Die Verzweiflung braucht dich!

12. Oktober 2023. Das gern kolportierte Gerücht, ein René-Pollesch-Abend gleiche dem anderen, stimmte zwar noch nie. Aber natürlich gab es verlässliche Koordinaten: Der Diskurs läuft rund, und ein Spiel dauert siebzig Minuten. Naja, manchmal neunzig. Und diesmal? Funktioniert es so anders, dass man sich fragt: Hey, ist das noch Pollesch? 

Von Christian Rakow

"Fantômas" von René Pollesch an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin © Apollonia T. Bitzan

12. Oktober 2023. Der Schrecken stand allen ins Gesicht geschrieben, in die bebenden Unterlippen, die in Fassungslogkeit gefaltete Stirn – ob des Unerhörten und schlichtweg Ungekannten: Ein Pollesch von zweidreiviertel Stunden Dauer?!? Quasi doppelte Länge? Und ohne Pause? How dare you! Das war vor der Show.

"Die Angst ist das einzige Gefühl, das uns nicht täuscht", sagt Kathrin Angerer bald zu Beginn dieses Abends und holt uns damit also gewissermaßen auf der Höhe unseres Bangens ab. Aber sie spricht die Sentenz so hinreißend unbedarft und mit nur ganz wenig Arglist, dass man schon vermutet: So sehr tief in die Ängste wird's wohl doch nicht gehen.

Der Inspektor ist der Depp 

"Fantômas" – mit diesem Titel seines neuen Stücks verspricht René Pollesch ja auch eher Jux und Tollerei, Verwandlungskunst und ein klein wenig Gangsterflair. Der Mann mit den tausend Gesichtern. In den Filmen mit Louis de Funès war Fantômas so etwas wie das Humor-Eichmaß meiner Ost-Kindheit: bissl Krimi und viel der-Inspektor-ist-der-Depp. Pollesch geht auf ältere Quellen zurück, erzählt unter anderem, wie Fantômas der Guillotine entkommt, im Stummfilm von Louis Feuillade von 1913.

Fantomas 05 805 Apollonia t Bitzan uKlingt irgendwie nach Dostojewski: Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Campbell Caspary und Jan Speckenbach beim Konspirieren in Leonard Neumanns Bühnenbild © Apollonia T. Bitzan

Die Story um "Genie und Verkleidungskünstler" Fantômas wird bei Pollesch, wie gewohnt, geschüttelt und gerührt, mit zahllosen Anspielungen versehen und mit mindestens zwei weiteren Stoffen recht stabil verknüpft: zum einen der Netflix-Serie "The Americans", in der ein russisches Geheimdienstehepaar undercover als amerikanische Durchschnittsfamilie in Washington lebt, zum anderen Andrej Belyjs Roman "Petersburg", in dem im vorrevolutionären Russland ein Bombenattentat geplant wird. Und spätestens wenn Martin Wuttke und Benny Claessens hier als konspirative Bombenleger die Köpfe zusammenstecken, gefilmt von Live-Kameras in einem Hinterzimmer der Bühne, wobei Wuttke wonnig seiner Kettenraucherei frönt und irgendwie nach Dostojewski klingt, dann reibt man sich die Augen: Hey, ist das noch Pollesch?

Die avisierte Spieldauer war ja schon verräterisch. Und wirklich, etwas Dämonisches muss sie aus den vertäfelten Wänden der Volksbühne heraus angekrochen haben, das Castorf hat sie ergriffen. Pollesch fängt an zu gründeln, lässt Dialoge endlos laufen, schlurft mit uns durch sandige Ebenen der Stückentwicklung. Wo er sonst von Gipfel zu Gipfel rast, wo er Darlings zu killen vermag wie kaum ein zweiter. Hier ist's Dehnungsübung.

Die Drehbühne von Leonard Neumann sieht aus, als habe er die hyperrealistischen Wohnräume, die sein Vater Bert dereinst in die Volksbühne baute, entrümpelt und auf ein paar Gerüste verknappt. Was dem KGB-Agentenpärchen (Angerer und Claessens) den schönen Witz ermöglicht, dass man doch wohl kaum im Geheimen leben kann, wenn das Haus nicht einmal Wände hat. "Das riecht nach Sabotage!", jault Claessens auf.

Im Hafen des kalkulierten Unsinns

Vom Leben und Leiden der Verwandlungskünstler erzählt der Abend also, von denen, die das Maß an Unruhe, Aufruhr, Irritation und Risiko einspielen, ohne die unsere "gelebten Leben" bloß blass und schal wären. Und die herrlichsten Momente sind's, wenn diese Irritationen das Schauspielteam selbst erfassen und das Ungeprobte und Fahrige des Abends kenntlich wird. Dann wirft die famose Souffleuse Elisabeth Zumpe zum wiederholten Mal ihre Lotsen-Taue aus, um die Akteure aus weißem Sprechnebel heraus in den Hafen des kalkulierten Unsinns zurückzuholen.

Pollesch hat zwei tolle Youngster neu im Boot: Campbell Caspary, der jüngst schon in Constanza Macras' "Drama" brillierte, und Sonja Weißer, beide in diversen Sidekick-Auftritten, unter anderem als Fantômas-Duo mit schwarzen Umhängen und Catwoman-Appeal (traumwandlerisch sicher zwischen sexy und ur-ulkig: das Kostümbild von Tabea Braun). Sie umspielen das Triumvirat, das den Abend dominiert: Benny Claessens, stets am Rande des Nervenzusammenbruchs tänzelnd, Kathrin Angerer als Agentin mit Sinn für abgründige Dialektik – "Wir erzählen ja nicht aus Angst. Sondern wir erzählen aus Angst nicht" – und Martin Wuttke, der zumeist als FBI-Kommissar mit einer Browning in der Hand umherstakst und zum Höhepunkt des Abends eine irre Nummer abzieht: Die Verwandlungskünste des Fantômas – alle Gesichter, alle Körperhaltungen, alle Körpergrößen, alles aus dem Stegreif gespielt. Minutenlang. Wahnsinn. Die Leute schmeißen sich weg, im Hintergrund beölt sich Claessens und japst nach Luft. Muss man gesehen haben.

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Neu im Pollesch-Boot: Sonja Weißer unter dem Kostüm von Tabea Braun © Apollonia T. Bitzan

Also die Nummern sitzen, und da kann man auch mal Ebbe aushalten. Eigentlich. Aber doch hat der Abend etwas aus der Zeit Gefallenes. Er zehrt vom Kräftepatt des Kalten Krieges, im Fernsehen läuft Ronald Reagan, der KGB taugt als harmloser Gag-Lieferant. Die vor-revolutionären russischen Bombenbastler des Stücks wirken blind für den Imperialismus, den Putins Regime wiederbelebt. Und wenn Kathrin Angerer einmal das Wort "Terror" schwer über die Lippen kommt, dann zuckt man jäh zusammen, in diesen Tagen, da die Hamas die israelische Zivilbevölkerung mordet und in Geiselhaft nimmt. Weil das Stück tatsächlich so wenig Resonanz bietet, weil es so unterbelichtet scheint im Angesicht der Wirklichkeit.

Verlust von Gewissheiten

Vor einem Jahr, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, hatte Pollesch gemeinsam mit Fabian Hinrichs in "Geht es dir gut?" vielleicht als erster einen Ausdruck für das gefunden, was diese Zeit mit uns macht. Ein Gefühl für den tiefgreifenden Verlust von Gewissheiten. Heute mit "Fantômas" wirkt er verhuscht, verdruckst, hat den Kopf eingezogen, rettet sich in Taschenspieltrickserei. Einmal flackert etwas auf: "Die Verzweiflung braucht dich, Clowns wie dich", sagt Kathrin Angerer am Schluss über Fantômas und überhaupt die Unfassbaren, die die Umwertung der Werte antizipieren. Sie spricht es mit großem Ernst, und dann schluckt ein letzter Mummenschanz sie weg. Vom Tonband läuft der gute alte Peter Gabriel "Games without frontiers, war without tears". Spiele ohne Grenzen, Krieg ohne Tränen. Wunschmusik. Aus den Tagen, als Konflikt noch Show war. Lange her.

 

Fantômas
von René Pollesch
Text und Regie: René Pollesch, Bühne: Leonard Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Videokonzeption: Jan Speckenbach, Kamera: Marlene Blumert, Jan Speckenbach, Licht: Frank Novak, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Kathrin Angerer, Campbell Caspary, Benny Claessens, Sonja Weißer, Martin Wuttke.
Premiere am 11. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

"Es ist nicht zu fassen, wie es das Theater schafft, sich immer wieder selbst zu unterbieten", stöhnt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (online 12.10.23). Dass er pausenlose drei Stunden dauere, sei bereits die einzige Neuigkeit an diesem jüngsten "und am ersten Abend schon in die Jahre gekommenen Pollesch". Daran, dass "es hier eine Story gibt, ein Thema, einen Diskurs, irgendeinen Punkt jenseits des Gezappels und Gequatsches" sind aus Sicht des Kritikers starke Zweifel angebracht. "Niemand erwartet einen Kommentar zu Putins Terrorkrieg in jedem Bühnengeschehen", urteilt er. "Aber flache Sprüche zum Russland-Komplex will man jetzt auch nicht hören. Das ist peinlich bis unanständig, das tut weh und ist weit entfernt von Castorfs Amoralität, die ein provokantes Gesprächsangebot war, das man kaum ablehnen konnte." Fazit: "Das sieht nicht wie Zukunft aus. Und auch nicht wie Gegenwart", die Volksbühne zeige sich vielmehr als "ein Gesepnst ihrer selbst".

Wenn "Fantômas"-Erfinder Marcel Allain noch am Leben wäre, mutmaßt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 12.10.23), würde er die Volksbühne und René Pollesch "in Grund und Boden klagen". Denn der Regisseur und Autor gebe "'Fantômas' nicht nur der Lächerlichkeit preis, sondern noch schlimmer: der zermürbenden Langeweile". Das Ensemble stelle "in erster Linie seine eigene Verwirrung zur Schau" und traktiere die Souffleurin. Für "die gelungene Zuschauerperformance" künftiger Besucherinnen und Besucher hat der Kritiker außerdem einen praktischen Tipp parat: "Wenn Wuttke Nietzsche in die Kamera sagt, ist in ein warmes kenntnisreiches Lachen auszubrechen." Nicht nötig "und eigentlich auch unzulässig" seien hingegen "Bezüge zur leider unschönen Gegenwart, die die selbstreflektierte Kunstausübung an diesem Haus gerade mit den überaus plumpen Ereignissen der jüngsten Tage nur stören würde und intellektuell einfach nicht mithalten kann." 

Polleschs neuer Abend wirkt auf Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (online 12.10.2023) "wie eine einzige, recht gelungene Parodie der Ästhetik und der Themen des Castorf-Theaters, einschließlich der etwas mühsamen Überlänge". Und weiter: "Weil Pollesch immer gerne Theater über Theater macht, Theater hoch zwei sozusagen, spielt er gekonnt mit den Verwandlungsmotiven der falschen Identitäten, des Tarnens und Verstellens".

"Produktive Irritationen in homöopathischen Dosen. Und mittendrin als Highlight der Wuttke-Slapstick, wegen dem die Inszenierung zu einem Renner werden wird", prophezeit Katja Kollmann in der taz (13.10.2023). "In seinen besten Momenten wirken Polleschs Texte wie frischer Wind, der beim Zuhören alle Fasern neu aufstellt. Das gelingt ihm nicht jedes Mal, nicht bei jeder Inszenierung, aber definitiv mit 'Fantômas'", so die Kritikerin.

Auf Simon Strauß von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.10.2023) wirkt der neue Pollesch "seltsam altmodisch". Von "nostalgischer Castorf-Sehnsucht" verrate das Ensemblespiel etwas; es fehle an "Lebendigkeit". Und: "Nicht nur beim läppischen Diskursgeplänkel über das Wort 'Terror' – 'das Wort sagt mir nichts', nuschelt Angerer – geht einem die Leichtfertigkeit der Reflexionsreflexe mit Blick auf den gegenwärtigen Terrorschock im Nahen Osten contre cœur."

Trotz einiger Szenen, in denen "Erinnerungen" an frühere Zeiten aufblitzen, "in denen Vehemenz und Humor auf dieser Bühne zusammentrafen", ist der Fantômas-Abend für Michael Wolf im nd (13.10.2023) im Ganzen recht "zäh" und "eine der schwächeren Pollesch-Inszenierungen der letzten Jahre". Für das Publikum gabe es "das Altbekannte": "ein typischer Pollesch. Sein hochkarätiges Ensemble redet sich routiniert um Kopf und Kragen, die Live-Kamera verfolgt sie durch enge Räume, man wütet, staunt und jammert mit großer Ausdauer."

Kommentare  
Fantômas, Berlin: Inseln im öden Wortschwall
Für Frank Castorfs Maßstäbe sind knapp drei Stunden zwar immer noch Kurzstrecke. Aber René Pollesch orientiert sich diesmal recht deutlich an seinem Vor-Vor-Vorgänger als Intendant am Rosa-Luxemburg-Platz. Das Publikum braucht nicht nur doppelt so viel Sitzfleisch wie üblich, er zitiert auch die elend langen Live-Video-Szenen von der Hinterbühne: Vor allem Martin Wuttke und Benny Claessens mäandern durch endlose Mono- und Dialoge, die aus den entlegenen Winkeln von Leonard Neumanns Bühne übertragen werden.

Außerdem ließ sich Pollesch von Castorfs Vorliebe für russische Wälzer aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anstecken: „Petersburg“ von Andrej Belyi wird in der Liste der Werke genannt, die diesen Abend inspirierten und von denen viele Zuschauer wohl das erste Mal hören. Dem russischen Symbolismus sei dieses Werk zuzuordnen, klärt Google auf.

Besonders erhellend ist dieser Hinweis nicht, denn die Stränge, die Pollesch und sein Team munter verknäuelten und mixten, lassen sich kaum entwirren. Erkennbar ist noch, dass Kathrin Angerer und Benny Claessens als russische Agenten chargieren und ihre Figuren aus der Serie „The Americans“ (2013-2018), weitere Anspielungen gibt es auf „Irma Vep“ (2022) von Olivier Assayas und die „Fantômas“-Serie von Claude Chabrol/Luis Buñuel. Ganz oben steht Uwe Nettelbecks „Fantômas – Eine Sittengeschichte“, das im kleinen Verlag seiner Frau erschien und nur noch antiquarisch zu bekommen ist: der Gerichtsreporter der ZEIT hatte sich mit der Redaktion überworfen und verfasste anschließend materialreiche, assoziative Texte, die auch nur den wenigsten bekannt sein dürften.

Die wesentlich populärere mehrteilige „Fantômas“-Kino-Reihe, in der Jean Marais als Gangster den trotteligen Inspektor (Luis de Funès) regelmäßig düpierte, taucht im Begleitmaterial nicht auf. Eine kleine Andeutung an den typischen de Funès- „Ja! Nein! Doch!“-Humor gibt es in der Szene, in der Kathrin Angerer mehrfach entrüstet abstreitet: „Ich hab nicht düster gekuckt!“ und ihr die Männer widersprechen.

Diese Slapstick-Nummern sind kurze Inseln im öden Wortschwall. Den größten Applaus bekommt natürlich Martin Wuttke für eine mehrminütige Performance, in denen er die Wandlungsfähigkeit des „Fantômas“-Gesichts plastisch schildert. Symptomatisch für das Scheitern dieses zähen Abends ist allerdings, dass sie viel, viel kürzer ausfiel als noch in der Presse-Fassung des Stücktexts abgedruckt. Wuttke hangelte sich mit Hilfe der bewährten Souffleuse Elisabeth Zumpe durch eine gekürzte Version, die er vorzeitig abbrach.

Dieser „Fantômas“ polarisiert sein Publikum: viele strebten zur Tür, die unter strafenden Blicken von Wuttke/Claessens laut krachend zufiel. Die eingefleischten Fans jubelten den Kabinettstückchen ihrer Lieblinge Angerer/Claessens/Wuttke zu, die von zwei Side-Kicks in Tabea Brauns Fantômas-Ganzkörper-Kostümen begleitet wurden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/12/fantomas-volksbuehne-theater-kritik/
Fantômas, Berlin: Das Schlimmste
das Schimmste aber: (....)

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Fantômas, Berlin: Schnell, genau und interessant
War wieder schnell, genau und interessant
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