Die Verwandlung - Deutsches Theater Göttingen
Familie Samsas Höllenfahrt
30. April 2023. Zu Franz Kafkas "Verwandlung" scheint alles gesagt, seit Gregor Samsa erstmals die Käferbeinchen reckte. Doch Philipp Löhles Fassung in eigener Regie erzählt die Fabel nun radikal aus der Perspektive der überforderten Familie. Und das Spiel rund um das Rieseninsekt im Nebenzimmer ist lustiger denn je.
Von Michael Laages
30. April 2023. Dieser erste Satz gehört zu den berühmtesten der Weltliteratur: "Als Gregor eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." So lässt der 32-jährige Versicherungsangestellte Franz Kafka die 1915 veröffentlichte Erzählung mit dem Titel "Die Verwandlung" beginnen – als riesenhafter Käfer, der der junge Herr Samsa nunmehr ist, kann er den Beruf des reisenden Wäsche-Verkäufers nicht mehr ausüben und also die Familie nicht mehr ernähren, was er fünf Jahre lang mit einigem Erfolg geschafft hatte. Schwester, Mutter und der beruflich gescheiterte Vater konnten sich in dieser Zeit sogar weiterhin ein Dienstmädchen leisten, das in der feinen Wohnung auch alle Hände voll zu tun hat. Als die Familie versucht, Zimmer zu vermieten, um über die Runden zu kommen, hat Käfer Gregor ein Einsehen – und stirbt. Die Geschichte wurde zu einer Art Ideen-Steinbruch der Familien-Psychologie und hat immer wieder auch das Theater herausgefordert – gerade weil sie eigentlich und rein physisch nicht zu realisieren ist auf der Bühne.
Veritable Horror-Komödie
Vor etwas mehr als Jahresfrist zeigte der belgische Theatermacher Stef Lemous eine Version in Kassel, als Teil der ersten Spielzeit der Intendanz von Florian Lutz; jetzt geht der Dramatiker Philipp Löhle, Hausautor am Nürnberger Theater, für das Deutsche Theater in Göttingen noch ein paar Schritte weiter: und erzählt mit ganz neuem und eigenwilligem Text "Die Verwandlung" als veritable Familien- und Horror-Komödie. Eins ist sicher: So viel wie in diesem feinen kleinen Theater hat das Publikum wohl noch nie gelacht über Kafkas alptraumhafte Schreckensphantasie; ähnlich vielleicht wie bei Kafkas ersten Lesungen des Textes vor Freundinnen, Freunden und Bekannten, an die der Autor im Programmheft erinnert.
Philipp Löhle hat auch jetzt wieder selbst inszeniert, wie Anfang der Saison und beim Heidelberger Festival mit dem schrägen Motto "Remmidemmi" die schrille eigene Dokumentar-Phantasie über den Anschlag auf das lokale Headquarter der US-Armee Anfang Mitte Mai 1972. Das war kein Meisterstück, und nicht immer ist Löhle der ideale Interpret eigener Werke – diesmal aber schon. Denn so produktiv schon die Überlegung war, die Kafka-Fabel (ähnlich wie Lemous in Kassel) komplett aus der Perspektive der Familie Samsa zu erzählen, so furios gelingt die groteske Komödie.
Mit zweierlei Vorspruch lässt Löhle sie beginnen. Im Flimmerlicht von Stummfilm-Projektionen wie vor über hundert Jahren ist der Brief eines Arztes an Kafka zu lesen – der möge bitte mitteilen, wie "Die Verwandlung" gemeint sei; ein junges Mädchen bitte ihn, den Arzt, um diese Erklärung, und er selber könne keine geben. Und zwar habe er die Schützengräben des Ersten Weltkrieges überlebt – aber die Freundschaft des Mädchens wolle er nicht verlieren. Danach (Vorspruch zwei) wird wirklich Stummfilm gespielt, stilecht mit erklärenden Zwischentiteln – wie der junge Gregor einst in der beruflichen Katastrophe des Vaters zum Familienernährer wird und so die Familie rettet. Das Göttinger Ensemble wirbelt virtuos durch die immer übergroßen Stummfilm-Gesten, Szenenbeifall gibt’s schon hier. Musik im großen Ton der klassischen Moderne am Beginn des vorherigen Jahrhunderts passt prima dazu und spielt eine enorme Rolle.
Das Monster nebenan
Dann bricht auf der echten Bühne die Familienhölle los. Papa (fünf Jahre nach der Stummfilm-Szene maßlos fett geworden) gibt den rabiaten, immerzu rumbrüllenden Patriarchen, Mama die schrill-verhuschte "Madame" des Hauses; Tochter Grete, recht stämmig und sehr früh schon gereift (um nicht zu sagen: gealtert) kratzt hingebungsvoll auf der Geige herum und will aufs Konservatorium. Das hat Sohn Gregor ihr versprochen. Aber eines Morgens kommt der Bruder halt nicht mehr aus dem Zimmer, Grund: siehe oben... Schon meldet sich mahnend der Chef der Firma, für die Gregor arbeitet. Durch das Oberlicht in der Zimmertür sieht die Familie, dass drinnen etwas nicht stimmt; gleich wird der Schlosser gerufen. Und auch der Arzt – denn als die von innen geöffnet wird, ragen die Fühler eines monströsen Käfers heraus; und Mama muss sich fleißig übergeben.
Jetzt sind wir mittendrin in der Komödien-Dramaturgie, sehr entfernt in Tempo und Ton einer schrägen Nestroy-Farce. Immer öfter hört die Familie den verwandelten Sohn hinter der Tür herumrumoren; Schwester Grete über-windet sich und bringt ihm Milch hinein, mit Brot-Stückchen drin. Sie berichtet, dass Gregor an der Decke krabbelt und gelegentlich sehnsüchtig aus dem Fenster blickt – auf der anderen Straßenseite steht ein Krankenhaus. Immer deutlicher übernimmt Grete Regie und Deutungsmacht in der Familie; Mama etwa darf nicht rein in Gregors Zimmer. Papa schikaniert derweil weiter das Dienstmädchen, das aus Angst schon gekündigt hatte, aber wiederkehrt. Außerdem sucht Papa nach der Schatulle, in der die Reste der Finanz-Ressourcen ruhen - Gregor, so sieht er voraus, wird nie mehr arbeiten können.
Papa, Mama und Schwester entwerfen Strategien für eigene Arbeit – und werden tatsächlich unabhängig; schließlich auch dank der Zimmer-Vermietung. Den Hausgast hat Löhle verdreifacht und nun werden drei völlig gleiche Herren im Backenbart-Outfit der feineren Kreise von anno Dazumal vom Anblick des hauseigenen Käfers verschreckt. Jetzt ist das Tier auch zu sehen – krabbelt an der (leicht durchsichtigen) Hinterwand der Bühne von Thomas Rump und danach hinab und hinauf durch sinnreiche Rohr-Systeme links und rechts der Bühne; plötzlich ist Käfer Gregor auch im Keller.
Komödiantisches Meisterstück
Als Mama im Sauberkeitswahn Gregors Zimmer zu putzen beginnt, zerstört sie das Biotop des Käfers; und der stirbt. Das Dienstmädchen muss Käferteil um Käferteil in den Müll räumen. Und die Familie? Hat auskömmlich leben und überleben gelernt ohne den nutzlosen "Mistkäfer" – und vergisst ihn schnell. Töchterchen Grete wird an der Rampe und in vollem Licht irgendwem im Publikum zur Verheiratung angeboten. Blackout.
Hinreißend altmodisch geben sich diese zwei Theaterstunden, in hohem Tempo durchrast von Roman Majewski und Julia Strößenreuter als Eltern, der großen Komödiantin Gaby Dey als Tochter und Anna Paula Muth als Dienstmädchen; Lukas Beeler steckt im Käfer-Körper, Daniel Mühe und Florian Donath schlüpfen in die Nebenrollen. Und alle sind als "helfende Hände" dabei – wenn etwa Gregor durch die Rohre und im Keller krabbelt.
Was den zeternden Papa-Patriarchen angeht, ist der Abend auch ziemlich unkorrekt; egal, er spielt ja vor hundert Jahren. Auch von der voyeuristischen Sehnsucht des Publikums nach dem Anblick des Unzeigbaren erzählt Löhle – in einer demonstrativ ollen Kamelle als komödiantischem Meisterstück. Nachdem vor kurzem gerade Haus-Regisseurin Katharina Ramser "Im Dickicht der Städte" von Brecht sehr pointiert im Heute positioniert hatte, ist auch "Die Verwandlung" zu bestaunen im Göttinger Saison-Finale – Stück und Inszenierung von Philipp Löhle hätten auch an größeren und größten Häusern das Zeug zum Ereignis.
Die Verwandlung
von Philipp Löhle nach Franz Kafka
Uraufführung
Regie: Philipp Löhle, Bühne, Kostüme und Käfer: Thomas Rump, Dramaturgie: Sonja Bachmann.
Mit: Lukas Beeler, Gaby Dey, Florian Donath, Sean Grimm, Roman Majewski, Daniel Mühe, Anna Paula Muth und Julia Strößenreuter.
Premiere am 29. April 2923
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.dt-goettingen.de
Autor und Regisseur Philipp Löhle hat "Die Verwandlung" als Komödie inszeniert - als Horrorkomödie, so Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (2.5.2023). "Bühne und die Kostüme schwelgen in Grautönen. Farbe gibt es hier so wenig wie in den Schwarz-Weiß-Filmen, für die sich Kafka nachweislich interessiert hat." Gerade zu Beginn überraschen Löhle und der Bühnen- und Kostümbildner Thomas Rump: "Mit einer brillanten Installation bringen sie Stummfilm auf die Bühne." Ebenso bemerkenswert sei die Verwandlung der Schauspieler durch ihre Kostüme, die an den Stil der Addams Family erinnere. "Und dann ist da ja auch noch der Käfer. Dieses Ungeziefer taucht, bewegt von Puppenspieler Sean Grimm, tatsächlich auf, kriecht über eine Wand." Das sei gruselig, ein bisschen ekelig und eigentlich auch ziemlich witzig, "eine Horrorkomödie eben - eine enorm professionell inszenierte obendrein."
Einen großen Abend voller bunter Ideen habe das Deutsche Theater Göttingen geliefert, schreibt auch Ute Lawrenz in der Hessisch Niedersächsisch Allgemeinen (2.5.2023). In Stummfilmmanier spiele die Vorgeschichte, dann der Schock, "Gregor hat sich in einen Käfer verwandelt". Wie im Horrorfilm komme das Insekt daher. "Der häufige Wechsel von Thriller-Dramatik mit der Auflösung der Spannung durch umwerfende Komik verleiht der Inszenierung ihre Stärke." Fazit: "Ein unschlagbar packender Abend, der mit großem Applaus eine verdiente Belohnung fand."
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