Fremd - Schauspiel Hannover
Kein herein, kein hinaus
2. Dezember 2023. In "Fremd" erzählt Michel Friedman vom Aufwachsen als jüdisches Kind in Deutschland und von Räumen der Angst. Regisseur Stephan Kimmig hat das Buch jetzt in Hannover zur Uraufführung gebracht.
Von Andreas Schnell
2. Dezember 2023. Das erste Eis – ein Fest. Schoko, Vanille, Erdbeer. Aber dann interveniert die Mutter. Ist vielleicht ein bisschen viel für das erste Mal, oder? Und außerdem: "Kaltes Eis ist ungesund, mein Kind. Du könntest dich verkühlen, Bronchitis!" Weshalb die Mutter das erste Eis so lange mit dem Löffel umrührt, bis es Eis-Brei geworden ist. Ein kostbarer Augenblick des Glücks, ein Bruch.
In "Fremd" beschreibt Michel Friedman, Publizist, Jurist, Philosoph und ehemaliger Politiker seine Erfahrungen als Kind jüdischer Eltern aus Polen, die dank Oskar Schindler den Holocaust überlebten, "auf einem Friedhof geboren", in Frankreich und Deutschland aufgewachsen, erwachsen geworden im Land der Täter.
Bis in jeden Winkel
Es geht um das Nicht-Dazugehören – als existenzielle Bedingung für das Leben. Um lebenslange Angst, um das Stigma, "nicht von hier zu sein, um die Suche nach Identität, die immer wieder von außen drangsaliert und bestritten wird. Und es geht, untrennbar damit verwoben, um das schmerzhaft intensive Verhältnis zu den traumatisierten Eltern, deren eigenes Fremdsein in der Welt, das bis in jeden Winkel des Lebens und bis an dessen Ende reicht.
Friedman hat für sein Buch die Form einer Art Langgedicht gewählt, in dem er kleine Episoden neben den großen Ereignissen verarbeitet, eindringliche Assoziationsketten knüpft, immer wieder vom Ich auf die anderen blickend, im Wissen, dass er in seinem Außensein nicht allein ist.
Stephan Kimmig hat "Fremd" nun auf die Bühne gebracht, mit einem vierköpfigen divers besetzten Ensemble, das einerseits geeignet ist, das Allgemeine aus dem Besonderen herauszukitzeln, und das andererseits verschiedene Figuren des Textes personifiziert. Behutsam gekürzt und umgestellt, bleibt der Charakter eines Texts erhalten, der nicht als Theatertext gedacht war.
Verwoben mit den Eltern
Prosa, Textflächen oder auch eine Art Langgedicht wie Friedmans "Fremd" sind nicht unbedingt eine Seltenheit auf der Bühne, Strategien, sie zum Leben zu erwecken, sind durchaus erprobt – auch Kimmig verwendet sie. Lässt den Text durch das Ensemble wandern, verdichtet Episoden szenisch, lässt den Rhythmus und Ton atmen, zwischendurch singen die Vier sehr schön melancholische Lieder. Und doch bleibt "Fremd" zumindest im ersten Drittel oder noch länger papieren, verharrt zunächst in einem verhaltenen Ton mit vereinzelten dramatischen Spitzen. Bis sich daraus ein Fluss formt, immer wieder Szenen bildet und sie wieder zerfließen lässt, eine Form, die den Text lebendig macht.
Und vielleicht ist das ja auch angemessen, weil es Zeit braucht, sich freizuschwimmen, wenn man stets ausgeschlossen ist. Schon die Bühne von Katja Haß bildet das ab: Das Personal agiert vor einer niedrigen Baracke, draußen eben. Hinter den Fenstern, drinnen, geschieht derweil nie vollends Entschlüsselbares, Licht pulsiert, dann ist eine regennasse Straße mehr zu erahnen als zu erkennen, Vorhänge bewegen sich, aber was sie bewegt, bleibt uns ... fremd. Niemand wird hineingelassen.
Fragt, wen ihr wollt
Nur einmal verwandelt sich das Außen in ein Innen, als der nun erwachsene Junge in einer Disco zu sich findet, als er sich in der Musik verliert. Was schließlich auch nicht bedeutet, dass der kleine Junge dort angekommen ist, wo er hin möchte. Die tendenzielle Unterkühltheit, die dem Abend zunächst eigen ist, lässt den schwarzen Humor lange nachwirken, die Traurigkeit, aber auch die brutalen Sätze über die Mehrheitsgesellschaft, die das "Andere" nicht nur per Pass ausschließt: "Fragt, wen ihr wollt, Roma, Sinti, Queere, Homosexuelle, Migranten Flüchtlinge. Fragt, wen ihr wollt, welche Minderheit auch immer, fragt sie nach dem eingebrannten Schmerz, den ihr verursacht mit eurer hässlichen Unschuld."
Das Programmblatt übrigens enthält die Fragen des niedersächsischen Einbürgerungstests. Wer sie korrekt beantworten kann, darf endlich dazu gehören. Dass Fremdsein allerdings, das haben wir gesehen, endet nicht mit dem Erhalt des richtigen Passes.
Fremd
von Michel Friedman
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Christian Decker, Video: Mirko Borscht, Dramaturgie: Elvin Ilhan.
Mit: Christine Grant, Stella Hilb, Max Landgrebe, Alban Mondschein.
Uraufführung am 1. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Für Stefan Gohlisch von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (4.12.2023) entpuppt sich "Fremd" als eindringliches Plädoyer für die Anerkennung der Besonderheit jedes einzelnen Menschen. Für den Kritiker ist diese Inszenierung mehr Lecture Performance als Schauspiel. "Man kann das als Mangel sehen oder auch als Stärke, denn der Text, in dessen Dienst sich alle Beteiligten voller Demut stellen, ist stark und trägt den Abend mühelos", so Gohlisch weiter. "Die Begeisterung im Theatersaal jedenfalls ist groß. Fast alle Zuschauenden erheben sich, bleiben so lange stehen und applaudieren so ausdauernd, wie man es im Schauspielhaus nur selten erlebt."
"Es ist ein belastender Abend für die Zuhörenden, gerade weil Kimmig ganz auf das Wort setzt und mit der Inszenierung keine eigene Geschichte über den Text schreibt," vermerkt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (4.12.2023). Kimmig zergliedere Friedmans Monolog auf vier Personen, ohne große Kürzungen und Umstellungen vorzunehmen." Als einer der empathischsten Regisseure im deutschen Theater widmet er sich ganz den Gefühlen der Trauer und gibt den verschiedenen Stimmen, die Friedman in 'Fremd' dazu aufruft, unterschiedliche Unsicherheiten als Referenz mit."
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