Rotkäppchen und der Wolf - Schauspiel Hannover
Vom Wolf vernascht
von Jens Fischer
Hannover, 23. Mai 2019. Finale! Party? "It's better to burn out than to fade away" ist jedenfalls das Motto der Abschiedswochen der zehnjährigen Ära von Lars-Ole Walburg als Intendant des Schauspielhauses Hannover. So wird bei der letzten Premiere nochmal ganz groß aufgefahren. Das gesamte Ensemble steht auf der Bühne, mit Statisten und Mitarbeitern diverser Abteilungen.
Das Märchen von der sexuellen Erweckung
Wie es sich für den eigensinnigen Chef gehört, lässt er genau das Ereignis werden, was seiner Erfahrung nach die Hannoveraner gar nicht schätzen: einen ganz, ganz langen Theaterabend. In diesem Fall mit einer ganz, ganz kurzen Geschichte. Es war einmal Rotkäppchen. Das schlichte Grimm'sche Märchen ist ja als Moritat in wenigen Sätzen zusammenzufassen, allerdings auch von Hineinlesern, Herausdeutern, Neuschreibern endlos interpretiert worden.
Walburg wählte das auf jede Antwort eine Frage hervorzaubernde, 1988 von Martin Mosebach gedrechselte Versdrama "Rotkäppchen und der Wolf". Es braucht 200 Seiten, bis die junge Protagonistin ihren Initiationsritus fürs sexuelle Erwachsenenleben beendet hat und aus dem Bauch des faszinierend bösen Wolfs herausgeschnitten, also wiedergeboren wird. Zeit für eine Apotheose: Als Stern darf sie fortan am Himmelszelt funkeln und Menschen zum Hinaufträumen animieren. Die könnten dabei die überreichlich literarischen Anspielungen und Zitate des Stücks begrübeln, seine Verweise auf die Rezeptionsgeschichte erkunden oder einfach mal die spaßigen Abschweifungen durchdenken.
Der auserwählte Hausregisseur Tom Kühnel lässt sich dazu nicht animieren, flicht aus der Wortesinfonie keinen Sinnfaden, findet aber auch nicht den radikalen Unsinn in den absurden Abgründen des wohlfeil altklugen Textes. Reißt das Lesedrama nicht auf, bürstet nicht mal neugierig gegen den Strich, abgesehen von wenigen Versuchen, sich dem Versmaß und der manischen Reimerei zu verweigern. Die Darsteller sollen triumphieren und auch Erinnerungen an vergangene Inszenierungen wachrufen. Katja Gaudard und Beatrice Frey gelingt das herausragend, wenn sie die Mutter- und Großmutter-Figur in die megärenhafte Groteske treiben. Alle anderen setzen eher auf dauerironische Putzigkeit.
Popmusik und Waldesweben
Jo Schramms Bühne ist ein Spiegelsaal. Auf die Rückwand projizierte, teilweise auch animierte Fototapeten werden höchst apart von allen horizontalen und vertikalen Flächen reflektiert. Erste Szene: Waldesweben. Dinge, Tiere, Pflanzen: Alles ist beseelt. Ein Chor behauptet mythisch deutscher Tannenwald zu sein. Tiriliert und raunt von den großen W-Fragen des Lebens. Auf schwarzen Ganzkörpertrikots tragen andere Mimen ihre Rollenbezeichnung: Spinne, Fliege, Kuckuck, Zaun und König. Sie fabulieren über Gesetze der Natur, die der Fuchs und eine trippelnde Gans im Tutu praktizieren.
Sarah Frankes Rotkäppchen arbeitet als eitler Backfisch erstmal sehnsüchtig an Klischees erotischen Frauseins. Noch ohne Kennzeichnung ihrer Geschlechtsreife, das menstruationsrote Käppchen, kämmt sie an einer Loreley-Perücke herum und kokettiert mit einer den Raum beglitzernden Quelle, die Jakob Benkhofer als Glamrocker im Singer-Songwriter-Modus spielt. Das A-cappella-Sextett der mahnenden Fliegenpilze trägt Mönchsuniform unterm roten Hut. Dark-Wave-Fans krähen als Postboten herein. Eine Nähmaschine singt ihr Leid, Häschen in der Schule kündet von der Neugier und Vorhänge reflektieren die Unschuld der Materie. Ins Rap-Battle begeben sich Napfkuchen und Lebkuchenmann. Eine Weinflasche intoniert Revolverhelds "Halt Dich an mir fest" und der Jäger gibt tumb dröhnend den Rammstein-Sänger. Mit sehr viel Popmusik wird das Geschehen karikierend kommentiert.
Auch der Schlaf tritt höchstpersönlich auf, schwebt auf einem Kopfkissen wie Frau Holle herein, ist vom Maskenbildner wie Karl Marx hergerichtet, pflegt eine Körperhaltung wie Goethe auf dem von Tischbein gemalten Porträt, redet aber über Lessing als Animateur des Parkettschlummers und darf als einer der wenigen mal extemporieren. Meist wirken die Szenen recht stilisiert, um der sprachlichen Beweglichkeit Mosebachs mehr Raum zu geben. Wobei die Knittelverspointen gern mitgenommen, aber nicht besonders betont werden. Kühnel lichtet das Deutungsdickicht, packt die elementare Frühlings-Erwachen-Handlung und die mäandernde Themenvielfalt in klare, kühle, starke Bilder. Die vor allem gut aussehen sollen – wie die Bühne bei einem Depeche-Mode-Konzert.
Ein operettenlockeres Finale
Wenn Rotkäppchen endlich ein solches trägt, ist sie zwar als naive Dorfliesel kostümiert, aber durchaus wonniglich den aufbrausenden Gefühlen zugetan. Tauscht pflichtvergessen das Tugendprinzip der Erwachsenen gegen das Lustprinzip der Jugend. Ins Bett steigt sie dann zu dem von ihrem rosigen Fleisch schwärmenden Wolf, der gerade die willige Oma vernascht hat. Hagen Oechel gibt den Wolf weniger als Angsteinflößer und Kinderfresser, eher als affäregeilen alten Mann. Nicht nur unsympathisch. Im Gegensatz zu vielen anderen Rotkäppchen-Varianten wird er in Hannover für seine Verführung Minderjähriger mit dem Tode bestraft. Oder war es Vergewaltigung? Mord? Ein letztendlich befreiender Liebesakt? Jedenfalls entschwebt die frisch Entjungferte gen Bühnenhimmel.
Während sich das gesamte Ensemble gegen lichterlohes Burn-out, für inbrünstiges Fade-away entschieden hat. Es blendet immer leiser singend seine chorische Darbietung aus, so dass die Zuschauer ihr applaudiertes Dankeschön für eine heraufordernde Dekade politisch engagierten, ästhetisch experimentierfreudigen Schauspiels darüberblenden können. Da möchte man auch nicht stören. Denn das, was Walburgs Intendanz bisher kennzeichnete, lässt die finale Produktion vermissen. "Rotkäppchen" wirkt wie eine Revue aus Szenen, die einst aus anderen Produktionen herausgekürzt und nun Operetten-locker zusammengefasst wurden. Party? Leider nur nett lustig.
Rotkäppchen und der Wolf: Ein Drama
von Martin Mosebach
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Marysol del Castillo, Musikalische Leitung: Tomek Kolczynski, Video: Hannah Dörr, Dramaturgie: Judith Gerstenberg, Frederieke Tambaur.
Mit: Lisa Natalie Arnold, Johanna Bantzer, Jakob Benkhofer, Susana Fernandes Genebra, Rainer Frank, Sarah Franke, Beatrice Frey, Katja Gaudard, Philippe Goos, Maximilian Grünewald, Günther Harder, Henning Hartmann, Mathias Max Herrmann, Silvester von Hösslin, Janko Kahle, Wolf List, Christoph Müller, Daniel Nerlich, Hagen Oechel, Dennis Pörtner, Andreas Schlager, Jonas Steglich, Sebastian Weiss, Statisterie, Mitarbeiter*innen des Hauses und Musiker Tomek Kolczynski
Premiere am 23. Mai 2019
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspielhannover.de
Kritikenrundschau
Sinnlichkeit und Absurdität – diese beiden Urkräfte des Theaters bedient der Abend bedient aus Sicht Jörg Worat von der Hannoversche Neue Presse (25.5.2019) reichlich, der von einem "originellen Verwirrspiel" spricht. Dies allerdings schließe Ernsthaftigkeit nicht aus, mit der der Abend ebenfalls beim Kritiker punkten kann. Das Ensemble trete fast in Gänze an und schmeisse sich mit Volldampf in Mosebachs Mischung aus "Märchen, Mythos und Mummenschanz".
Ronald Meyer-Arlt schreibt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (online 27.5.2019, 00:15 Uhr): Das Ensemble von Lars-Ole Walburg verabschiede sich "lautstark und selbstbewusst mit einem großen Feuerwerk". Der erste Teil sei mit der „Rotkäppchen“-Premiere abgebrannt worden. Der Autor sage, das Stück gebe "überhaupt keine Antwort auf irgendeine Frage". Das sei richtig. Es sei nicht mehr als das Märchen der Brüder Grimm, "nur entsetzlich breitgeklopft und ausgewalzt". Diese "Wortoper" habe etwas von einem "Studententheaterulk oder einer großartig gelösten Probeaufgabe aus dem Seminar für kreatives Schreiben". Eigentlich unspielbar. Für Erwachsene, die bereit seien, sich "auf das irre Spiel einzulassen, kann es aber doch ganz spaßhaft sein". Jedenfalls wird viel gelacht. Viele Schauspieler demonstrierten hier noch einmal, "was für ein starkes Ensemble mit Lars-Ole Walburg zehn Jahre lang in Hannover gearbeitet hat". Aber "irgendwie" am "falschen Stück".
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