Entschiedene Empathie

11. August 2023. Fürs Internationale Sommerfestival auf Kampnagel hat die Wiener Immersionstheater-Truppe Nesterval eine Hamburger Version ihrer Inszenierung "Die Namenlosen" erarbeitet, die von der Verfolgung der LGBTQIA*-Community durch die Nazis erzählt und Schicksale lebendig macht.

Von Stefan Forth

"Die Namenlosen" ist ursprünglich eine Wiener Produktion, Nesterval haben fürs Internationale Sommerfestival eine Hamburger Version erarbeitet © Lorenz Tröbinger

11. August 2023. Die Welt ist ein düsteres Labyrinth, dessen klaustrophobisch schwarze Gänge von Stunde zu Stunde unheimlicher werden. Nur in der Kantine wird immer noch gesungen, getanzt und gelacht. Es ist der Zufluchtsort für "Die Namenlosen", von den Nationalsozialisten drangsalierte Schwule und Lesben, denen die österreichische Theatergruppe Nesterval jetzt auch beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg Gesichter und Stimmen gegeben hat.

Folge der Figur deiner Wahl

Da ist zum Beispiel der Fotograf F., der es sich zum schönen Schein für die Außenwelt einigermaßen behaglich in einer Ehe mit der ehemals berühmten Filmschauspielerin R. eingerichtet hat. Das Geheimnis dieser immerhin fast 20 Jahre währenden Beziehung: Sex – aber nicht miteinander, sondern mit wechselnden Partner*innen des jeweils eigenen Geschlechts. So weltgewandt sich dieser F. auch gibt, so geil machen ihn doch vor allen Dingen Arbeiterjungs aus der nahen Porzellanfabrik, die er irgendwo an den Landungsbrücken von St. Pauli klarmacht.

DieNamenenlosen1 Lorenz Troebinger uSex mit wechselnden Partnern des eigenen Geschlechts © Lorenz Tröbinger

Nesterval-Kopf und Regisseur Martin Finnland gibt diesen hedonistischen Lebemann als relativ schmierigen Typen, der im ersten Teil des Abends vor allen Dingen auf seinen eigenen Vorteil und noch viel mehr auf sein eigenes Vergnügen aus ist. Alles andere als ein Opfer, auch wenn F. später genau dazu wird. Den deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 hält dieser Kerl noch für halb so wild, möglicherweise sogar für gerechtfertigt, jedenfalls für irgendwie aufregend, denn: "Es ist die Zeit der schönen Männer in schönen Uniformen." Wenn er Sätze wie diesen sagt, fixiert Finnland mit neugierig fragendem, oft auch provozierendem Blick Einzelne aus dem Publikum.

Einfach nur zugucken ist hier nämlich nicht. Besucher*innen sollen und dürfen eintauchen in die Welt der Figuren, folgen im Laufschritt erst dem einen, später der anderen auf dem Weg vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zu dessen Ende. So erlebt praktisch jeder und jede im Publikum eine ganz individuelle, eigene Kette von Ereignissen, weil sich die Geschichten und Biographien parallel zueinander in jeweils benachbarten Gängen, Nischen und Räumen des Nesterval-Labyrinths entwickeln.

Aus der Perspektive von Damals

Natürlich kreuzen sich dabei immer wieder Wege. Etwa wenn sich der junge Arbeiter P. im Fotostudio des F. als Aktmodell ein paar Mark dazuverdienen möchte. Spieler Stefan Pauser behauptet sich in dieser Szene gegen den selbstbewusst geifernden Mann an der Kamera mit einer gekonnten Mischung aus verschmitztzer Naivität und jugendlicher Chuzpe, wenn er nackt mit Pfeil und Bogen posieren soll, und in Momenten wie diesen entwickelt der Abend eine feine Komik – bevor die beiden Männer einander mit Verrat drohen, und die ohnehin allgegenwärtige Gefahr von Entdeckung und Denunziation wieder in den Vordergrund tritt.

"Ich kann nicht mal sagen, wann der eine Tag war, wo sich alles verändert hat," fasst der Fotograf F. an einer Stelle die bedrohliche Entwicklung seines Lebens zusammen. Es ist eine große Stärke der Inszenierung, dass sie diesen schleichenden Prozess fühlbar macht, dass sie die Gedankenwelt und die Handlungsoptionen der Figuren aus der Perspektive ihrer Zeit heraus betrachtet – und damit diejenigen Nachgeborenen erstmal auflaufen lässt, die das grausame Ende der Geschichte natürlich kennen. 

DieNamenlosen4c Lorenz Troebinger uSound, Licht und Schauspiel wirken perfekt zusammen © Lorenz Tröbinger

Punktgenau gesetzte Lichtstimmungen, ein unaufdringlich suggestives Sounddesign und die schnörkellose Selbstverständlichkeit des Spiels entwickeln einen kraftvollen Sog. Aus der unmittelbaren körperlichen Nähe zum Geschehen wird schnell eine emotionale. Dazu trägt nicht zuletzt die Musik bei, die Nesterval-Mitglied Alkis Vlassakakis zusammengetragen und zu der der Komponist Julian Muldoon eigens neue Stücke beigesteuert hat. In den schlimmsten, beklemmendsten Situationen sorgen mal tröstlich, mal sehnsuchtsvoll süßliche Melodien für grausame Kontraste, die oft heftig berühren. Etwa wenn die Staatsmacht eines ihrer Opfer in einer Badewanne voll kaltem Wasser erniedrigt und foltert – oder wenn wieder einer oder eine seine oder ihre Sexualität hinter Gittern mit dem Leben bezahlen muss. 

Ein Kleiderberg als Denkmal für die Ermordeten

Und so wächst der unheilverkündende Kleiderberg in der Mitte dieses Lebenslabyrinths in einem ehemaligen Speicherschuppen der Hamburger HafenCity immer weiter an: Wer sich das Leben nimmt oder ins KZ Neuengamme gebracht wird, legt ein Stück Kostüm dort ab. Auf dem Weg zu einer der Deportationen, die in der historischen Realität tatsächlich nur wenige hundert Meter vom Spielort dieses nachhaltig aufwühlenden Theaterabends entfernt stattgefunden haben. 

Das alles ist natürlich ziemlich plakativ gesetzt, und die Inszenierung hält mit ihren Botschaften insgesamt nicht groß hinterm Berg: Der katholische Pfarrer Köck etwa, dem Spieler Peter Kraus ein angenehm menschliches Antlitz verleiht, hält im Angesicht des Tötens und Vernichtens lange Zeit Beten für das Höchste der Gefühle, bevor ihm Zweifel kommen und er weiterleben möchte, "damit wir all die Geschichten erzählen, die niemand hören will." Ein Auftrag, den die Inszenierung übernimmt.

Funktioniert auch ohne Nebelmaschine 

Dabei gerät in der Umsetzung zwar manches holzschnittartig – das aber im besten Sinne eines Volkstheaters. Vor allem gegen Ende entwickelt der Abend allerdings stellenweise auch mal einen Hang ins allzu Melodramatische, wenn mit großer Geste eilige Fluchten nach Südamerika geplant werden und die schnelle Verdichtung der Schicksale keinen Raum mehr für Zwischentöne lässt. Bevor in einem wuchtigen, überwältigenden (Beinahe-)Schlussbild dann plötzlich doch Namen von (vielen) Männern und (wenigen) Frauen auf eine Leinwand projiziert werden, die tatsächlich im norddeutschen Raum von den Nationalsozialisten wegen ihrer Sexualität umgebracht worden sind.

Fast wäre dieser Premierenabend nicht über die Bühne gegangen, weil die Nebelmaschine der Inszenierung in letzter Sekunde ihren Dienst versagt hatte. Es ist ein Segen, dass sich das Nesterval-Team dafür entschieden hat, dieses nachhallende Stück immersiven Theaters trotzdem aufzuführen. Denn auch ohne künstliche Nebelstimmung steht fest: "Die Namenlosen" gehen nahe, weil sie mit entschiedener Empathie und in ausgefeilter Dramaturgie von Menschen erzählen, die wegen ihrer Art zu lieben und zu leben zu Opfern wurden. Weil die Leidenschaften dieser Menschen an diesem Abend spürbar werden. Und zum Glück wird ganz am Schluss in der Kantine wieder gesungen, getanzt und gelacht. Mutiges, sinnliches, konsequentes und relevantes Theater. 

Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg
von Nesterval
Regie: Martin Finnland, Buch: Teresa Löfberg, Co-Autor*innen: Martin Finnland, Gisa Fellerer, Lorenz Tröbinger, Bühne: Andrea Konrad, Kostüme: Dritan Kosovrasti, Komposition: Julian Muldoon, Text/Gesang: Sarah Muldoon, Sounddesign: Lorenz Tröbinger, Alkis Vlassakakis, Musikkuratierung/Video: Alkis Vlassakakis, Wissenschaftliche Mitarbeit: Andreas Brunner, Hannes Sulzenbacher, Jürgen Pettinger, Dramaturgie: Tove Grün.
Mit: Rita Brandneulinger, Gellert Gerson Butter, Sven Diestel, Gisa Fellerer, Martin Finnland, Julia Fuchs, Laura Hermann, Romy Hrubes', Peter Kraus, Aston Matters, Willy Mutzenpachner, Stefan Pauser, Sophie Riedl, Johannes Scheutz, Chiara Seide, Lorenz Tröbinger, Martin Walanka, Alkis Vlassakakis, Christopher Wurmdobler.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause
Eine Koproduktion von Nesterval mit dem Internationalen Sommerfestival Kampnagel, basierend auf einer Koproduktion mit brut Wien
Premiere am 10. August 2023

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

Man spüre, wie schleichend Misstrauen und Angst vor Denunziation, schließlich Opportunismus um sich greifen. Die Arbeit sei "ein eindringliches Panoptikum des Schreckens", "historisch tiefgreifend, intensiv recherchiert und durchweg überzeugend", so Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (14.8.2023). "Ein absolut dringlicher, sehr tief und schmerzlich berührender Theaterabend der zugleich Erinnerung, Gedenken und Trauerarbeit ist."

Kommentare  
Die Namenlosen, Hamburg: Nahegehend
Ich konnte am Dienstag die Hauptprobe sehen und es wirkt immer noch in kaum zu beschreibender Weise nach. Es geht so dermaßen nahe. Wenn nicht schon weit vor dem Festival jede Vorstellung ausverkauft gewesen wäre, würde ich jeden Menschen hinschicken, den ich kenne.
Die Namenlosen, Hamburg: Sorgt für Awareness
Das Stück greift das Thema der Verfolgung von LGBTIQ Personen im 3. Reich auf eine einzigartig berührende Weise auf und zeigt die Dramatik an etlichen Einzelschicksalen. Die Besucher*in kann sich dem Geschehen nicht entziehen. Ein enorm wichtiges Stück, dass gerade für die in unserer Zeit so wichtige Awareness sorgt!
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