Die Nacht von Lissabon - Lars-Ole Walburg verzaubert Erich Maria Remarques Roman am Schauspiel Hannover in ein Drama der Heimatlosigkeit
Hokuspokus Schauspielkunst
von Jens Fischer
Hannover, 4. Februar 2017. Solche Dozenten braucht das Land? Seiner Worte nicht würdig sei das Publikum, macht der unwirsche Bildungssnob in seinem Thirdhand-Stubenhocker-Jackett deutlich, als er betont widerwillig ans Vortragspult schlendert.
Muffig ist der Raum eingerichtet – und geschmückt mit Gummiblättergestrüpp als fürsorglich polierte Topfpflanze. Darüber hängt ein Staublappenvorhang in Samtanmutung, der schon vor Jahrzehnten fast jeden Schäbigkeitswettbewerb gewonnen hätte. Auf einer alten Dia-Leinwand ist die Lehrveranstaltung angekündigt: "WS 2016/17 FB Psychologie, Postnomadische Traumatisierung aufgrund von Krieg und Verfolgung". Der Referent kommt kurz und gelangweilt auf Erich Maria Remarque zu sprechen, umreißt holterdipolter die Handlung seines dritten Exilromans "Die Nacht von Lissabon" und stellt pflichtschuldig dessen meist zitierten Satz vor: "Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles."
Ausgenüchterter Realismus
Endlich, hokuspokus Schauspielkunst, verzaubert sich der Griesgram in den Traum aller Literaturstudenten, Nebenfach Psychologie. Vermittelt nämlich höchst sinnlich die Narration der vorgestellten Lektüre, so dass Inhalte spür- und denkbar, aktuelle Bezüge ohne wissenschaftliche Exkurse wie von selbst deutlich werden. Dazu wird das Licht fahl gedimmt für eine Art ausgenüchterten poetischen Realismus.
Silvester von Hösslin klebt sich also einen Schnauzbart ins Dozentenantlitz, blendet die Uniszenerie langsam aus und sich in die Flüchtlingsgeschichte der 1940er Jahre hinein. Aber nicht als Ich-Erzähler des Romans, der im offiziell neutralen Portugal des Diktators Salazar am Hafenkai steht – ohne Ticket für die Überfahrt nach Amerika, ja, ohne Geld für ein Ticket, auch ohne gültigen Pass und Visum für die Flucht vor den faschistischen Sintfluten in Europa. Sondern er schlüpft in die Rolle des Fremden, der solche Dokumente verschenken will. Unter einer Bedingung: Man müsse seiner Geschichte lauschen. Sie dürfe nicht vergessen werden im Lauf der Zeit. Noch sind die Wunden offen, können unverfälscht durchs Gedächtnis erinnert werden. Josef Schwarz nennt sich der Emigrant. Von Hösslin spielt und moderiert dessen Leben (getreu dem Roman).
Geheimnisblubbern
Trotz Dialogform und ausreichend Personal der Vorlage inszeniert Lars-Ole Walburg einen Monolog, der die Struktur des Werkes grundlegend ändert. Nicht das nächtliche Erzählen, sondern die Erzählung selbst wird gespielt. Bühnenmusiker Lars Wittershagen greift ab und an ein, spricht mit verfremdeter Stimme Nazis, Freunde, Folterer, Geliebte und fabriziert auch mal Hörspielgeräusche. Vor allem aber mixt er live den Soundtrack: spartanische Grundierungen der szenischen Atmosphäre plus etwas Geheimnisblubbern, Unsicherheitssäuseln, ruhelose Schwingungen. Richtig in die Vollen geht’s beim Stichwort Liebe: Da schwellen spärliche Tonfolgen zu Klangwolken an und auch vor synthetischen Streicherkolorit wird nicht zurückgeschreckt. Das ganze Stück – ein Melodram? Auch.
Schwarz wurde von den Nazis verfolgt, musste ohne seine Frau das Land verlassen und nahm eine falsche Identität an. So schlich er wieder zu ihr zurück. Nach Osnabrück. Ein Lautsprecher schwebt vom Himmel und verströmt arg verstümmeltes, in Hall-Watte gehülltes Nazigebell, von dem nur das Wort "deutsch" zu verstehen ist. Während Schwarz erzählt, wie das die Menschen hypnotisiere und sie sich seit seiner erzwungenen Emigration verändert hätten. Irgendwie alles ziemlich schräg plötzlich – und so ist die Stube seiner Helen ein um 90 Grad gekipptes Zimmer.
Nix wie weg. Das Ehepaar flieht durch die Nachbarstaaten Deutschlands zum Transitort am Tejo, durchleidet Hunger, Einsamkeit, Verfolgung, Verrat, Lagerhaft. Gleichzeitig versucht Helen vor ihrer Krebserkrankung zu fliehen, indem sie diese ignoriert. Bis das nicht mehr funktioniert – und sie sich das Leben nimmt. Ohnmächtige Rebellion beim Witwer.
Drama der Heimatlosigkeit
Weltpolitik so privatisiert, daraus kann Theater wie Kino für feucht geweinte Augen entstehen. Walburg aber vermeidet jeden Anflug von Schmonzette. Lässt von Hösslin mit großer Körperspannung und angstgepeinigt aufgerissenen Augen spielen – stets auf der Hut, nicht von Nazi-Spionen und Kollaborateuren entdeckt zu werden. Lässt ihn zudem vorsichtig, Wort für Wort den Text erkunden und peu à peu die Emotionalität präzisieren, die hinter, zwischen, unter und über der sachlich klaren Diktion zu entdecken ist.
So formieren sich die Sprachgenauigkeit des Autors und die Dezenz von Spiel und Regie zu einem Drama der Heimatlosigkeit. Zu einer Odyssee durch Angst, Bürokratie und Verzweiflung, wie es bei Remarque heißt. Worauf es Walburg anzukommen scheint, mit einem "Refugees welcome"-T-Shirt nahm er den Premierenapplaus entgegen. Hörbuchtheater vom Feinsten also – mit einem prima Literatur-Vermittler. Solche Dozenten braucht das Land.
Die Nacht von Lissabon
von Erich Maria Remarque
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne, Kostüme: Tine Becker, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Silvester von Hösslin und Lars Wittershagen.
Spieldauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de
"Virtuos mit wenigen Requisiten und gestalteten Nischen (Ausstattung: Tine Becker) umgehend, fesselt Hösslin 100 Minuten lang das Publikum im Stile eines orientalischen Geschichtenerzählers, der mit wenigen Gesten und Verwandlungen einen ganzen Kosmos erschaffen kann", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (7.2.2017). Die Erzählweise sei Gut gegen Böse, "und die große Empathie, die dem Regisseur und seinem Darsteller für diese Filmdramaturgie entgegenschlägt, zeigt, dass sich auch unter dem Theaterpublikum langsam das Gefühl eines Harmagedons breitmacht, wo man nicht mehr verhandeln, sondern nur noch wählen kann, auf welcher Seite man stehen möchte – der Seite der Menschlichkeit oder jener des Hasses."
"Wirkung erzeugt in allererster Linie die Sprache, eine wunderbar rhythmisierte Sprache, die das Geschehen über weite Strecken trägt", schreibt Jörg Worat in der Kreiszeitung (6.2.2017). Das Motto der Inszenierung laute 'Reduktion'. Die akustische Ebene sei aus technischen Gründen nicht immer so ausgewogen wie gewünscht. Dennoch: "Das war sehr gut."
Walburg buchstabiere den Roman nach, statt ihn in neue, fremde Bilder zu übersetzen. "Obgleich: viele Bilder findet er auch", schreibt Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (7.2.2017). "Walburg mach viel Rummel, er hat sich viele spannende szenische Lösungen einfallen lassen, aber er findet kein Gegenbild, nichts Großes, das die Geschichte ins Schleudern bringen oder stocken lassen würde." Andererseits müsse man nicht jede Geschichte gegen den Strich bürsten. Vielleicht sei es ja durchaus ausreichend, dass hier eine gute Geschichte einfach nur nachkoloriert werde.
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Nichts von alldem erlebte ich heute auf der Cumberländischen Bühne. Der Schauspieler blieb in dem einfangs gespielten gelangweilten Vortragenden stecken und schaffte es nicht, der Figur von Schwarz Leben einzuhauchen.
Allein in der bekleidungslosen Szenenfolge erlebte ich nackte Haut erstmal sinnvoll eingesetzt, Doch nach ca. 60 Minuten ermüdete mich das farblose Spiel..