Mit Galilei im Ohr

17. Juni 2023. Die Berliner Volksbühne öffnet Türen und Herzen für die Letzte Generation, und Ensemblemitglieder von Kathrin Angerer bis Sir Henry mischen sich unter die Aktivist*innen. Wie lässt sich das Schlimmste in der Klimakrise eindämmen? Das ist an diesem großen Solidaritätsabend die gigantische Frage.

Von Christian Rakow

"Hausbesuchung durch Letzte Generation. Hoffnung oder Ohnmacht" – Die Berliner Volksbühne lädt zu einem solidarischen Abend ein © David Baltzer / bildbuehne

17. Juni 2023. Während zum ersten Mal seit Wochen Regen auf Berlin nieselt. Während der Qualm über den abgebrannten Wäldern beim brandenburgischen Jüterbog langsam abzieht. Während die bundesdeutsche Regierung ihr Klimaschutzgesetz empfindlich aufweicht. Während der ganzen Menschheit noch 6 Jahre 1 Monat 5 Tage 14 Stunden 53 Minuten Zeit verbleiben, um die Erderwärmung auf das Pariser Ziel von 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Während die "Letzte Generation" mit zivilem Ungehorsam die heranrasende Klimakatastrophe ins Bewusstsein hämmert. Während Teile der Politik sie dafür als "kriminelle Vereinigung" einstufen wollen und die Polizei Akteur*innen vor Demos in Präventivhaft nimmt. – In diesem Juni 2023 also öffnet die Berliner Volksbühne der Letzten Generation die Türen. Zur "Hausbesuchung".

Beklemmende Zeugnisse der Klimakrise

Mit dem Titel reagiert die Volksbühne direkt auf die Hausdurchsuchungen, mit denen die Aktivist*innen jüngst landesweit konfrontiert waren. Der Abend "Hausbesuchung durch Letzte Generation – Hoffnung oder Ohnmacht!" ist eine Solidaritätsbekundung und will auch nicht mehr als das sein. Dramaturgin Sabine Zielke begrüßt die Aktivist*innen im Namen der Intendanz. Aus dem Ensemble mischen sich Margarita Breitkreiz, Kathrin Angerer, Franz Beil, Sir Henry und Silvia Rieger mit den Aktivistinnen, und alle tragen der Reihe nach an einem Stehpult beklemmende Zeugnisse der Klimakrise vor: Leidensworte von Aktivist*innen der Philippinen und Indonesiens, Botschaften vor Gericht und aus der Haft von Mitgliedern der Letzten Generation, Mahnreden von Filmemacher David Attenborough oder UN-Generalsekretär António Guterres.

Deutschland. Die Volksbuehne Berlin veranstaltet mit den AktivistInnen der Klimaschutzgruppe - Letzte Generation - auf der grossen Buehne: HausBesuchung Durch Letzte Generation Hoffnung oder Ohnmacht! . Hier Lesung mit SchauspielerInnen: Kathrin Angerer, Silvia Rierger u.a.. Nach der Lesung Gespraeche in den Foyers. Aktuelle Forderung: Ein Gesellschaftsrat soll die Regierung verbindlich zum Klimaschutz beraten. Sie werfen der Regierung Verfassungsburch in der Klimafrage vor. Sie wollen mit entschlossenen Aktionen Zivilen Widerstandes u.A. mit Blockaden der Verkehrsinfrastruktur, Druck auf die Bundesregierung ausueben damit diese mit erneuerbaren Energien eine krisenfeste Wirtschaft aufbaut. Engl: The German climate protection group Letzte Generation continues its road blockades that began in 2022. From February 2023 across Germany. They demand a society council, which is to require the government binding action for the protection of the natural bases of life, see Basic Law Article 20A.  demonstration, protest, climate justice, climate protection. One of berlin's big theater venues, the Volksbühne invites the AKtivistinnen der Letzten Generation for a joint event on their big stage.  copyright: fritz engel / archiv agentur zenit. Im Klimakrisen-Diskurs © David Baltzer / bildbuehne

"Klimaaktivisten werden manchmal als 'gefährliche Radikale' dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen erhöhen." Dieses berühmte Diktum von António Guterres steht als Credo über dieser Zusammenkunft. Die von außen betrachtet radikalen Alltagsstörungen der Letzten Generation ("Klimakleben" für Verkehrsstaus, Tomatensauce-Attacken auf Museumsbilder, Farbwürfe gegen Privatflieger etc.) sind ja stets auf die zugrundeliegenden Inhalte ausgerichtet und münden in Talkshow-Auftritte oder Vorträge in städtischen Museen und Kulturhäusern, wo es dann klimawissenschaftlich bestens unterfüttert zur Sache geht. Im Geiste dieser begleitenden Diskursarbeit verläuft der Volksbühnen-Abend.

Graswurzel-Klimapolitik und Empowerment

Im Mittelteil darf das Publikum, angeleitet von der Künstler*innengruppe "Ministerium für Mitgefühl", paarweise über Aspekte einer Graswurzel-Klimapolitik oder über das eigene Empowerment diskutieren. Final gibt es noch einige Erlebnisberichte von Aktivist*innen, die unter dem Druck der politischen Inkriminierung standhaft bleiben (mit dabei am Rednerpult: Irma Trommer, die unlängst auf nachtkritik.plus mit mir über Junges Theater in der Klimakrise diskutierte). Und dann geht es zur Aftershow mit Diskussionsständen im Foyer.

Deutschland. Die Volksbuehne Berlin veranstaltet mit den AktivistInnen der Klimaschutzgruppe - Letzte Generation - auf der grossen Buehne: HausBesuchung Durch Letzte Generation Hoffnung oder Ohnmacht! . Hier Lesung mit Schauspielerinnen: Kathrin Angerer u.a.. Aktuelle Forderung: Ein Gesellschaftsrat soll die Regierung verbindlich zum Klimaschutz beraten. Sie werfen der Regierung Verfassungsburch in der Klimafrage vor. Sie wollen mit entschlossenen Aktionen Zivilen Widerstandes u.A. mit Blockaden der Verkehrsinfrastruktur, Druck auf die Bundesregierung ausueben damit diese mit erneuerbaren Energien eine krisenfeste Wirtschaft aufbaut. Engl: The German climate protection group Letzte Generation continues its road blockades that began in 2022. From February 2023 across Germany. They demand a society council, which is to require the government binding action for the protection of the natural bases of life, see Basic Law Article 20A.  demonstration, protest, climate justice, climate protection. One of berlin's big theater venues, the Volksbühne invites the AKtivistinnen der Letzten Generation for a joint event on their big stage.  copyright: fritz engel / archiv agentur zenit. Volksbühnen-Schauspielerin Kathrin Angerer mischt sich unter die Aktivist*innen © David Baltzer / bildbuehne

Wie schult man das Herz? Wie können wir die so fern scheinenden Auswirkungen der Klimaverwerfungen heute und hier zu fassen kriegen? Und wie lässt sich das Schlimmste eindämmen? Die Fragen ziehen sich durch den Abend. Mir scheint, Yael Ronen hat mit "Planet B" unweit der Volksbühne am Maxim Gorki Theater gerade einen todtraurigen und zugleich hinreißend komischen Abend über das Artensterben im Anthropozän vorgelegt. Ein Theater, das sinnlich die Krisenlage bewusst macht und Widerstände aktiviert. Der Volksbühnen-Abend bietet flankierend dazu Logos pur, die Kraft des Arguments und Narrative des gelebten Engagements. "Keine Macht der Ohnmacht!", sagen sie und öffnen die Arme für potentielle Mitstreiter*innen.

Sieg der Vernunft, Sieg der Vernünftigen

Im Grunde wiederholt sich in unseren Tagen das Drama des Galileo Galilei, des Astrophysikers vor der Inquisition. Alle Einsichten liegen vor, aber das Ancien Regime wehrt sich mit Zähnen und Klauen. Werden die falschen Leitbilder des fossilen Zeitalters rechtzeitig überwunden? Wie der junge Forscher Andrea Sarti am Schluss des "Galilei"-Dramas von Bertolt Brechts schleichen die Aktivist*innen der Letzten Generation umher. Die Schriften nah am Herzen, die Autoritäten im Nacken. Und Galileis Worte im Ohr: "Es setzt sich nur soviel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein."

 

Hausbesuchung durch Letzte Generation. Hoffnung oder Ohnmacht!
von Letzte Generation und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin
Mit: Anna Gesewsky, Mathilde Irrmann, Annika Schaper, Raúl Semmler, Solvig Schinköthe, Lilly Marlen Stolze, Tim Wechselmann-Cassim Irma Trommer von der Letzten Generation, Lukas Popp am Klavier und den Schauspieler*innen der Volksbühne Margarita Breitkreiz, Kathrin Angerer, Franz Beil, Sir Henry und Silvia Rieger. Grußwort von Sabine Zielke.
Sprechstunde des Ministeriums für Mitgefühl um Svenja Bungarten, Daniela Dröscher, Jelena Jeremejewa, Maria Milisavljevic, Mehdi Moradpour, Thai Thao Tran.
Event am 16. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr zum Themenfeld:

Kritikenrundschau

An diesem Abend würden "keine Argumente vorgetragen", findet Erik Zielke im nd (18.6.23). Stattdessen beschwöre man die Katastrophe und zeige sich wissend, wie man ihr zu begegnen habe. "Politik mit der Angst zu machen, ist aber immer, auch mit dem besten Anliegen, eine zwiespältige Angelegenheit", argumentiert der Kritiker und zieht das Fazit: "Einigermaßen ratlos entlässt einen eine solche Veranstaltung in die Nacht."

"Zweifel, Widerspruch und Debatte sucht man an diesem Abend vergeblich", schreibt Marie-Luise Goldmann in der Welt (17.6.23). Es fehlte an "fundierter Kontroverse" ebenso wie an "nachwirkenden Aufrüttel-Momenten im Stil von Greta Thunbergs ‚ How dare you!`". Fast hoffe man, "es möge gleich noch einen Rainald-Goetz-Moment geben, irgendetwas, das die Selbstgewissheit dieser Blase Gleichgesinnter sprengen könnte", so die Kritikerin. "Aber dafür muss man wohl auf die Straße."

"Verzweiflung und ein Gefühl der Ohnmacht (...) bringen Aktivistinnen und Aktivisten dazu, sich mit den Händen auf der Straße festzukleben, sich von wütenden Autofahrern beschimpfen, bespucken und manchmal massiv attackieren zu lassen", das entnimmt Hans Ackermann von rbb|24 (17.6.2023) den Textzeugnissen, die an diesem Abend vorgetragen werden.

"Eine Kirchentagsatmosphäre liegt über dem Saal, eine Einigung bei der moralischen Verpflichtung zur Solidarität mit der jungen Bewegung", berichtet Eberhard Spreng auf Deutschlandfunk (17.6.2023) und hätte sich in der Sache "etwas mehr zusätzliche Expertise gewünscht", etwa durch Konfliktforscher, Sozialpsychologen oder einen Anwalt wie Gregor Gysi, der Aktivist*innen der letzten Generation vor Gericht vertritt. "So blieb der Abend an der Volksbühne im Kern eine Rekrutierungsveranstaltung für künftige Aktionen."

Kommentare  
Hausbesuchung, Berlin: Das Aussehen der Alten
Im Gegensatz zu den vermeintlich diskutierbaren Genderdebatten und dem konservativen Identitätspolitikendiss sehen die Alten in der Klimakrise und angesichts des Protestes der Letzten Generation wirklich alt aus. Da gelingt es den Rechten keinen Tritt zu finden und keine zusammenfantasierte Opposition. Nur Leugnung eben.
Kommentar schreiben