Wimmelwesen aus Avataristan

10. August 2023. Die französische Compagnie um Marine Brutti, Jonathan Brouwer und Arthur Harel arbeitet nicht nur für das Theater sondern auch für Pop-Weltstar Madonna. Mit einem überbordenden Tanz-Theater-Spektakel hat (La)Horde nun das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet.

Von Michael Laages

"Age Of Content" von La Horde eröffnet das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg © Blandine Soulage

10. August 2023. Wieder spielt ein Auto mit auf der Bühne – aber diesmal wird es nicht (wie neulich bei "Theater der Welt" in Frankfurt in der Cadela Forca Trilogy der Brasilianerin Carolina Bianchi) zum Ort gefährlicher Gefangenschaft. Diesmal tobt Gewalt um das Auto herum: eineinhalb Dutzend Wesen, ganz in Hellgrün gekleidet und ohne Gesicht, kämpfen um die Vorherrschaft über das ferngesteuerte und mit sehr viel Technik ausgestattete Fahrzeug. Skelettiert ist es, nur Kühler vorn, Dach und Kofferraum hinten können beklettert werden; das reicht aber allemal für wilde Ringkampf-Schlachten.

Maschine oder Mensch?

Wer darf als Sieger auf dem Dach stehen, wer fliegt runter – die hellgrüne Horde kämpft es aus. Und da die Karre mitspielt und durch hydraulische Kipp-Bewegungen nach links und rechts sowie mit Druck- oder Pressluft-Hüpfern die Wimmelwesen höchstpersönlich von sich runter werfen kann, ist bald schon nicht mehr auszumachen, wer hier die Oberhand behalten wird: Maschine oder Mensch. Mit dem sehr internationalen "Ballet national de Marseille" gelingt (La)Horde , dem choreographischen Trio um Marine Brutti, Jonathan Brouwer und Arthur Harel, der spektakuläre Auftakt für das Internationale Sommerfestival in der Hamburger Kampnagelfabrik. Das trickreiche Autoskelett rollt bald durch den Vorhang wieder in die Hinterbühne, und eine ganz andere Geschichte beginnt.

Durch eine Klappe im Bühnen-Himmel fällt eine Figur herab in den Raum und landet (vermutlich weich) hinter einem Haufen Pappkartons, die im weiteren Verlauf überhaupt keine Rolle mehr spielen. Die Bewegungsmotorik der Figur ist jetzt ganz anders und sehr markant – Hinterteil und Bauch jeweils herausgestreckt, wirkt dieser wie in der Folge auch jeder andere Körper nicht nur wie ein Fragezeichen, sondern auch wie von KI oder sonstwie computerisch generiert; als wären Tänzerinnen und Tänzer Nachfahren der Pokémons und als spielte das Stück in Avataristan.

Das Schönste hoffen, das Schlimmste befürchten

Bis alle sich aus den hellgrünen Klamotten gepellt haben, kommen die Figur, die vom Himmel fiel, und ein sehr jung gestylter Partner, dem die Hose stets in halber Hintern-Höhe hängt, einander in munteren Wackelbildern immer näher; dann stürmt das Ensemble wieder komplett auf die Bühne – jeder und jede jetzt mit der Wackel-Motorik der beiden Protagonisten. Aber auch die Aggression vom Beginn ist wieder präsent – zuweilen formiert sich das wüste Herumtoben zum kämpferischen Kollektiv. Und alle wären jetzt auch mit Waffen denkbar.

Age of Content La Horde 3 BlandineSoulage uMann und Frau blicken besorgt in die Zukunft © Blandine Soulage

Außerdem hat sich szenisch Einiges verändert: das Publikum schaut jetzt in eine düsterrote und vielleicht prähistorische Höhle. Der Bühnensound ist derweil immer noch im Reich ruppiger Klang-Collagen zu Hause (obwohl das nun wirklich nicht die "laute Musik" ist, vor der Kampnagel übervorsichtig warnt!). Erst ganz zum Schluss, im vierten (oder dreieinhalbten) Teil, übernimmt die Komposition eine der Hauptrollen. Mit einer Art Bekenntnis endet Teil 2 – von Zukunft und Sorge sprechen Mann und Frau und spricht das Ensemble. Sie (und wir) alle erhoffen das Schönste und fürchten das Schlimmste – das ist eine Art Zeitgeist- und Generationen-Motto.

Lebendig und aufregend bis zur letzten Pose

Das Schönste, was zu hoffen bleibt, wäre wohl Liebe: um die geht’s im zweigeteilten Finale. Erst probiert ein einzelnes Paar möglichst phantasievolle erotische Stellungen aus - und das angedeutete Gelecke, Gefummel und Gerammel nimmt schon ziemlich explizite Formen an. Jeder ist mit jeder und jedem zugange … und das Tableau erweitert sich Szene um Szene auf alle. Ein echter Knüller kommt hinzu: das Team von (La)Horde hat Musik für Orchester und Chor aus dem reichen Schaffen von Philip Glass ausgewählt für die finale Kollektiv-Choreographie – und die ist mindestens so aufregend und mitreißend, wie es vor hundertzehn Jahren die von Igor Strawinsky war für "La Sacre du Printemps", das erotische Frühlingsopfer.

Age of Content La Horde 2 BlandineSoulage uKörper und Gliedmaßen im Muster der Bewegung © Blandine Soulage

Jetzt geht’s wunderbar wild und wüst durcheinander, und das technische Material der Choreographie, die Muster der Bewegung also, driften immer weiter in die Pop-Kultur der Discotheken. Plötzlich spielen alle auf der Bühne mit kleinen Tricks und Gimmicks, Schritt- und Schlenker-Kombinationen. Wie improvisiert wirkt das (was es natürlich überhaupt nicht ist!), mit überbordendem Feuer vorangetrieben von der Glass-Musik, lebendig und aufregend bis zur allerletzten Ensemble-Pose. Es wäre übrigens ein Traum, dieses Finale mit einem richtigen Orchester zu erleben, nicht nur mit Musik vom Band.

Rauschend-entfesseltes Finale

Jetzt ist auch vergessen, dass "Age of Content" eher montiert wirkt und als Gesamt-Dramaturgie nicht überzeugt – wie überall und immer wieder auch an den Stadt- und Staatstheatern, wenn mal wieder drei Choreographinnen und Choreographen einen Ballett-Abend gemeinsam verantworten. Wer weiß – vielleicht arbeiten die drei Mitglieder vom (La)Horde-Kollektiv tatsächlich so, und in Frankreich arbeiten sie ja an den "normalen" städtischen und staatlichen Bühnen größerer und kleinerer Städte: vorbildlich für das Tanztheater in deutscher Nachbarschaft.

Allerdings arbeiten die wilden Geister von (La)Horde eben auch für Pop-Ikone Madonna. Was das heißt, ist im rauschend-entfesselten Finale zu spüren. 

Age of Content
von (La)Horde
Konzept, Dramaturgie und Regie: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel, Choreographie (La)Horde mit den Tänzerinnen und Tänzer, Trainerinnen und Trainern des "Ballet national de Marseille", Bühne: Julien Peissel, Musik: Pierre Gavia, Gabber Eleganza, Philip Glass, Kostüm: Salomé Poloudenny.
Mit: Sarah Abicht, Nina-Laura Auerbach, Alida Bergakker, Isaia Badaoui, Izzac Carroll, Joao Castro, Titouan Crozier, Myrto Georgiadi, Nathan Gombert, Eddie Hookham, Ibai Jimenez, Nonoka Kato, Yushiko Kinoshita, Amy Lim, Jonatan Myhre Jörgensen, Aya Sato, Paula Tato Horcajo, Elena Valls Garcia, Nahimana Vandenbussche, Antoine Vander Linden.
Deutschlandpremiere am 10. August 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de


Kritikenrundschau

"Die beschwingten, wie auch die eher erzählerischen Tanztheater-Teile haben ihre choreografischen Stärken - und offenbaren einige Schwächen. Vor allem stehen sie disparat nebeneinander, wachsen nicht zu einem Ganzen zusammen. Darüber kann auch das atemberaubende Finale nicht hinwegtäuschen", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (11.8.2023).

"Das Problem des Abends (...): Er hat keinen Kern", so Peter Helling auf NDR Kultur (10.8.2023). "Und er hat ein brillantes Ensemble, das leider nur zum Einsatz kommt, um eine Botschaft zu wiederholen, wieder und wieder: Unser Blick in die virtuelle Welt, ob Computerspiele, Social Media oder Filme, ist gierig. Wenn wir so weitermachen, landen wir alle im Schredder." "Nur, das ist schnell erzählt", so Helling. "Bei aller tänzerischen Kraft und Brillanz: ein schwacher Auftakt des Festivals."

"Es gibt virtuose Stunts zu sehen, neue Formen von Zärtlichkeit, aber auch brutale Demütigungen und grotesk-komische Bewegungen, die an Videospiel-Figuren wie Super Mario erinnern – inklusive lustigem Klempner-Dekolleté", berichtet Jürgen Ziemer im Freitag (11.8.2023). "Es ist ein großes Vergnügen den Tänzern dabei zuzusehen, wie sie diesem dystopischen Thema auch amüsante Seiten abgewinnen und im Finale so ekstatisch wie komplex zur Musik von Philip Glass kreiseln. Ein Hauch von Hoffnung."

"Ein bisschen Content, ein bisschen Porno" ist die Kritik von Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.8.2023) übertitelt. "Das Stück hat trotz der harten Einsätze der Tänzer als Feier-Roboter echte Längen. Aber vielleicht ist das kalkuliert und soll sicherstellen, dass die Virtuosität und die Tiktok-Bezüge nicht den Kunstcharakter der Veranstaltung infrage stellen. Das schweißtreibende, total unterhaltsame Musicalende mit seiner verfremdeten Philip-Glass-Musik und seinen Twyla-Tharp-Zitaten reißt das Publikum todsicher von den Plätzen, so auch auf Kampnagel. Und darum ging es doch, oder? Likes, Baby, Likes."

"Die Avatare sind unter uns, so ungefähr könnte die Message von 'Age of Content' lauten. Erst haben wir sie erschaffen, jetzt ahmen wir sie nach", schreibt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (25.8.2023) zum Gastspiel der Produktion bei Tanz im August. Das Stück sei "ein Knaller", so Schlagenwerth, vor allem das Finale: "Lieber sterben oder für immer leben, das bleibt die unbeantwortete, in höchst akrobatische Kopulationsbewegungen mündende Frage, die bald zum Massensex der gesamten 18-köpfigen Compagnie führt. Vorbei ist die Ruckelei. Jetzt geht es ausgesprochen flüssig zu. Und dann, irgendwann, wird einfach nur noch getanzt. Rauschhaft, orgiastisch, beglückend."

Kommentare  
Age of Content, Berlin: Großes Spektakel
Das erwartet große Spektakel boten (LA) HORDE/ Ballet national de Marseille mit ihrer neuen Produktion Age of Content. Beeindruckend ist gleich das erste Bild: ein bis auf das Skelett ausgeweidetes Auto wird von einer Gruppe vermummter Gestalten in Ganzkörper-Overalls bestiegen. Die folgende Szene wird zum minutenlangen Kampf Mensch gegen Maschine, das ferngesteuerte Auto versucht, die Menschen abzuwerfen, neigt sich in alle Richtungen, die Gruppe klammert sich fest, sucht Halt auf dem schwankenden Wrack.

Die Stärke des Trios Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel, die sich hinter dem Label „(LA) HORDE“ verbergen, ist es, kleine Tableaus zu entwerfen. Knapp 90 Minuten lang erleben wir einen bunten Reigen aus Stuntshows, angedeutetem Sex des ganzen Ensembles oder eine ausgelassene Party zu Minimal Music von Philipp Glass.

Age of Content spiegelt die Welt von YouTube und TikTok: narzisstische Selbstdarstellung in gekonnten Choreographien auf der Jagd nach Followers und Likes. Das ist handwerklich gekonnt und schön anzuschauen, dem Panorama aus vielen Einzelszenen fehlt aber der große dramaturgische Bogen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/12/tanz-im-august-2023-festival-kritik/
Kommentar schreiben