Nora oder Ein Puppenheim - Lars-Ole Walburg setzt mit Ibsen in Hannover auf Entertainment
Auf Engelsflügelchen verflattert
von Michael Laages
Hannover, 21. April 2012. Womöglich braucht es ja wirklich keinen besonders triftigen Grund, um im Theater mal wieder die Geschichte von Nora zu erzählen, wie Henrik Ibsen sie vor gut 130 Jahren erfunden hat – die Geschichte der Bankdirektorsgattin, deren sichere Welt über den Haufen geworfen wird in jenem Augenblick, da es sich nicht mehr vermeiden lässt, ihr allersüßestes Geheimnis zu lüften.
Vor Jahren nämlich hat sie eine kleine Schummelei begangen, als sie die Unterschrift des sterbenskranken Vaters fälschte, um einen Kredit zu erhalten, mit dem sie die lebensbedrohliche Krankheit des eigenen Gatten heilen wollte – wovon der aber nie erfahren durfte, weil dessen hohe, ja geradezu fundamentalistische Moralvorstellungen Kredite nicht zuließen; und schon gar nicht die Abhängigkeit von der eigenen Frau.
Schmusesong statt Urknall
Alles fliegt auf, als der kleine Anwalt Helmer von damals zum großen Bankdirektor Helmer wird und einen Untergebenen rausschmeißt, der ehedem genau die gleiche kleine Schummelei beging und nun zum Erpresser von Nora Helmer wird, weil sie sich natürlich ausgerechnet bei ihm das Geld geliehen hat. Die Erpressung lässt die Bombe platzen; und obwohl der kleine Gangster später, in Liebe geläutert, den Urknall gern rückgängig machen würde, ist die Ehe zerstört – Nora verlässt das Puppenheim.
So kurz und knapp erzählt, offenbart sich wieder die rasant effektive Dramaturgie des Stückes; mächtig viel ist möglich mit "Nora", weil das Stück quasi von selbst funktioniert und der Autor obendrein auch noch zwei Schlüsse schrieb: den ursprünglichen mit der Trennung sowie einen versöhnlicheren, bei dem die sich emanzipierende Gattin dann der Kinder und des Mutterglückes wegen doch zurückkehrt in den Schoß der Familie. In Hannover bleibt sie draußen vor der Tür, aber nicht als Lara Croft mit Knarre (wie in der Berliner Schaubühnenfassung von Thomas Ostermeier) oder als leer drehende Brummkreiselpuppe (wie bei Herbert Fritsch in Oberhausen) – nur "Top of the World", ihr Lieblingsschmusesong von den Carpenters, klingt jetzt eher nach Tom Waits.
Wacker vor der Windmaschine
Wer regelmäßig ins Theater geht, hat Nora schon recht häufig gehen sehen. Lars-Ole Walburg hat der Nora-Galerie kein sonderlich signifikantes Profil hinzugefügt. Schick und schön geht Mirka Pigulla im Titelpart durch Moritz Müllers szenisches Sammelsurium, in dem kaum etwas wirklich ernst gemeint ist. Da steht zwar links eine Tür, die aber gern ignoriert und umgangen wird; auch durchs hohe Fenster rechts sind Auftritte möglich, obwohl normalerweise daneben hinaus und hinein gegangen wird. Alles irgendwie wurscht und egal.
Hebt sich der mit abstrakten Figurationen löchrig bunt bemalte Portalvorhang, wird dahinter winterliche Leere sichtbar, der Briefkasten baumelt vom Himmel; und wenn Direktor Helmer durch den Schnee nach Hause stapfen muss, hat er den in der Manteltasche dabei und wirft ihn wacker gegen die Windmaschine – alles steht und steckt voller Zeichen. Das Schreckensbild des Erpressers Krogstad darf schon mal im Kamin links erscheinen, und aus dem monströsen Häschen auf dem Klavier von Burkhard Niggemeyer, der den Abend mit Liberace-Tolle und Grabesstimme begleitet, raucht's sogar. Unter Feuer aber steht der Abend nicht wirklich.
Zu Beginn ist er vor allem recht albern; und das liegt nicht nur am Kolibri-Gekose und Häschen-Geplapper, mit dem Herr Helmer Frau Helmer auf Puppenheim-Niveau hinunter redet. Aus dem heimischen Rauchverbot wird eine große Nummer, und noch das Strickverbot ist (gebrochen von Noras dramaturgisch so wichtiger Freundin Linde) später einen großen Auftritt wert. Kurz vor der Pause zeigt Henning Hartmann als Bankdirektor der Gemahlin sogar, wie ein sinnlicher Halb-Striptease getanzt werden muss – Entertainment ist genug im Spiel, und das ist auch in Hannover fast die ganze Miete.
Warum flieht Nora?
Aber fast ist vergessen, dass Nora im Kern ein Drama der Entwicklung ist. Die Frau wird am Schluss mit nicht sehr viel weniger Macho-Gehabe drangsaliert als zu Beginn. Nur lag halt zwischen Anfang und Ende, Weihnachtsvorbereitung und Abschied, ihr Hoffen auf "das Wunder": dass nämlich der Gatte den frühen Fehler der Partnerin auf die eigene Kappe nehmen würde. Erst als das nicht geschieht, will sie fliehen – was aber da in ihr geschehen sein muss, kann (oder soll) diese Nora nicht zeigen.
Auch die eher ernsthafte Beziehung zum todkranken Arzt, Hausfreund und Ersatzvater Rank (den Wolf List zu Beginn mit Engelsflügelchen sehr albern durchs Weihnachtszimmer flattern lassen muss!) kann oder soll sich nicht entwickeln. So bleiben Noras Freundin Linde (Susana Fernandes Genebra, mit Knick-Gang und Tellerminen-Frisur) und der Erpresser Krogstad (Mathias Max Hermann, das interessanteste und wandlungsfähigste Profil im hannoverschen Ensemble) als ernsthafteste Figuren im Spiel – schon oft gelang mit diesen Figuren eine Art Gegenentwurf zum Desaster-Paar Helmer.
Aber nie und nirgends gelangt dieser Abend an einen wirklich überraschenden Punkt; das Porträt der Frau, die Ibsen womöglich als Noras Vorbild diente, ist nur eine schöne Geschichte fürs Programmheft. Und dass der junge Anwalt Helmer einst exakt die Bank der Korruption beschuldigte, deren Chef er jetzt wird: ein Episödchen, kein Gedanke. Warum also flieht Nora wirklich – wo sie sich in Hannover problemlos auch noch umentscheiden könnte?
Lars-Ole Walburgs Schauspiel-Intendanz zeichnet sich seit dem Start dadurch aus, dass das Theater Heil und Profil forciert in Projekten sucht und weniger in Stücken. In diesem Zusammenhang ist "Nora" wohl wirklich nicht mehr als Routine – sie musste halt wieder mal ran.
Nora oder Ein Puppenheim
von Henrik Ibsen
Deutsch von Gottfried Greiffenhagen und Daniel Karasek
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Nina Gundlach, Musik: Burkhard Niggemeyer, Dramaturgie: Judith Gerstenberg
Mit: Susana Fernandes Genebra, Henning Hartmann, Mathias Max Hermann, Wolf List, Mirka Pigulla und Burkhard Niggemeyer
www.staatstheater-hannover.de
Lars-Ole Walburg habe "einen Besetzungsglücksgriff getan", meint Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (23.4.2012). Mirka Pigulla, die noch nicht einmal ihre Schauspielausbildung beendet habe, sei "eine ganz besondere Nora. Sie ist burschikos, frivol und doch eher damen- als mädchenhaft. In jeder Szene zeigt sie einen großen Hunger nach Leben, und immer ist ihr Spiel von starker Körperlichkeit geprägt." Walburg inszeniere "wirkungsbewusst". Er setze auf Schauwerte, auf Körperlichkeit und Unterhaltung. Seine Rechnung geht auf": Die Inszenierung sei kurzweilig und überraschend. "Und man wird nicht unter Niveau unterhalten. Walburg findet schöne Bilder für das falsche Leben in falschen Verhältnissen."
Walburg wäre nicht Walburg, wenn er nicht "dem Illusionstheater wieder einmal eine Absage erteilen würde", schreibt Jörg Worat in der Neuen Presse (23.4.2102). Doch kämen Walburgs "Ideen fast immer auf den Punkt und unterstützen die Handlung." Das "Angenehme" an der Inszenierung sei, "dass sie nicht krampfhaft auf superoriginelle Kracher getrimmt ist." Stattdessen mache sie deutlich, "dass wesentliche Inhalte des Stoffes auch gut 130 Jahre nach der Uraufführung aktuell geblieben sind."
Lars-Ole Walburg verweigere sich Ibsens Menschen, so Nicole Korzonnek in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.4.2012). Statt lebendiger Grauzonen gebe es bei ihm nur lauter blasse Puppen zu sehen, die er "jedem noch so billigen Lacher ans Messer" liefere. Das sei "vor allem: überflüssig". Doch dann gäbe es noch die Schauspieler, "die immer mal wieder sich die Slapstick-Banalitäten vom Leib halten, um einen flüchtigen Blick aufs Menschliche zu erlauben." Allen voran Mirka Pigulla: "Sie taumelt, brüllt, qualmt und zuckt sich zwar als zarte Nora mit dickem Dutt auf dem Kopf zunächst von einem Extrem ins nächste. Doch wenn im dritten Akt Lebensentscheidungen gefällt werden müssen, wischt sie sich die psychotische Terrorpuppe zusammen mit dem knallroten Lippenstift aus Gemüt und Gesicht und ist ganz wahrhaftig Mensch, ganz Frau."
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nachtkritikvorschau
Die Schauspieler wirken höchstens auf Soapniveau...
Hab umsonst Geld ausgegeben...
Ibsens Nora wurde wohl nicht richtig gelesen bzw. Es wirkt wie Wikipediawissen... Kein Inhalt!
Zudem schlimme Kostüme und ein schlechtes Bühnenbild....
Mit vielen netten Randbemerkungen zum Schmunzel, Lachen und Erschrecken.
Sicherlich nichts für Theaterkenner mit Fernsehgewohnheiten, eher etwas für Menschen, die Sehen, Fühlen und Zuhören.
Dann lieber GZSZ.....
Da wissen die Leute wovon sie sprechen....