Dance Nation - Schauspiel Hannover
Pubertät im Tanzstudio
von Jens Fischer
Hannover, 16. Oktober 2020. Gesucht wird die verlorene Zeit, als das Gehirn neu verschaltet sowie verkabelt und der Körper von kleinen Revolutionen erfasst wurde. Überall spross es, wuchs und gedieh: unregierbare Veränderungen, qualvolle, lustvolle – prägende Erfahrungen. Dieses verwirrende Drama Pubertät möchte die US-amerikanische Autorin Clare Barron von einem Ensemble erwachsener Schauspieler mit einer möglichst großen Diversität des Alters und der ethnischen Identität gespielt sehen, wie sie ihrem Stück "Dance Nation" voranstellt. Was auch von der deutschen Erstaufführungsbühne in Hannover verkündet und dort realisiert wird. In schlabbrig-sportiven Casual-Kostümen geht es um schlingernde Orientierung, sexuell hungrig werdende Körper und Empowerment.
Lebens-Training
Zwischen 11 und 13 Jahre alt sind Barrons Protagonistinnen, allesamt Tanzschülerinnen, nur ein Junge hat sich hinzugesellt. Wenn der Trainer zum Ansporn einen Namen prominenter Absolventen der Trainingsstätte in den Raum wirft, pfeifen alle ehrfurchtsvoll. Auch der Nachwuchs will schließlich wie die Vorbilder viele Wettbewerbe, Liebhaber und reichlich Ruhm gewinnen. Von adretten Jungmimen gespielt, dazu ein paar Hits addiert und schon könnte daraus ein gefühliges Coming-of-Age-Tanz-Musical werden.
Mit der Hannoveraner Besetzung gelingt tatsächlich ein faszinierend ambivalenter Ansatz. Die Darsteller beleben die adoleszenten Energien, Hoffnungen, Leidenschaften, aber auch Zweifel und fiebrige Verwundbarkeiten. Sie verkörpern die Lust, aus dem Chaos herauszutreten und etwas zu leisten, als läge das ganze Leben mit seinen ausnüchternden Kompromissen tatsächlich noch vor ihnen. Die Zuschauer bekommen dabei einen Eindruck von den Kindern und sehen gleichzeitig, zu wem sie herangewachsen sind. Wobei das Ensemble nicht zwischen den Lebensphasen, zwischen Erinnerung und Reflexion hin und her springt, sondern einen Mittelweg findet, einen Balanceakt mit gespieltem und tatsächlichem Alter.
Zwischen Träumen, Kontrolle und Engagement
Die Bühne ist ein Tanzstudio, im Zentrum dreht sich eine Trainingsscheibe, der später noch ein pompöser Siegerpokal aufgepflanzt wird. Daraufhin wirkt dieses Bühnenobjekt wie ein Kinderkettenkarussell, nur ohne Ketten und Sitzschalen, aber eben voller Thrill-williger großer Kinder, die vor pulsierender Neugierde platzen. "Ich will, dass mein Leben beginnt", heißt es mehrmals. Ein ruhig aber bestimmt auftretender Lehrer (Sebastian Nakajew) will passend dazu Weltveränderndes choreografieren und sagt: "Wir machen etwas mit Gandhi." Kämpfe um die Hauptrolle lassen erste Risse aufplatzen. Schön ist dabei zu erleben, wie die Schauspieler aus ihrer Darstellung der sehr unterschiedlichen Figuren immer wieder ins Tanzen kommen. Freunde der Arbeiten Stephan Kimmigs werden das als fröhliche Fortsetzung davon empfinden, wie der Regisseur Theaterfiguren mit psychologischem Feinsinn zu natürlicher Bühnenpräsenz entwickelt.
In jeder Szene wird ein anderes der üblich verdächtigen Teeniethemen angesprochen. Es geht um Masturbation, Menstruation und Träume vom Tanzlehrer. Der Verlust der Jungfräulichkeit ist in kitschfeuchten Fantasien angedacht und solchen, die nach Vergewaltigung klingen. Es geht auch um Lebensambitionen und sexuelle Belästigung.
Besorgte Mütter, ehrgeizige Mütter
Unterbrochen werden die Kurz-Dialoge durch einige Muttertypen (alle gespielt von Alrun Hofert), die mal kaltherzig anstachelnd, puritanisch besorgt oder einfühlsam ihrer Tochter begegnen. So reiht sich ein inhaltlicher Spot an den nächsten, ordentlich getrennt durch Blacks, ohne dass Schwung in die Sache käme. Auch die chorischen Einschübe, etwa ineinander collagierte Selbstkritik und Lobhudeleien der Tänzerinnen, bleiben Fragmente der Pubertäts-Archäologie. Zumeist ist sie auf Komik hin inszeniert, nach einer Dehnungsübung wird beispielsweise über "Muschi-Muskelkater" gejuxt, der abgründige Ernst ist stets deutlich, wenn Ängste durchschimmern.
Live-Musiker Nils Strunk ist dabei immer auf der Höhe des Geschehens und spendiert mal metallisch kahle Beats für moderne Tanzansätze, lässt Klänge sanft schweben oder partyrüde losbollern, hat keine Angst vor pathetischem Gedröhn, flüstert auch mal balladesk und sorgt mit Rockgitarrenakzenten für Aufregung.
Verliebt in den eigenen Arsch
Aber richtig interessant wird es erst nach 45 Minuten. Da setzt Ashlee (Amelle Schwerk) zu einem Monolog an, der mehr als Klischees aufblitzen lässt und wirklich etwas verhandeln will. Einerseits schwingt Kritik daran mit, dass die wild egoistische Girl-Power erfüllt ist von der Lust am sportlichen Wettkampf als Einübung in den kapitalistischen Wettkampf, der die Sehnsucht nach Triumphen befeuert sowie Helden und Verlierer hervorbringt. Andererseits schwärmt Ashlee von ihrem perfekten Arsch, "wie zwei kleine Hirschköttel, zusammengepappt, ein wahre Pracht", freut sich über ihr hübsches Gesicht, beschreibt ihre Schlauheit, ihr Gutsein in Mathe – und berichtet von Scham, die sie für all die Talente und Fähigkeiten sowie den damit geweckten Ehrgeiz empfindet. Da es gesellschaftlich nicht opportun sei, als Frau schön, klug und erfolgreich zu sein. Mit der demütig zu Boden blickenden Geschlechterrolle soll jetzt aber Schluss sein. Ashlee feiert lauthals ihre Tollheit als Macht und will damit Karriere machen. Ein famoses Selbstermächtigungssolo.
Und das Ding mit Gandhi? Da fährt Kimmig dann noch richtig auf. Die Choreografie für den Weltfrieden beginnt als verballhornende Bollywood-Nummer, daraufhin tritt das neunköpfige Team mit Gandhi-Maske auf, biedert sich mit Show-Tanz an, fällt dann gerontologisch in sich zusammen, ist nur noch eine tatterige Sitztanzgruppe – bis skandiert wird: Gandhi sei Antisemit und Rassist gewesen, "es gibt keine Helden."
Energietankstelle für Pubertäts-Nostalgiker?
Auch das ist natürlich noch so eine kleine Botschaft für junge Menschen. Schließlich handelt es sich bei "Dance Nation" um eine Produktion der Sparte "Jung!". Und dort funktioniert es dann auch bestens noch als Mutmacher, wenn Sofia (Ruby Commey) sich für etwas Großes bestimmt sieht. Warum? "Meine Pussy ist perfekt." Der Junge im Team findet derweil im Balletttanz zu sich selbst und die Tanzbeste (Katharina Sattler) resümiert ihren beruflichen Einstieg traurig im schwarzen Tutu der bösen "Schwanensee"-Schwanin: "Andere stürzten ab. Aber ich blieb ganz oben. Bis ich allein war." Einsamkeit und Erfolg sind Geschwister. Noch so ein pädagogisches Ausrufezeichen. Schließlich treten alle im Alltagszwirn zum Schlussapplaus an: Als Menschen wie wir suchten sie die Unbedingtheit der Jugend...
Beim Versuch, aus dem doch recht dünnen Text noch einen der Selbstverständigung zu machen, will es nicht so recht gelingen, eine Art Vagina-Monologe für Minderjährige zu gestalten oder zumindest Energietankstelle für volljährige Pubertäts-Nostalgiker zu sein. Aber für Freunde des fabelhaft jung-alten Schauspiel-Ensembles ist der zwischen Zuversicht und Unsicherheit changierende Abend sicherlich ein Vergnügen.
Dance Nation
von Clare Barron
Regie: Stephan Kimmig, Choreografie: Bahar Meric, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musikalische Leitung: Nils Strunk, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Andrej Agranovski, Ruby Commey, Anja Herden, Alrun Hofert, Irene Kugler, Sebastian Nakajew, Nils Rovira-Muñoz, Seyneb Saleh, Katherina Sattler, Amelle Schwerk, Nils Strunk.
Premiere am 16. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-hannover.de
Von energetischer "Schlaglichtregie" spricht Stefan Gohlisch in der in Hanover erscheinenden Tageszeitung Neue Presse (19.10.2020). Laut sei das Stück und manchmal ordinär. Immer aber scheine die Verletzlichkeit der Figuren und der Spielenden durch. Auch die Choreografin Bahar Meric, die Bühnenbildnerin Kataj Haß und der Bühnenmusiker Nils Strunk werden sehr lobend erwähnt.
"Stefann Kimmig gelingt zusammen mit dem sehr nuancenreich und sensibel spielenden Ensemble ein zugleich anrührendes und amüsantes Coming-of-Age-Drama", schreibt Kerstin Hergt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (19.10.2020.) Leider fehlten coronabeschränkungsbedingt die Jugendlichen im Publikum.
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