dem "Sturm": "Now my charms are all o’erthrown" oder "I’ll break my staff".

Eingewoben aber werden all diese Slogans in die Songs, die eigens für "Exit Above" entstanden sind. Komponiert hat sie der junge flämische Musik-Shootingstar Mees gemeinsam mit dem Gitarristen der in den 80er Jahren in Brüssel notorischen Rockband TC Matic, Jean-Marie Aerts, und Carlos Garbin, dem in "Exit Above" live performenden Blues-Gitarristen und ehemaliger Rosas-Tänzer.

EXITABOVE Run AnneVanAerschot 8Kreise ziehen: Irgendwann wandert das Ensemble in "Exit above" wie der Zeiger einer Uhr geschlossen über die Bühne im Angesicht der sich türmenden Katastrophen © Anne von Aerschot

"Ich verwandle meine Tränen in Funken aus Feuer“ ist textlich der Kern einer gerappten Wut-Eruption, bei der im Hintergrund kleine Flammen aufleuchten und gleich wieder verlöschen. Pyrotechnik, angelehnt an die magischen Visionen im "Sturm". Ist das bezaubernd oder ein bisschen sehr auf Effekt getrimmt? Beides. Seit Jürgen Goschs habe ich kein so betörend belebtes Biotop mehr auf der Bühne gesehen oder vielmehr: gehört wie in "Exit Above". Rein aus Sounds erschaffen die Tänzer*innen das Tierleben ihrer Insel. Vogelrufe erschallen, es zirpt und raschelt. Da braucht es keine Äste, um "Wald" zu performen. Körper genügen.

Rosas glänzen wie stets als Virtuos*innen ihrer Kunst. Freude schwappt über die ohnehin durchlässige vierte Wand, wenn das Ensemble wie der Zeiger einer Uhr geschlossen über die Bühne wandert und Jacob Storer ganz außen in rasendem Tempo hüpft, springt, rotiert, während Rafa Galdino nah dem Zentrum mit klarem Blick die Gruppe zusammenhält.

Gehen als Tanzen

Anne Teresa de Keersmaeker scheint in "Exit Above" mit leichter Hand diverse Bezüge zu verknüpfen: ihr Interesse am Gehen als Ausgangspunkt des Tanzes, die Frage, wie sie, die ihre Kompanie vor nunmehr 40 Jahren gegründet hat, Anschluss wahrt an zeitgenössische (Tanz-)Entwicklungen oder, anhand des "Sturms", mit welchem Gestus sie ihren Job ausübt. Und als Frage von Macht und Verantwortung: Wie (inter-)agieren wir alle miteinander und mit unserer Umwelt? Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist bei dieser Ausgabe von Tanz im August, deren neuer Leiter Ricardo Carmona programmatisch auf Verbindung setzt, stark zu spüren. Auch Rosas feiern eindrücklich das temporäre Zusammensein.

Fragen kann man an den Abend dabei durchaus stellen. Fügt sich das stimmig oder ist das etwas beliebig nebeneinander gesetzt? Immer wieder denkt man: dieses Duett von Nina Godderis und Solal Mariotte steht jetzt für die Begegnung von Miranda und Ferdinand, oder? Und hier landet gerade die seekranke Neapel-Posse am Strand an – aber warum kommt das Würgen und Erbrechen so spät im Stück? Inwieweit die Shakespeare-Folie und die Szenenfolge korrespondieren, müsste man mit mehr Zeit aufdröseln.

Tanz an Tanz, Song an Song

Eine sich erst im Gespräch mit der Kollegin Astrid Kaminski herausschälende Frage ist auch die, inwiefern es altmodisch ist, Tanz zu Songs choreographieren. Schließlich reiht sich Tanz an Tanz, Song an Song. Oder ist das schon wieder fresh? Das Prinzip von Strophe und Refrain beherrscht noch immer den Pop, um den es in "Exit Above" geht: Den Blues-Stücken folgen Elektro-Dance Tracks mit doppelt so vielen beats per minute, auf die das Rosas-Ensemble hochenergetisch reagiert.

Hier ist jedenfalls nicht mehr nur Anne Teresa de Keersmaekers choreographisches Idiom zu sehen, das mit dem Aufrichten und Fallen, mit der Neigung des Körpers in den Kreis oder der Verspannung weit auseinander liegender Körperteile arbeitet. Durch das kurze Verharren in einer Pose lädt sich bei ihr der Körper mit kinetischer Energie auf, die sich dann eruptiv entlädt – in einer Drehung, einem Sprung oder einer Richtungsänderung. Die Bodenwege ihrer Choreographien sind oft an geometrischen Formen wie Kreis oder Dreieck orientiert – ganz anders als die frontal zum Publikum ausgerichteten, von urbanen Tanzstilen und populären Moves aus Musikvideos durchzogenen Choreos. Keersmaeker scheint wie Prospero ihre Kunst der nächsten Generation zu übertragen.

Den Stab brechen

Die letzte Szene markiert das Zerbrechen des Stabes, mit dem sich Prospero bei Shakespeare von seiner Machtposition trennt. Meskerem Mees vertont mit ihren Kompositionskollegen hier zu zarten, getragenen Klängen den Epilog des "Sturms". Krack - man fühlt bei der synchronen Geste des Ensembles geradezu physisch, wie etwas auseinander geht: Den Stab über uns brechen werden unsere Nachfahren. Wie werden wir gehandelt haben im Angesicht der Katastrophen?

EXIT ABOVE after the tempest
Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker, Musikkomposition: Meskerem Mees, Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin.
Von & Mit: Abigail Aleksander, Jean Pierre Buré, Lav Crnevi, José Paulo dos Santos, Rafa Galdino, Carlos Garbin, Nina Godderis, Solal Mariotte, Meskerem Mees, Mariana Miranda, Ariadna Navarrete Valverde, Cintia Sebők, Jacob Storer, Live-Musik: Meskerem Mees, Carlos Garbin.
Szenografie: Michel François, Lichtdesign: Max Adams, Kostümbild: Aouatif Boulaich, Text: Meskerem Mees, Wannes Gyselinck, Dramaturgie: Wannes Gyselinck, Probenleitung: Cynthia Loemij, Clinton Stringer, Künstlerische Leitung und Planung: Anne Van Aerschot, Assistenz der künstlerischen Leitung: Martine Lange, Technik: Jan Balfoort, Jonathan Maes, Sound: Alex Fostier, Kostüm Koordination: Alexandra Verschueren, Kostümassistenz & Garderobe: Els Van Buggenhout, Schneiderei: Chiara Mazzarolo, Martha Verleyen, Produktion: Rosas.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Deutschlandpremiere am 18. August 2023

www.tanzimaugust.de

Kritikenrundschau

Anne Teresa De Keersmaeker schlage ein neues Kapitel ihres Schaffens auf, schreibt Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (20.8.2023 | €). Die Inszenierung sei nicht nur ein Highlight des Festivals sondern treffe auch den "Zentralnerv der Gegenwart": das Stück sei eine "kunstvolle wie schallende Ohrfeige".

"Ein Tanzabend wie eine Reise," nennt Susanne Gietl De Keersmaekers Inszenierung im nd (20.8.23). Choreografin und Kompanie würden "eklektische, körperlich spürbare Momente" erschaffen.

"Musikalisch ist dieser Abend durchaus beglückend, doch choreografisch überzeugt er nicht", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (20.8.2023). "Die wiederholten Schrittmuster wirken aber eher monoton. Aufgelockert wird das kollektive Schreiten und Laufen durch kurze Duos und Trios. Die Bewegungen sind mal zackig, mal kurvig-kreiselnd, doch sie passen nicht zu den Songs und dem Gesangsstil von Mees."

"Eine Große der Choreografie sucht einen neuen Stil, aber hat ihn (noch) nicht gefunden", befindet Manuel Brug in der Welt (22.8.2023). "Linien werden Kreise, die Formationen variieren. Aber viel mehr wird es nicht. Walter Benjamins 'Engel der Geschichte' wird mal wieder beschworen, alles sinkt, sackt in einem wachen, beschwingten Weltschmerz."

Kommentare  
Exit Above, Berlin: Ungewohnt variantenreich
Bei der belgischen Starchoreographin Anne Teresa De Keersmaeker denkt das Publikum an formstrenge Exerzitien, wie sie ihre Compagnie Rosas zuletzt mit den "Sechs Brandenburgischen Konzerten", die noch von Chris Dercon für die Volksbühne in Auftrag gegeben wurden, mustergültig präsentierte. Natürlich marschieren und schreiten die 12 Tänzerinnen und Tänzer auch diesmal, doch die Formation wird oft ironisch mit kleinen Comedy-Einlagen gebrochen und durch viele Soli aufgelöst.

Ungewohnt variantenreich trumpft de Keersmaeker in ihrer jüngsten Arbeit auf. Den Ton gibt gleich zu Beginn der junge Franzose Solal Mariotte vor, der mit seinen blonden Locken den „Engel der Vernunft“ aus Walter Benjamins Schrift „Über den Begriff der Geschichte“ verkörpert, der als Einleitungstext firmiert. Ihm ist deutlich anzumerken, dass er vom Hiphop und Breakdance kommt. Bei seinem Rosas-Debüt wirbelt er die gewohnte Choreographie gehörig durcheinander. Man kann ihn auch als Luftgeist „Ariel“ aus dem „Sturm“ von Shakespeare interpretieren, auf dieses Spätwerk nimmt schon der Titel des Abends Bezug, weitere Anspielungen zieheh sich durch den Abend.

Die zweite herausragende Protagonistin ist Meskerem Mees, eine junge Songwriterin aus Gent, die auf Folk spezialisiert ist. Sie singt ihre von Robert Johnson inspirierten Kompositionen und wird live vom Gitarristen Carlos Garbin begleitet. Schillernder und freizügiger werden die Kostüme des Ensembles, das sich zu den Pop- und Folksongs in Partystimmung tanzt, immer mittendrin die beeindruckende Stimme von Meskerem Mees, die zwischen Rap und Blues mühelos wechselt und das Bühnengeschehen bestimmt. Die bei Keersmaeker üblichen strengen Formen sind am Ende einer mitreißenden Leichtigkeit gewichen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/12/tanz-im-august-2023-festival-kritik/
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