Der Carpenter Effekt - Auf Kampnagel in Hamburg erfüllen sich Mónica Antezana und Jochen Roller den Traum vom Musical unter prekären Bedingungen
Ein hartes Brot
von Falk Schreiber
Hamburg, 3. Mai 2013. Es ist so armselig. Mag ja sein, dass der Berliner Tänzer und Choreograf Jochen Roller sich zu seinem 20. Bühnenjubiläum ein Musical in der Hamburger Kampnagel-Fabrik wünscht, mitreißende Songs, atemberaubende Kostüme, fantastische Massenszenen, aber man muss auch mal den Tatsachen ins Auge sehen: Ein Musical ohne Samtvorhang, das ist nichts. Und wenn der Vorhang schon 15.070 Euro kostet, bei einem Budget von gerade mal 15.000 Euro, dann braucht man an atemberaubende Kostüme nicht einmal zu denken.
"Der Carpenter Effekt" von Roller und der Hamburger Choreografin Mónica Antezana stellt die ökonomische Basis des Tanztheaterabends in den Mittelpunkt: "Was tun, wenn die szenischen Phantasien großartig sind, das Budget aber nicht?" Man könnte die Bühne leer lassen und auf eine grellweiße Leinwand wie eine Powerpointpräsentation die Bedingungen des Abends projizieren. Man könnte die Situation selbst als Performance deklarieren: Ein Zuschauer hüstelt, einer schaltet sein Mobiltelefon aus, das ist doch schon eine Choreografie, da!, plötzlich schauen alle noch einmal nach dem Handy, toll, eine Massenchoreografie. Man könnte einen Witz reißen.
Wir carpentern uns ein Bühnenbild
Dass freies Theaterschaffen ein hartes Brot ist, ist keine neue Erkenntnis. Wer sich die Zustände verdeutlichen will, kann sich in der Facebook-Gruppe "Die traurigsten & unverschämtesten Künstler-Gagen & Auditionerlebnisse" umfassend informieren – Tänzer, Sänger und Schauspieler tauschen sich hier darüber aus, mit was für lächerlicher Entlohnung sie abgespeist werden, und obwohl das nach zwei, drei Kommentaren regelmäßig in übles Subventionstheater-Bashing ausartet, muss man festhalten, dass Honorare und finanzielle Ausstattung im Theater jeder Beschreibung spotten. Und natürlich kann man auch andersrum fragen: Braucht man denn wirklich viel Geld? Braucht man Bühnenbilder, braucht man Kostüme? Wofür hat man Phantasie? Der britische Naturforscher William Benjamin Carpenter beschrieb 1852 erstmals den Carpenter Effekt, nach dem das Denken an eine bestimmte Bewegung die Tendenz zur Ausführung ebendieser Bewegung auslöst – also! Ein guter Tänzer kann doch das Musical herbeizaubern, im Denken!
Zehnmal Elvis, zehnmal Audrey
Kann er nicht, bei aller Mühe. Und Mühe geben sich Antezana und Roller, ohne Frage. Zwar gibt es wirklich keinen Vorhang, dafür aber Musik: Die Gema lässt mit sich reden, wenn die Performer selbst nicht bezahlt werden, und, haha!, Bezahlung für Bühnenkünstler, es glaubt doch wirklich niemand, dass es da etwas geben dürfte. Also wird fröhlich durch die Halle gewippt, Swing, Disco, "Blame it on the Boogie". Und auch die Massenszenen lassen sich faken, indem Antezana und Roller Pappfiguren auf die Bühne schleppen, zehnmal Audrey Hepburn, zehnmal Elvis, sieht tatsächlich beeindruckend aus, in Formation (und ob die Rechte an den Starfotos angefragt wurden, das fragt man besser nicht nach). Nur hat das dann eben zur Folge, dass auf der Bühne Pappkameraden stehen, während die Künstler plötzlich nur noch Kulissenschieber sind.
Selbst das Kostüm, mit dem Antezana nach einer Weile durch den Saal schwebt, glitzert zwar apart (es besteht aus CDs, hübscher Regenbogen-Effekt), sobald sie sich aber umdreht, erkennt man, dass ihre Schärpe ein alter Karton ist. Ein Karton jenes Internet-Versandhändlers, der kürzlich erst wegen unmenschlicher Arbeitsbedingungen in der Kritik stand, das sind die Kontexte, die hier aufgemacht werden. Schon ein recht hohes Diskursniveau, das dieses Stück anschlägt.
Wir sehen uns 2022 in Katar
Aber Vorsicht! Indem man "Der Carpenter Effekt" als gelungen lobt, rechtfertigt man die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Produktion entstanden ist! Also: Das Stück ist klug, aber es ist auch ermüdend. Schon nach fünf Minuten, noch während der Textprojektionen, stöhnt jemand im Publikum auf: "Wir haben es langsam verstanden!" Klar, viel gibt es nicht zu verstehen, die Verhältnisse sind unmöglich, Punkt. Aber wie Antezana und Roller diese Aussage in Nicht-Theater gießen, das hat eine fiese Qualität.
Am fiesesten ist aber eine kleine biografische Notiz im Programmzettel: Roller sei choreografischer Berater für die Eröffnungsfeier der Fußball-WM 2022 in Katar, Antezana Gründerin des Tanzzentrums Movelab in Dubai. Mag sein, dass das stimmt (auch wenn man sich Rollers spröde-verschrobene Ästhetik nur schwer auf einer Eröffnungsfeier vorstellen kann), egal: Es spricht auf jeden Fall für sich, wenn man sich vorstellt, wo die finanziellen Mittel für avancierte Performance stecken. Hierzulande jedenfalls nicht.
Der Carpenter Effekt
von und mit Mónica Antezana und Jochen Roller
Technik: Holger Duwe, Ralph Rothgaenger (Bühne), Michael Lentner, Henning Eggers (Licht), Lars Müggenburg (Ton).
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.kampnagel.de
So "so frech wie hinterhältig klug" findet –itz in einer Kürzestbesprechung für das Hamburger Abendblatt (4.5.2013) diesen Abend von Roller/ Antezana, der ein "Anti-Musical im Kopf" provoziere.
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