Bitte nicht über die Gedankenschleifen stolpern!

3. Dezember 2022. René Pollesch erforscht die Historie des Hauses, dem er jetzt als Intendant vorsteht, und guckt also in die Anfangsjahre der Volksbühne unter Benno Besson und dessen Begegnung mit dem Arbeitertheater des PCK Schwedt. Ein absurder Spaß mit Franz Beil, Martin Wuttke und Milan Peschel.

Von Gabi Hift

"Und jetzt?" von René Pollesch mit Franz Beil, Martin Wuttke und Milan Peschel an der Berliner Volksbühne © Apollonia T. Bitzan

3. Dezember 2022. "Und jetzt?" Gute Frage, denken sich bestimmt viele im Publikum, in unserem Leben sowieso, aber auch gut, dass sich die Pollesch-Truppe das einmal selbst fragt. In den letzten Monaten wurden Publikum und Kritik schon langsam unwirsch. Das ewig gleiche lässige Jonglieren mit den neuesten Mode-Diskursen wurde weniger gnädig aufgenommen, seit René Pollesch kein antibürgerlicher Trabant der Theaterwelt mehr ist, sondern nun selbst im Zentrum sitzt, als Chef von dem Riesending in Mitte.

Die Magie des Repertoiretheaters

Aber noch ist die Bühne menschenleer, ein nebliges melancholisches Universum, erschaffen von Anna Viebrock, von der man hier so viele wunderbare Marthaler-Welten gesehen hat und die nun schon im dritten Jahr mit Pollesch fremd geht. Man schaut auf ein hyperrealistisches, heruntergekommenes Freibad, an den Seiten verrostete Tribünen, hinter dem zweiten Becken ein Podium mit Mikrofon. In dieser Spielzeit scheint es in allen Stücken Schwimmbecken zu geben. Das hier ist das geheimnisvolle, stille Gegenstück zu Florentina Holzingers explosiver, glamouröser Wasserwelt. Hier sind die Schwimmbecken leer, die blaue Farbe abgeblättert. Dass sich zwei so unterschiedliche, märchenhafte Schwimmbadwelten am selben Ort entfalten, ist die Magie eines Repertoiretheaters. Das ist schön.

Und jetzt 3 Apollonia T Bitzan uIm Bühnenraum von Anna Viebrock: Martin Wuttke, König der Schwadroneure © Apollonia T. Bitzan

Das Freibad ist der Freizeitbereich des Petrolchemischen Kombinats (PCK) Schwedt. Hier spielt die Pollesch-Truppe die Spieler des Arbeitertheaters, die gerade Gerhard Winterlichs Stück "Horizonte" proben. 1968 hat diese Aufführung DDR-Theatergeschichte geschrieben. Es geht darin um die Einführung der Kybernetik, angelehnt an die Handwerkerszenen in Shakespeares "Sommernachtstraum". 1969 adaptierte Heiner Müller das Stück, und Benno Besson eröffnete damit seine Intendanz an der Volksbühne. Das wurde ein totaler Flop. 2020 machten andcompany&Co ein eigenes Stück darüber im Berliner HAU, unter Mitwirkung der Darsteller:innen vom Arbeitertheater von damals.

Nun also die vierte Runde von Pollesch.&Co. Aber etwas Neues ist dazwischengekommen: Die Raffinerie Schwedt ist zurzeit jeden Tag in den Nachrichten, sie produziert 10% der deutschen Treibstoffe. Das Rohöl kommt seit den 60er Jahren über die "Erdölleitung der Freundschaft" aus Russland. Und diese "Druschba"-Pipeline soll im Zug des Ölembargos Anfang 2023 stillgelegt werden. Pollesch hat sich diesmal ein Thema mit tagesaktueller politischer Dringlichkeit ausgesucht, das weit über die Frage hinausgeht, wie man heute noch politisches Theater spielen kann. Oder zumindest denkt man das am Anfang.

Was sind denn die Missstände?

Auftritt Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil in Arbeiteroveralls. Wuttke schwingt einen Schlagstock. Sie scheinen bereit, jetzt mal richtig was losgehen zu lassen. Sie fläzen sich in Plastikstühle, Peschel erzählt, wie es so war mit Agitprop in seiner Jugend: arrogant, aber das hatte eben "Wumms". Und schon ist man beim Thema, genau: Wumms ist es, was Pollesch Sachen schon seit einer Weile fehlt. Ein paar Leute klatschen, "Wumms" trifft es genau. Wuttke erzählt, wie er bei einem Gewitter gedacht hat, würde so ein Blitz doch endlich mal blitzartig auf Missstände reagieren, wie im Agitproptheater. Und wie er dann nachdachte: Was sind denn die Missstände? Und da schlug der Blitz direkt in ihn ein, behauptet er. Auch Peschel will vom Blitz getroffen worden sein. Und so müsse auch das Denken sein, ein Denken, das einen zerreißt.

Und jetzt 1 Apollonia T Bitzan uBunte Hunde: Milan Peschel, Martin Wuttke und Franz Beil in Kostümen von Tabea Braun © Apollonia T. Bitzan

Sensationell ist, was diesmal alles wegfällt, was sonst für Pollesch-Stücke typisch ist: Die drei sind keine Mischung aus den Schauspielern und den Figuren, nein, nach dem Anfang bewegen sie sich als Arbeiterspieler im Jahr 1968. Sie nennen sich nicht mit ihren echten Namen wie sonst, Wuttke und Peschel sind einander "Klaus" und "Heinz". Über die heutige Lage in der Raffinerie Schwedt wird kein Wort verloren. Es fällt auch kein Wort über den Klimawandel, kein Wort über den Krieg, und nur eine kleine Randbemerkung darüber, dass so viele unterschiedliche Geschlechter unendliche viele Kombinationen an Liebesmöglichkeiten ergeben könnten. Diese Figuren haben keine allerneuesten Theorien studiert. Nein, hier dienen die großen alten Themen von Zufall und Notwendigkeit einzig und allein der Kreation von absurder Komik.

Die großen Wendungen kommen von der Bühne. Plötzlich fallen Dutzende Stoffbahnen aus dem Bühnenhimmel und bilden einen Birkenwald, den Wald des "Sommernachtstraum". Die Arbeiter verwickeln sich im landläufigen Theater-Aberglauben, man dürfe den Titel "Macbeth" nicht aussprechen, dann träfe einen der Blitz. Prompt passiert es: Wenn jemand "Macbeth" sagt, donnert es und der Blitz erwischt ihn. Dieser running gag läuft und läuft – endlos,wie früher bei Castorf. Nach dem zehnten Mal hört man auf zu lachen und dann geht es solange weiter, bis das Lachen wieder anfängt.

Winterliche Stimmung

Dann beginnt es zu schneien – der Bühnenmeister hat missverstanden, dass sie dauernd von "Winterlich" reden, aber den Menschen meinen und nicht eine Stimmung. Die Drehbühne beginnt sich zu drehen und die Birkenwald Stoffbahnen wehen im Schnee, wischen über die Tribünen wie Geisterbäume. Ein wunderbar poetisches Bild.

Der Schnee schmilzt weg, und Wuttke schraubt sich in einen gigantischen Monolog über den Zufall und die Genese des menschlichen Lebens hinauf, der durch die Komik der Gedankenverknotung bezaubert. Wenn vieles, vielleicht das Wichtigste, Zufall ist, dann gibt es auch keine Ursache und Wirkung mehr, keine Notwendigkeit zu handeln. Kein Theater. Was noch zählt, ist das Vergnügen beim Sich-Verwickeln in die eigenen Gliedmaßen, beim Stolpern in den eigenen Gedankenschleifen.

Milan Peschl ist der graziöseste lustigste Slapsticker, keiner stürzt über Rampen und Stühle wie er, Martin Wuttke ist der König der Schwadroneure, hypnotisiert und begeistert vom wilden Ritt seiner eigenen Gedanken (und im angedeuteten Sommernachtstraum ein perfekter Zettel, der über seinen eigenen Monolog ehrfurchtsvoll sagt: "das war tief!") Franz Beil gibt mit mittlerem Erfolg einen Einfaltspinsel von Nachtwächter, dem sie erzählen müssen, welches Stück sie hier proben, und lässt sich gutmütig von den beiden an die Wand spielen. Überhaupt gibt es zwischen den dreien keine Konkurrenz, keine Statusunterschiede, keine Absichten. Was es im Leben kaum zu geben scheint, hier existiert es: Sie wollen nur spielen und sie wollen es gemeinsam. Das ist manchmal enorm komisch, dann wieder langweilig, und immer ist man gern dabei, mit all den Menschen im Saal und diesen existentiellen, absurden Komikern, verwickelt in einen Traum von einer Welt des Spiels. Wie wenig sich die Truppe von einer Öffentlichkeit unter Druck setzen lässt, die von ihnen erwartet hätte, jetzt doch etwas mit mehr "Wumms" zu präsentieren, ist beeindruckend. Ihr Eigensinn, diesmal ganz ohne die sonstige Arroganz, versöhnt mit allem und lässt sie einem ans Herz wachsen.

 

Und jetzt?
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Anna Viebrock, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Johannes Zotz, Ton: Klaus Dobbrick, Mitarbeit Bühne: Anna Brotankova, Dramaturgie: Leonie Hahn, Horizonte Idee: andcompany&Co.
Mit: Franz Beil, Milan Peschel, Martin Wuttke, Soufflage: Deborah Herold.
Premiere am 2. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

Es gehe dem Dialektiker Pollesch nie nur ums gute Funktionieren, "sondern darum, das Theater gegen alle Erwartungen zu bürsten, das 'größtmögliche Paradox' darin zu denken, wie Martin Wuttke später rufen wird, und genau das auch zu inszenieren". Das tue Pollesch mit dem verschachtelten Arbeitertheaterabend auf schillernde Weise und er unterlaufe zugleich auch wieder jeden Druck damit, schreibt Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (4.12.2022). "Ein bizarrer Abend, der selbst nicht weiß, wo und wann er spielt, aber wie immer bei Pollesch Blitze austeilt, die befreien."

"Schade ist, dass der Text die Geschichte, wie sich das Theater der DDR um Volksnähe mühte, nur für ein paar Stichworte benutzt, um sich in selbstreferentiellen Spiralen über Sein und Schein zu verlieren", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (5.12.2022). "Wie die Künstler das Theater verließen, um das Leben zu suchen, ist die eine Legende hinter dem Stück. Aber weil bei René Pollesch das Leben selbst immer schon von einer Nachahmung der Kunst infiziert ist und so was wie Authentizität die größte Fiktion von allen ist, können sie eben auch gleich drinnen bleiben und über die Regeln ihres Spiels reflektieren." Das könnten sie gut und witzig bei Pollesch, "aber das brauchte er eigentlich nicht noch mal unter Beweis zu stellen."

"Dass die Diskursdichte diesmal weniger hoch ist als in anderen Pollesch-Stücken, passt ebenso zum Thema der entschleunigten DDR wie zu jener (Denk-)Pause, die der Abend leitmotivisch beschwört", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (5.12.2022) und hebt "die für Pollesch-Abende seltene Gelegenheit" für die Schauspieler, "fast so etwas wie Charakterskizzen zu entwickeln" hervor: "Eine große Zuschaufreude!"

André Mumot von Deutschlandfunk Kultur (2.12.2022) ist hingerissen vom Duo Milan Peschel/Wuttke. Man spüre, mit welcher Freude sie dabei seien. Der Kritiker merkt allerdings an, dass es mitunter schwer gewesen sei, die beiden zu verstehen. Ein Problem, das auch bezeichnend sei für die ganze Inszenierung. Der Abend eröffne viele interessante Bezugspunkte, doch fehle der Wunsch, all diese Themen für das Publikum konkret erfassbar und erfahrbar zu machen. Ausdrücklich lobt Mumot die Bühne: "Dieses Bühnenbild ist fast geheimnisvoller und interessanter als das Stück, das darin aufgeführt wird."

Peschel, Wuttke und Beil stießen "zu immer neuen Freuden der Sinnlosigkeit vor“, schreibt Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (5.12.2022). "Es wurde in jüngster Vergangenheit viel über den erschlafften künstlerischen Tonus der Volksbühne unter ihrem Intendanten René Pollesch geschrieben. Der schlaue Unsinn von 'Und jetzt?' aber ist ein Donnerwetter, das selbst den sauertöpfischten Zuschauer Tränen lachen lässt.“

"Die Figuren kalauern sich von Szene zu Szene, mit wenig Erkenntnisgewinn", beobachtet Erik Zielke im Neuen Deutschland (5.12.2022). "Dass Arbeitertheater durchaus ein Thema sein könnte oder die Frage, wen Kunst in diesen Zeiten angeht, davon merkt man nichts." Es gebe keine Pflicht, jeder Fährte, die ein Stoff bereithält, nachzugehen. "Aber ein paar Ideen, die über bloße Einfälle hinausgehen, etwas mehr Tiefgang und auch lustvolleres Spiel darf man von dem Regisseur, bei dem man all das schon mal erleben durfte, doch erwarten", so Zielke. "Sonst verlässt man nur ratlos den Saal. Und jetzt?"

Kommentare  
Und jetzt, Berlin: Nachfrage
(...) Soll ich mir das Stück nun ansehen oder besser nicht?
Und jetzt?, Berlin: Volksbühnen-Altstars
In dem knapp anderthalbstündigen extrem verqualmten Pingpong fläzen Franz Beil, Milan Peschel und Martin Wuttke in Arbeiterkluft auf alten Plastikstühlen und tauschen Anekdoten über Agitprop-Theater und die Schwedter Inszenierung aus.

Doch die Theatergeschichte ist nur die Hintergrundfolie für ein Spiel der beiden Volksbühnen-Altstars mit Beil als Side-Kick: zwischen einer Partie Federball und viel Slapstick albern sie nach Lust und Laune herum. Je länger der Abend geht, desto häufiger belagern sie die Souffleuse, die wie in jeder Pollesch-Inszenierung mit ihrem Textbuch auf der Bühne präsent ist. Die Gags sind nicht immer taufrisch: in einer in zahlreichen Loops ausgereizten Szene machen sie sich über den Aberglauben in der Theaterblase lustig, dass man den Titel des „Schottenstücks“ nicht aussprechen darf, weil darauf ein Fluch laste. X-mal wird Martin Wuttke von einschlagenden Blitzen durchgeschüttelt. Ein großer Teil des Publikum hatte Spaß an der Spielfreude des Trios, inhaltlich war „Und jetzt?“ einer der dünneren Pollesch-Abende.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/12/04/und-jetzt-volksbuhne-theater-kritik/
Und jetzt, Berlin: Wenig zu lachen
Ehrlich gesagt war mir an dem Abend nicht recht klar, ob die Lacher im Publikum von ernstem amusement zeugten oder ob das Lachen eher ein Lachen über die Lächerlichkeit des Abends war.
Aber immerhin: lachen jeder Art soll bekanntlich gesund sein.
Für mich gab's leider wenig zu lachen.
Und jetzt?, Berlin: Warum jetzt eben
Ein Blick der linke Champagne Sozialisten auf die unfäigkeit von der arbeiter Klasse sich mit existentialistische und politische Argumente und kulturelle verankurungen sich auseinanderzusetzen. Die Arbeiter verwenden unbeholfen sämtliche akademische Jargon, ohne ihre Bedeutung oder zusammenhänge zu verstehen, und reden sich im Kreis. Beobachtet von eine Frau mit Scriptheft, die neben dem Publikum in wissenden überblickende aroganz deren peinliche Naivität belächelt und notiert, das stüch bietet keine weitere politischen ihnhate, außer ein Hass gegenüber ungebildete arbeitende Menschen.
Und jetzt?, Berlin: Köstlich amüsiert
Wir waren gestern zu dritt in der Volksbühne und haben uns köstlich amüsiert, wie auffallend der so ziemlich gesamte Saal! Manche Frauen weinten, weil sie nicht mehr aus Lachschleife heraus kamen. Das liegt natürlich an dem wunderbaren Spiel der, wie ich meine, „drei Dialektiker“- meine Assoziation aus dem „Kessel Buntes“ des DDR-Fernsehens. Sie sprachen ja auch immer wieder von Dialektik, was Sinn macht in Bezug auf ihr diskursorientiertes Reden. Da war vieles drin, was uns heute beschäftigt: die Auseinandersetzung mit modernem, ggf. biografischen - oder Diskurstheater, eventuelle Probleme von Arbeitern mit Kunst bzw. Theater, die Erwähnung des Queeren. Für nicht eingebaute Aktualisierungen bin ich eher dankbar.
Am meisten hat mich allerdings das körperliche Spiel von Martin Wuttke beeindruckt. Einer Marionette gleich benutzt er seine Arme und Hände, macht damit den Text unglaublich greifbar. Beinahe tänzerisch bewegt er sich permanent, mal ganz oder nur einzelne Körperteile. Selbst beim Trinken geht ein Bein mal seine eigenen Wege. Sein Sprechen ist unnachahmlich und für mich wunderbar. Seine beiden Mitspieler haben es schwer neben ihm, aber behaupten sich wunderbar in ihren Rollen. Milan Peschel gibt den leicht Cholerischen ebenfalls in eigener schöner Manier. Franz Beil hat leider die Rolle des „hölzernen“ Arbeiter-Schauspielers, aber hält gut mit. Es muss in einem Trio ja auch einen geben, der die ruhige Variante bedient. Die von anderen Kritiker:innen bemängelten Bau- und Umzieh-Pausen haben mich nicht gestört, sondern amüsiert. Sie gehörten zum dramaturgischen Konzept, wenn man auf den Text gehört hat.
Für den Vorkommentator: Ich denke, es ist der selbstkritischer Blick der Künstler in Beziehung zu in der Produktion Arbeitenden, der nicht abwertend sein soll. Es ist immer wieder eine Annäherung, wenn man es zulässt.

Ein sehr schöner Abend war es, wie wir drei uns gegenseitig bestätigen konnten. DANKE
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