Atalanta - Die freie Theatertruppe "Das letzte Kleinod" spielt in Wilhelmshaven einen Abend zum Thema Piraterie
Afrikasehnsucht? Lieber nicht
von Andreas Schnell
Wilhelmshaven, 6. September 2012. Statt Paletten gibt es Gummireifen. Das, weil "Atalanta" auch in Afrika aufgeführt wird. Und da, genauer in Tansania, ist es laut Jens Erwin Siemssen, Kopf der Theatergruppe "Das Letzte Kleinod", eine leicht verfügbare Requisite. Aber wie schon zuletzt in der Inszenierung Filchner-Barriere zu sehen war, wo Industriepaletten die einzigen Requisiten waren, lässt sich auch mit auf den ersten Blick ganz untheatralischen Gegenständen eine Menge anstellen. In "Atalanta", der neuen Produktion des Letzten Kleinods, stehen die Reifen für Waffen, Schwimmwesten, Brotteig, Helme; sie sind Boote, Geldkoffer und vieles mehr.
Es geht um Piraterie. Ein Thema, das in den letzten Jahren hierzulande verstärkt ins Bewusstsein rückte, als auch deutsche Frachtschiffe Opfer von Angriffen wurden. Atalanta, das ist auch der Name einer multinationalen Mission der EU "zum Schutz von humanitären Hilfslieferungen nach Somalia, der freien Seefahrt und zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias am Horn von Afrika", wie Wikipedia uns lehrt, und zugleich der Name des dazugehörigen Flottenverbandes.
Im geschlossenen System
Damit greifen Siemssen und sein Team jetzt ein aktuelles Thema auf. Was, anders als bei den sonst eher historischen Stoffen der Truppe eine Positionierung erschwert. Und so gibt es zwar durchaus eine markante Botschaft: Es ist eine Mafia, ein großes System, und jeder weiß das. Aber es bleibt auch manches offen in diesem Stück, das sein Thema von mehreren Seiten beleuchtet, die Brutalität der Piraten zeigt, aber auch nicht verschweigt, wie bei den internationalen Truppen ein kaum weniger brutaler Zynismus auftritt und dass auch in Europa mit der Piraterie Geschäft getrieben wird.
Nähe und Distanz greifen auf interessante Weise ineinander: Die Geschehnisse, die Figuren, zwischen denen im Alltag bekanntlich Kontinente und Meere liegen, sind hier zwischen Containern und – natürlich – Gummireifen während des ganzen Stücks direkt aufeinander bezogen, während die Reduktion der Ausstattung Distanz zum Geschehen herstellt, die Authentizitätsfalle verhindert. Auch, das ist schließlich eine ganz entscheidende Spezialität und Stärke dieses Theaters, wieder ist der Hafen Spielort, der an die Realitäten mahnt: für die erste Staffel von Aufführungen inklusive Uraufführung der immer noch nicht fertiggestellte Jade-Weser-Port, für die zweite der Bremerhavener Containerhafen, für eine dritte der Hafen von Cuxhaven, weitere Aufführungen finden dann in Tansania statt.
Vor schönster Hafenkulisse
Und auch wenn im neuen Container-Großhafen noch nicht gearbeitet wird, sorgen die so genannten "Reach Tracker", die später die Container auf dem Gelände umhertransportieren werden, für eine grandiose Kulisse. Hier wird schon Probe gefahren, erstaunlich leise übrigens und beinahe ästhetisch illuminiert, während eine sachte Brise vom Meer her weht und das letzte Licht der Sonne die Wolken am Horizont aufleuchten lässt.
In diesem Setting erzählt "Atalanta" von den Ereignissen auf gekaperten Schiffen, von den oft erfolglosen Versuchen, sich davor zu schützen, mit Nato-Draht und Schmierseife, von Folter, Standgerichten, von dem Gegenangriff durch ein so genanntes Boarding-Team der internationalen Schutztruppen, von Lösegeldverhandlungen, aber auch von den politischen Hintergründen. Wie aus der Piraterie eine Industrie geworden ist in Somalia, einem "failed state", der in der deutschen Wikipedia sogar als "ehemaliger Staat" geführt wird.
Klare Sprache
Das Ensemble besteht aus drei Tansaniern, einer Niederländerin und zwei Deutschen, man spielt auf Englisch, Deutsch und Kisuaheli, eine Sprachbarriere gibt es dennoch nicht. Gespielt wird es sehr körperlich, Reifen werden durch die Luft geworfen, es wird ein Mann in ihnen über die Spielfläche gerollt. Klare Bilder, eine klare Sprache. Zwar bleiben Fragen offen wie die, wer denn eigentlich und wie in Europa an der Piraterie verdient. Auch das Hinterland bleibt eher geheimnisvoll, eine Mafia, ein gescheiterter Staat, soviel lässt sich herauslesen. Auch, dass die Piraten selbst nicht nur Täter, sondern auch Opfer sind, unterernährt, schmutzig, ärmlich gekleidet. Aber mit Kalaschnikows ausgerüstet und mit Panzerfäusten.
Wie das zusammengeht wird eher angedeutet, was an Leerstellen bleibt, ist auch der Methode geschuldet. Die Interviews, aus denen Siemssen "Atalanta" collagierte, können natürlich nur einen Teil dessen schildern, was im Golf von Aden und anderen Teilen der Weltmeere geschieht, eine Portion Subjektivität bleibt immer. Aber Siemssen will auch keine Antworten geben, sondern dokumentieren. Und wie er das macht, ist höchst sehenswert.
Atalanta
von Jens-Erwin Siemssen
Regie: Jens-Erwin Siemssen, Co-Regie: Melanie Pieper, Dramaturgie: Juliane Lenssen.
Mit: Dominik Breuer, John Gambula, Gonny Gaakeer, Huruma Naule, Nikolas Knauf, Leon Ongaya.
www.das-letzte-kleinod.de
Angetan zeigt sich Norbert Czyz in der Wilhelmshavener Zeitung (8.9.2012): Siemssen verweigere sich einem "filmischen Realismus, der einen unangemessenen Voyeurismus bedienen könnte". Glaubwürdigkeit gewinne der Abend durch den durchweg dokumentarischen Charakter der Inszenierung. "Sie ist praktisch ein Patchwork aus Äußerungen, die er bei der Recherche gewonnen hat. Kein Zeigefinger."
Als ein "dichtes Stimmungsbild" lobt auch Jürgen Westerhoff den Abend in der Nordwestzeitung (8.9.2012). Nur wenige Mittel benötige der Abend. Authentische Glaubwürdigkeit gewinne die Inszenierung "durch den Kunstgriff, die drei afrikanischen Darsteller englisch sprechen zu lassen". Bemerkenswert sei außerdem, "wie vielseitig der Haufen Autoreifen eingesetzt wird".
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