Annette, ein Heldinnenepos - Staatstheater Hannover
Heimatlos heroisch
27. Februar 2022. Komplett in Versform geschrieben ist Anne Webers Roman "Annette, ein Heldinnenepos", der 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Mit Stargast Corinna Harfouch im Hannoverschen Ensemble setzt Regisseurin Lily Sykes der französischen Freiheitskämpferin Anne Beaumanoir ein zweites Denkmal – und lässt dabei eine mittelalterliche Kunstform wieder aufleben.
Von Jens Fischer
27. Februar 2022. Ja, ist es denn schon wieder Zeit für Helden? Nicht diese Art männlich egozentrischer Krieger, die mit unnahbarer Übermenschlichkeit spektakuläre Gefahren überwinden und unter Aufbietung aller Kräfte außergewöhnliche Taten vollbringen. Gesucht sind vielmehr Helden ohne Spezialkräfte und von höchst allzu menschlicher Alltäglichkeit.
Ein Denkmal diesem Lebenslauf
Gefunden wurde die heute 98-jährige Französin Anne Beaumanoir, eine im besten Sinne eigenmächtige und widerständige Frau – Aktivistin in der französischen Résistance, in der kommunistischen Partei und der antikolonialen Befreiungsbewegung Algeriens. Sie unter Heldinnenverdacht zu stellen, wagte Anne Weber und schrieb ihr mit "Annette, ein Heldinnenepos" ein Denkmal. In Anlehnung an mittelalterliche Versepen wurde der von einer lakonisch amüsierten Erzählerstimme ausgebreitete Lebenslauf formuliert. Heldenhaft fand das die die Deutsche-Buchpreis-Jury und verlieh dem Werk 2020 ihre Auszeichnung. Nun hat Lily Sykes eine Kurzfassung des Textes fürs Schauspiel Hannover szenisch belebt. Was Beaumanoirs außerordentlichem Leben eine Vorbildfunktion verleihen könnte, ist ihr konsequent auf die Verwirklichung von Werten wie Gerechtigkeit zielendes Handeln, das sie aus der Utopie eines sozialistischen Idealstaates ableitet.
Eine mutige, fordernde, mit vielen Opfern verbundene Lebensaufgabe, denn Beaumanoir ist wie ihr literarisches Alter Ego Annette auch noch praktizierende Ärztin, Neurophysiologin, Mutter, Ehefrau, Geliebte. Was natürlich die Frage provoziert, die Sykes immer wieder auf der Bühne stellen lässt: Was treibt Annette an? Erste Indizien fokussiert die lineare Erzählung in der Kindheit, lernte die Protagonistin doch schon früh, sich gegen Unfreiheit aufzulehnen und geradezu reflexhaft über Ungerechtigkeit zu empören. Zudem ist sie eine begeisterungsfähige Person voller Abenteuerlust. "Annette ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn lieber Terroristin werden will", wird verkündet. Aber erklärt das irgendetwas? Das Schauspielsextett geht da genauso wenig in die psychologische Tiefe wie das Buch. Es will vermitteln, nicht ergründen.
Es wallt Nebel, es regnet Flugblätter
Überzeugend die formale Setzung: Weil Heldenepen einst vom fahrenden Volk der Bänkelsänger auf Volksfesten und Jahrmärkten vorgetragen wurden, sollen die Schauspieler in Hannover moderne Varianten dieser Performer sein. Auf historischen Darstellungen ist zu sehen, dass auch Illustrationen mit zur Show gehörten, kleine Kunststücke, mimetische Gags oder Tierdressurnummern und Musik auf Fidel, Laute oder Drehorgel. Auf der Bühne wird jetzt Piano, Trommel, Trompete, Harmonium, Cello und Bratsche gespielt. Statt nur eines Bänkels zum Herabreden gibt es ein richtiges Bühnenbild: Fragmente eines Park-Pavillons für Plauderstunden und Tête-à-Têtes werden von Szene zu Szene weiter zusammengebastelt. Mal wallt dabei Nebel, mal regnet es Flugblätter und die Drehbühne rotiert wie die ruhe- und nicht selten heimatlose Heldin.
Das Ensemble steht zumeist fröhlich an der Rampe und redet aufs Publikum ein, Erzählertext und Rollen werden dabei flott durchgewechselt, Lieder gesungen und Situationen vertanzt. Das Berichtete doppelt sich gern auch mal im Spiel: Wenn die Rede auf Annettes Hirnhautentzündung kommt, krümmt sie sich dazu am Boden. Oder es wird pantomimisch übersetzt, so stellt Oscar Olivio die Invasion der Wehrmacht in Frankreich dar, indem er clownsnasig hilflos und schreiend zu Paukenschlägen über die Bühne rast. Wenn der Paukenschlegel später zu Boden geworfen wird, heißt das: Der Krieg ist vorbei. Die Annette-Darstellerinnen Alrun Hofert und Katherina Sattler agieren anrührend, beispielsweise fein pathetisch klangumtost, wenn der Tod des Geliebten realisiert oder Mutterglück gefeiert wird. Andere Episoden sind mit feiner Ironie inszeniert, so der Blick in Annettes Schulzeit oder eine Sitzung der Parti communiste français. Alles kommt lässig gekonnt daher und ist stets hübsch ausgeleuchtet. Aber es wirkt eben auch, als würden Stegreif-Artisten ihre Spiel-Energie nie vollends entfalten können, weil dem Stand-up-Furor das geschmackvolle Arrangement vorgezogen wird.
Das Epos frisst seine Kinder
Irritierend der Stargast. Corinna Harfouch agiert fahrig und wirkt teilweise wie ein Fremdkörper im Ensemblespiel. Sie kann auch die Spannung nicht zum Zerreißen spannen, wenn sie in der entscheidenden Szene Annette spielt, die gerade realisiert, einst haben Gestapo-Schergen Franzosen, später Franzosen Algerier, dann die dortigen Freiheitskämpfer ihre Feinde und schließlich die neuen Herrscher die Freiheitskämpfer gefoltert und gemordet. Die Titelfigur war dabei nur eine weitere nützliche Idiotin der Machtpolitik. Dafür ihr Leben aufs Spiel gesetzt, Mann und Kinder vorübergehend verlassen zu haben, zeugt das von menschlicher Größe, weil elanvoll die Welt verbessert werden sollte, oder von Versagen, weil Annette sich ihren Kindern entfremdet hat und dem neuen Terror den alten Terror ablösen half? Ihr "Irrtum, der ein / Schmerz geworden ist" generiert zwar Zweifel, aber keine Erkenntnis, keine Reflexion, bleibt folgenlos. Auch Heldinnenepen fressen halt ihre Kinder.
Im Buch wird das dezent distanziert, aber durchweg positiv, nicht als Scheitern beschrieben, auf der Bühne wirkt die Distanz gar schwärmerisch durchwirkt. Das ist sympathisch bis faszinierend, hat aber keinen auf-oder anregenden Abend über Sinn wie Unsinn von Heroismus anno heute zur Folge, sondern eine gemütliche Heldinnenverehrung gegen unsere ungemütlichen Kriegstage.
Annette, ein Heldinnenepos
Nach dem Roman von Anne Weber
Uraufführung
Regie: Lily Sykes, Bühne: Jelena Nagorni, Kostüme: Ines Koehler, Musikalische Leitung: David Schwarz, Dramaturgie: Hannes Oppermann.
Mit: Mohamed Achour, Corinna Harfouch, Alrun Hofert, Oscar Olivo, Katherina Sattler und David Schwarz.
Premiere am 26. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Vom Versepos sei nicht mehr viel zu spüren. Der Sprachfluss kommen zuweilen nachgerade spröde daher, schreibt Jörg Worat von der Neuen Presse (28.2.2022). "Die großen Fragen nach der Verantwortung des/der Einzelnen, nach der persönlichen Opferbereitschaft, nach der potenziellen Verpflichtung zum Widerstand gehen bei alledem zwar nicht unter, kommen aber arg gedämpft daher."
"Das Problem ist: Clowns gehen immer, und sie sind auf deutschen Bühnen seit ein paar Jahren durchaus überpräsent. Mit Clowns geht alles. Deshalb sind sie so langweilig", schreibt Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (28.2.2022). Mit den Texttafeln, die Geburts- und Sterbedaten der genannten Personen zeigen, breche die Wirklichkeit mi ungeheurer Wucht in das Singspiel ein. "Wenn es aber Texttafeln sind, die die stärkste Wirkung zeitigen, dann fehlt dem Spiel etwas ganz Entscheidendes."
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Der Fairness halber: Es kann sein, dass in der zweiten Hälfte noch etwas passiert ist; die habe ich leider nicht mehr miterlebt, da ich in der Pause gegangen bin. Als Zuschauer:innenmagnet mag das vielleicht funktionieren. Als zeitgenössisches Theater leider so gar nicht.