Flieg, Schmetterling, flieg!

12. August 2023. In der Transgender-Community von Abidjan stieß Nadia Beugré auf ein Nachtleben, das von Diskriminierungen geprägt ist. Bei Tanz im August feiern die ivorisch-französische Choreographin und ihre sechs flamboyanten Performer*innen den Widerstandsgeist und die (Lebens-)Kunst der Verwandlung.

Von Elena Philipp

"phétique (on est déjà né.es)" von Nadia Beugré Libr’Arts bei "Tanz im August" in Berlin © David Kadoule

12. August 2023. Die Party ist in vollem Gange, als sich die Türen des HAU2 öffnen. Melodische, pumpende Beats, Kevin Keno als die Stimmung hoch kochender MC und fünf Tänzer*innen, die beherzt ihre Hinterteile schütteln; was auf Deutsch peinlich klingt, als Performance aber ziemlich mitreißend wirkt. Der Saal kocht, die Performer*innen lassen sich anfeuern und bewundern. Virtuos beherrschen sie den ivorischen Coupé-décalé, einen temporeichen, die Extravaganz feiernden Tanzstil, den hierzulande die Gruppe Gintersdorfer Klaßen und ihre Mitglieder aus Côte d'Ivoire bekannt gemacht haben. Auch im Voguing wurzelt Nadia Beugrés "Prophétique (on est déjà né.es)", das jetzt bei Tanz im August seine Deutschlandpremiere feierte; auf diese Ballroom-Kultur der Schwarzen Communities bezieht sich etwa auch Trajal Harrell. Spektakulär sieht das aus, sind diese Tanzstile doch auf Effekt, Grandezza, Pizzazz getrimmt. Und so schwingen die Hüften, glitzern die Kleider und locken die Blicke.

Aus der Transgender-Community der Elfenbeinküste

Im Kern des Spektakels aber steckt die Selbstbehauptung einer kulturell bedrängten Lebensweise. Queer, nonbinär, genderfluide zu sein, ist in Côte d'Ivoire verfemt. Transfrauen wie sie hier auf der Bühne stehen, werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, übersehen, angefeindet.

Nadia Beugré, die ihre Karriere als Choreographin vor knapp 15 Jahren von der Elfenbeinküste nach Frankreich geführt hat, recherchierte zur Transgender-Community von Abidjan und lernte Menschen kennen, die tagsüber als Friseur*in oder im Schönheitssalon arbeiten und sich nachts in Bars und Clubs in Diven und Queens verwandeln. Hier feiern sie ihre selbst gewählte Identität, die Schönheit ihrer Körper, sexuelle Begegnungen und den Zusammenhalt als Gemeinschaft. "Prophétique" rekreiert die elektrisierende Atmosphäre der geheimen Partys und verstärkt ihre politische Botschaft.

Prophetique1 805 WernerStrouvenDas Ensemble von Nadia Beugré Libr’Arts bei "Tanz im August" in Berlin © Werner Strouven

Als Manifest wird sie von Jhaya Caupenne in eine biographische Erzählung eingeflochten, die ähnlich klingt wie der Text, den Beugré im Programmheft des Kunstenfestivaldesarts veröffentlicht hat. Vom Vater abgelehnt, als Transfrau in Abidjan auf der Straße angegangen, weil sie Händchen haltend mit einem Mann gesehen wurde: Wie soll sie sich bewegen, wie soll sie sprechen, um den Anfeindungen zu entgehen?, fragt Caupenne. Sie greift sich in den Schritt, um eine hypermaskuline Geste vorzuführen, stülpt sich dann eine Langhaar-Perücke auf den Kopf – ist das feminin genug? Gender zu performen jenseits der gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbilder ist bisweilen gefährlich, es erfordert Anstrengung, verheißt aber auch Freiheit.

In rosa Jogginganzug und Hotpants

Medien der Verwandlung sind dabei Make-up und die Kostüme, in "Prophétique" eng anliegende Kleider über knalligen Bustiers und Tangas, ein rosa Jogginganzug bei Jhaya Caupenne oder Hotpants wie bei Taylor Dear. Vor allem aber sind es die Haare – Braids mit flammend roten Spitzen etwa bei Beyoncé –, die der Szenograph Jean-Christophe Lanquetin auch im Bühnenbild aufgreift. Ein Geflecht aus Extensions und Wolle hängt wie ein Wespennest in einer Ecke, wird zu einem Knäuel-Kleid und elegant skulpturierten Rock für Canel, die das Outfit im Voguing-Style wie auf einer Modenschau vorführt.

In einer längeren Szene der dramaturgisch als Nummernrevue gebauten Show bellen und knurren die Performer*innen wie eine Meute Hunde das Publikum an, wütend wie die flamboyante Acauã El Bandide Shereya, die Zuschauer*innen in der ersten Reihe angeht, ob sie ein Problem mit ihr hätten – und die Wut dann mit ihren Kolleg*innen unvermittelt in einen beschwingen Song transformiert.

Gewöhnt Euch daran: Wir sind schon geboren!

Musik quillt aus allen Ritzen in "Prophétique". Ein Lied begleitet die abstrakt angedeutete Arbeit im Schönheitssalon. Das Sextett singt den Soundtrack für seine Tanzeinlagen. Am Schluss greifen die Performer*innen in einem sanften, wie ein französisches Wiegenlied klingenden Gesang noch einmal das Thema des Stücks auf: Flieg, Schmetterling, flieg; wenn du nicht hoch genug fliegst, fangen dich die Kinder. "Attaquer" ist eines der letzten Worte, das in "Prophétique" zu hören ist. Farbenfrohes, flamboyantes Leben ist bedroht.

"Gewöhnt Euch daran: Wir sind schon geboren", lautet das von Jhaya Caupenne vorgetragene emanzipatorische Motto, mit dem Nadia Beugré und die Performer*innen hier der Diskriminierung begegnen. Die normative Kraft des Faktischen wird es richten – und letztlich rechtskonservative Positionen wie die auch hierzulande geführten Debatten über "Gendergaga" oder die populistischen Schmähungen der Dragkultur als "Frühsexualisierung" hinwegfegen. Das ist aus meiner Sicht nicht die schlechteste Botschaft, die man aus einem Tanzstück mitnehmen kann.

 

Prophétique (on est déjà né.es)
von Nadia Beugré Libr'Arts
Künstlerische Leitung: Nadia Beugré, Lichtdesign: Anthony Merlaud, Szenographie: Jean-Christophe Lanquetin, Künstlerische Assistenz: Christian Romain Kossa, Outside-eye: Nadim Bahsoun, Adonis Nebié, Bühne: Jachya Freeth, Sujin Choi, Technische Produktionsleitung: Kevil Pahl, Produktion: Libr'Arts / Virginie Dupray.
Mit: Beyoncé, Canel, Jhaya Caupenne, Taylor Dear, Acauã El Bandide Shereya, Kevin Kero.
Deutschlandpremiere am 11. August 2023
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.tanzimaugust.de
www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Publikumswünsche nach guter Tanzgender-Unterhaltung, das ist schon mit diesem Auftakt klargestellt, werden hier nicht bedient. Oder vielleicht richtiger: Nicht auf die Weise, wie es erwartet wird", so Michaela Schlagenwerth von der Berliner Zeitung (13.8.2023). "Denn das macht 'Prophétique (on est déjà- né.es)' auch klar: Im zeitgenössischen Tanz ist Drag längst zur Konvention geworden." Und so sei die Show eben genau das: "Ein Stück, das auf sehr kluge Weise mit diesen Konventionen hantiert."

Dorion Weickman von der Süddeutschen Zeitung (14./15.8.2023) schreibt: "Kreischen, Kopulieren, Kläffen wie die Hunde, zwischendrin eine Session im Schönheitssalon - ein strapaziöses Geschehen, das exakt die Zerreißproben und Bedrohungsszenarien bebildert, denen Minderheiten sich tagtäglich gegenübersehen."

Sandra Luzina vom Tagesspiegel (14.8.2023) schreibt: "Kurz wird von Anfeindungen und Ausgrenzung berichtet. Doch die trans Frauen wollen sich nicht als Opfer präsentieren, sie wollen vor allem ihre Gemeinschaft und Sexualität zelebrieren. 'Prophétique' ist ein Empowerment für die hinreißenden Performer:innen."

"Die Nachahmung, die Imitation, das ständige Performen unterschiedlicher Rollen, bei Tag und bei Nacht, sie ist in dem Stück von Nadia Beugré ein ständiges Spiel. Es kostet Kraft. Es ist lebensnotwendig. Und es wird von den Darstellenden, die nebenbei auch singen und lautmalerisch Sounds produzieren, mit so viel Parodie und Ironie gefüllt, mit so viel Witz, dass man den bitteren Ernst darin fast vergessen könnte“, schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (14.8.2023).

Kommentare  
Prophétique, Berlin: Schillert in buntesten Farben
Während das Publikum noch seine Plätze suchte, ließ das "Prophétique"-Ensemble zu Voguing und Coupé-décalé bereits die Hüften kreisen, Acauã El Bandide Shereya warf sich ohne Vorwarnung auch bereits einem Zuschauer in der ersten Reihe an den Hals.

Als selbstbewusste Feier ihrer Queerness funktioniert die Show sehr gut. Dass sie bereits da sind und sich nicht länger an den Rand drängen lassen, macht nicht nur der Titel-Zusatz in Klammern deutlich, sondern ist auch die eindeutige Message des 70minütigen Abends. Das Ensemble, das Nadia Beugré im Nachtleben der Côte d’Ivoire castete und nach der Kunstenfestival-Premiere nun erstmals in Deutschland präsentierte, schillert in den buntesten Farben und wirft sich in laszive Posen. Eine zweite Ebene fehlt dieser Show, die ganz vom Charisma der Protagonistinnen lebt und nummernrevue-artig um wenige Leitmotive, z.B. Haarextensions, kreiste.

Ein glückliches Händchen bewies der neue „Tanz im August“-Festival-Kurator Ricardo Carmona mit dem Eröffnungsstück seiner ersten Ausgabe: „Carcaça“ (zu Deutsch „Wrack“ oder „Gerippe“) ist eine mitreißende Produktion von Marco da Silva Ferreira, die am Teatro Municipal do Porto entstand.

Das Spannende an „Carcaça“ ist, wie hier sehr unterschiedliche Stile ineinanderfließen: portugiesische Folklore-Tänze und die Ballroom-Voguing-Urban Dance aus den USA treffen mit großer Selbstverständlichkeit aufeinander. Auf durchgehend hohem Energielevel performen die schillernden Tänzer*innen ihre Choreographien, wechseln mühelos die Stile und überraschen kurz vor Schluss mit einem von der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 inspirierten politischen Manifest.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/12/tanz-im-august-2023-festival-kritik/
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