Anna Karenina - Staatstheater Cottbus
Glück versprechende Tragödie
26. Februar 2023. Tolstois Roman "Anna Karenina" über eine gesellschaftlich unmögliche Liebe bringen Milena Michalek und ihr Ensemble mit emanzipatorischen Diskursen zusammen. Unseren heutigen Blick auf Ehe und Moral denken sie in ihre in Cottbuser Fassung mit hinein. Finden die Figuren dadurch neue Handlungsspielräume?
Von Iven Yorick Fenker
26. Februar 2023. Dass die Produktionsdramaturgin Franziska Benack auftritt, nachdem sich der prächtige Staatstheater-Saal aus der vorletzten Jahrhundertwende schon gefüllt hat, bedeutet, wie sie selbst sagt, nichts Gutes. Dass die Premiere stattfinden kann, hat das Publikum der Schauspielerin Fania Sorel zu verdanken, die für ihre krankheitsbedingt ausfallende Kollegin kurzfristig eingesprungen ist. Sie hatte 29 Stunden Zeit, sich vorzubereiten, und spielt mit Textbuch in der Hand, was aber bald vergessen ist – eine Ausnahmeleistung. Fania Sorel ist die Dascha aus dem Jahrtausendroman "Anna Karenina" von Lew Tolstoi, dem tausendseitigen, ausgeklügelten Doppelroman, dem dreisträngigen Epochenepos, dem breit rezipierten Text, welchem zu Recht eine gewisse Ehrfurcht entgegen gebracht wurde und wird.
Dramatisches Destillat mit klarer politischer Analyse
Milena Michalek gründet ihre Inszenierung auf eine eigens erarbeitete Fassung. Deren herausragende Qualitäten werden schon mit dem ersten Auftritt des Ensembles offenbar. Mit verschwenderischem Erzählwillen und einfühlsamer Präzision bis in die Pointen der Figurenrede wird hier aus dem Prosa-Massiv ein dramatisches Destillat kristallisiert, das sich nahtlos in die aktuelle Gegenwart einfügt und dabei auf einer klaren politischen Analyse beruht. Die Cottbusser "Anna Karenina" basiert auf heutigen emanzipatorischen Diskursen und fügt dem patriarchalen, heteronormativen Realismus von Tolstoi eine Realität hinzu, die damals zwar auch schon da war, nun aber sichtbarer geworden ist, weil sie erkämpft wurde.
Anna Karenina, überragend, wirklich grandios gespielt von Charlotte Müller, scheut diese klare Analyse nicht. Sie benennt den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie klagt die westliche Linke an, die in ihrer ungebrochenen "antiimperialistischen" Ideologie zu diesem Krieg nicht Stellung bezieht und dabei selbst ins Totalitäre rutscht. Diese Anna Karenina lässt nicht die revolutionären Frauen* im Iran unerwähnt. Und auch nicht die Angriffe einer männlich geprägten Politik auf die Errungenschaften der LGBTQIA*-Bewegung. Diese Anna ist eine selbstbewusste Frau, die den eingeengten Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Ehe und ihrer historischen Epoche die Suche nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Glück entgegensetzt und die auch im tragischen Verlauf, dem gesellschaftlichen Determinismus, sie selbst bleibt – eine Suchende.
Glückssuchende in der Mokka-Milchbar
Die Bühne von Charlotte Pistorius stellt eine ehemalige Cottbusser Mokka-Milch-Eisbar dar, Dieser Treffpunkt des gesellschaftlichen Lebens ist mittlerweile einem Einkaufszentrum gewichen. Hier wird sie zum Begegnungsort der Figuren, an dem, wie idealerweise in der Realität auch, Klassen, Vorstellungen, Überzeugungen, Menschen aufeinander treffen. Zwischen der marmornen Bar, dem samtenen Séparée, einer beweglichen Sitzecke, zwischen dem angegliederten einsichtigen Bad samt gläserner Duschkabine – hier wird das Private tatsächlich politisch oder zumindest ersichtlich – begegnen sich die Glückssuchenden aus Tolstois Roman.
Dort ist Karenin (Gunnar Golkowski), Annas Ehemann und Vater des gemeinsamen Sohnes Serjoscha, der zurückhaltend bis zur Weißglut wütend agiert, immer aus hoffnungsloser Ratlosigkeit und doch auch mutig handelt. Zwischen Jähzorn und Melancholie steckt ein nachvollziehbarer Mensch. Sie sind das Bestechende und Berührende an dem Abend: die Menschen, die aus den Figuren werden. Ihnen auf der Bühne in ihrem Begehren zu folgen ist herzzerreißend.
Liebende, die scheitern, scheitern, besser scheitern
Kitty (Sarah Gailer) nimmt die ganze Bühne ein in ihrer Suche nach Befriedigung ihrer Freiheitsbestrebungen, welche sie in die Radikalität treiben, bis sie die Ornamente des Saales anzulecken beginnt. Auch Lewin (Manolo Bertling) wird aus ungezähmter Liebe zum Hampelmann und lässt die langen Landschaftsbeschreibungen des Romans zur Schrei-Solo-Show werden. Etwas zurückhaltender ist dagegen Wronski (Johannes Scheidweiler), der nach der ersten Begegnung mit Anna als Liebender ungebremst die Bühne, das Eiscafé, das Publikum bespielt. Zwei bedingungslos Liebende treffen hier aufeinander, Zwei, die an den Bedingungen ihrer Liebe scheitern, scheitern, besser scheitern. Ariadne Pabst als Stiwa, allgegenwärtig und handlungstreibend, und die starke Fania Sorel komplettieren das Ensemble.
Was es bedeutet, den gesellschaftlich eingeengten Spielräumen ein eigenes breites Spiel abzutrotzen, ist bei dieser großartigen Inszenierung zu sehen. Den individuellen Figurenentwicklungen zu folgen ist erhellend. Dieser Abend ist eine glücksversprechende Tragödie und hat das Zeug zur Utopie.
Anna Karenina
nach dem Roman von Lew Tolstoi, aus dem Russischen von Rosemarie Tietze, in einer Fassung von Milena Michalek
Regie: Milena Michalek, Bühne: Charlotte Pistorius, Kostüm: Tutia Schaad, Musik: Yvi Philipp, Dramaturgie: Franziska Benack, Regieassistenz: Julia Daniczek, Ausstattungsassistenz: Nadine Baske.
Mit: Charlotte Müller, Gunnar Golkowski, Susann Thiede (bei der Premiere Fania Sorel), Ariadne Pabst, Manolo Bertling, Sarah Gailer, Johannes Scheidweiler.
Premiere am 25. Februar 2023
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-cottbus.de
Kritikenrundschau
Die Elemente der Geschichte seien "selbst für jene, die Roman und Film noch gut im Gedächtnis haben, nicht ganz leicht zu puzzeln und wiederzufinden", schreibt Ida Kretzschmar in der Lausitzer Rundschau (27.2.2023). Es werde schließlich "kein monumentales Historiendrama aufgeführt", sondern "kräftig Staub aufgewirbelt". Aber: "Es gelingt, die zeitlosen Themen der Liebe, Freiheit und ihre Bedrohtheit in den drei Stunden beinahe nahtlos mit den Diskursen der Gegenwart zu verbinden." Michalek finde "eine unkonventionelle Lesart, die vor der Pause durchaus unterhaltsam durchgespielt wird", teilweise aber "im Geschrei" unverständlich werde. Außerdem beklagt die Rezensentin die in der Wiederholung "unnötige" Nacktheit der Schauspieler:innen, die allerdings "neue Zuschauer ins Theater locken" könnte, so Ida Kretzschmar.
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(Lieber Stefan Bock,
wir haben die verfügbaren Angaben zur Übersetzung und Spielfassung im Besetzungskasten ergänzt. Danke für den Hinweis!
Herzliche Grüße
Ihre nachtkritik-Redaktion)
Warum bemüht man einen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts, um mit Mitteln des modernem Regietheaters aktuell-politische Probleme der Gegenwart zu verdeutlichen? Gibt es kein aktuelles Theaterstück? Warum diese aberwitzige Kostümierung? Warum die Nacktszenen (...)? Wen will man damit "beglücken"? Denken die Dramaturgen an jugendliche Zuschauer? Aus meiner Erfahrung würden die bei diesen Szenen johlen und pfeifen! Dieses Regietheater passte nach Berlin, dort gibt es ein entsprechendes Publikum - ich habe es mehrfach in der Volksbühne, wo Ähnliches gezeigt wird, erlebt. Hier im Süden Brandenburgs besteht das Publikum vorwiegend aus 50 plus. Und deshalb sollte man ebenso Folgendes berücksichtigen: artikuliertes, klares, langsames Sprechen, auch nicht mit dem Rücken zum Publikum.
Ich bin 74 Jahre alt, denke, eine moderne aufgeschlossene Frau zu sein, liebe genau diese bei der Aufführung gespielte Musik - aber es muss passen. Das Cottbuser Theater hat/te einen hervorragenden Ruf mit seinem Schauspielensemble. Nun weiß ich, dass viele dem Musiktheater den Vorzug geben. Und das ist wirklich schade, auch wegen der wunderbaren Schauspieler!!
Renate Brucke