Die große Verweigerung

von Falk Schreiber

Hamburg, 10. August 2017.  Was für ein Raum. Ein dreistöckiges Gebäude hat sich Tania Bruguera in die riesige Kampnagel-Vorhalle bauen lassen, eine zylinderförmige, mit Tüchern verhüllte Stahlskulptur, von deren Rängen die Zuschauer in einen Bühnenschlund hinabblicken, als Theaterraum dem shakespeareschen Globe nicht unähnlich, wenn man davon absieht, dass "Endgame", die erste Theaterarbeit der kubanischen Künstlerin Bruguera, eben keinen Bühnenraum besitzt.

 Nur eine runde, begrenzte Fläche, auf der gespielt wird, aber keinen echten Zuschauerraum: Das Publikum ist hinter die Gazevorhänge verbannt und kann gerade mal durch enge Schlitze beobachten, was in der Tiefe passiert.

Endgame 3 Bruguera 560 Ricardo Castelo uStahlskulptur-Bühnenbild in "Endgame" © Ricardo Castelo

Als Bildende Künstlerin ist Bruguera dafür bekannt, dass sie die Zuschauer in ihre Arrangements integriert. Zumindest auf der Bühnenbildebene passiert das auch bei "Endgame" – das Publikum wird Teil der Ausstattung, das Bühnenbild der ursprünglich für die portugiesische BoCA Biennale entstandenen Arbeit ist geprägt von rund 70 Zuschauerköpfen, die hoch über den Darstellern hängen und interessiert nach unten schauen. Was eine kluge szenische Lösung ist, die ein Stück weit überdeckt, dass das, was da einige Meter tiefer passiert, nicht die radikale Neudeutung des Prinzips Theater ist, die das Selbstverständnis des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel ausmacht, sondern eine im Grunde relativ konventionelle Inszenierung von Samuel Becketts "Endspiel".

Kinder in den Untergangs-Mülltonnen

Es ist ein Missverständnis, dass das 1956 veröffentlichte "Endspiel" nicht wirklich spielbar sei. Tatsächlich hatte Beckett mit "Fin de Partie" (Bruguera inszeniert die englische Fassung aus der Feder der Autors) eine ganz klassische dramatische Struktur geschaffen, eine postapokalyptische Welt (bis auf die Protagonisten scheint die Menschheit untergegangen zu sein, und die Naturgewalten sind auch gerade dabei, ihren Dienst einzustellen) gezeichnet, in der vier halbwegs mit sich identische Figuren vor sich hin vegetieren: der blinde und von der Körpermitte abwärts gelähmte Hamm (Brian Mendes), sein mit bösartiger Freude geschurigelter Diener Clov (Jess Barbagallo) sowie Hamms in zwei Tonnen abgeschobene Eltern (Lilith Schüler und David Goya Brunnert Rego – zwei extrem gute Kinderdarsteller, was tatsächlich einen klaren Bruch mit Becketts Vorstellung bedeutet, die hier fortgeschrittenen körperlichen Verfall verlangt).

Vor allem aber hatte der Autor genaue Ideen für die szenische Umsetzung, die weit über übliche Regieanweisungen hinausgehen. Was "Endspiel" trotz seiner erschreckenden Hoffnungslosigkeit fürs Stadttheater verhältnismäßig unergiebig macht:Der Autor wusste genau, was hier auf der Bühne zu sehen sein sollte, für eine eigene Regiesprache ist da verhältnismäßig wenig Platz.

Endgame 2 Bruguera 560 Ricardo Castelo uDer blinde Hamm und sein Diener Clov in Tania Brugueras Inszenierung © Ricardo Castelo

So gesehen ist Brugueras integrative Bühnenbildentscheidung schon ein radikaler Bruch mit Beckett, der eigentlich eine klassische Bühne mit (Müll-)Tonnen für Hamms Eltern wünschte. Weitere Distanzierungen werden allerdings in homöopatischen Dosen gereicht: Graduell verschiebt Bruguera den Fokus von Hamm auf Clov, der bei Barbagallo die Demütigungen seines Herrn gleichzeitig masochistisch zu genießen scheint und das fiese Spiel zu sabotieren weiß. Der Diener jedenfalls durchbricht die vierte Wand, er lässt seine Werkzeuge fallen, weswegen er die ihm gestellten Aufgaben nicht mehr zufriedenstellend erfüllen kann, und kichert rattenhaft ins Publikum: "I did it on purpose!" Nur blöde, dass der schleichende Untergang trotzdem nicht aufzuhalten sein wird.

Wenn die Diener nicht mehr dienen

Mit ihrer eindeutigen Sympathie für Clov erfüllt Bruguera zumindest die politischen Erwartungen, die man an sie als Bildende Künstlerin stellt. "Vielleicht sei diese Inszenierung ihre Rache an totalitären Diktatoren", wird im Programmheft über die Motivation der Regisseurin sinniert. "Die mächtige Person habe immer nur so lange Macht, wie die unterworfene Person sich entscheidet, ihr zu dienen." Insofern ist "Endgame" tatsächlich ein politisches Statement: Die Befehlsverweigerung des Sklaven ist hier eine Selbstermächtigung, die zwar am Ende dafür sorgt, dass der Sklave die eigenen Lebensumstände verschlechtert hat, wichtiger ist aber, dass die Umstände des Herrn ebenfalls schlechter geworden sind.

Dass diese Befehlsverweigerung einen gewissen Lustgewinn mit sich bringt, ist das eine. Das die Selbstzerfleischung der Figuren einen angesichts der darstellerischen Qualitäten aller Beteiligten zutiefst beglückt, will man ebenfalls nicht verachten. Dass Bruguera hierfür allerdings theatrale Mittel bemüht wie Abbildungsgenauigkeit und Einfühlung, das kann man als Enttäuschung im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals interpretieren. Oder als Verweigerung der Erwartungen, die ein Festival mit Avantgardeanspruch an seine eingeladenen Produktionen stellt. Verweigerung, sowas kann diebischen Spaß machen. Haben wir gerade gelernt.

Endgame
Von Samuel Beckett
Regie: Tania Bruguera, Architektur: Dotan Gertler Studio, Lichtdesign: Rui Monteiro, Sounddesign: Rui Lima, Sérgio Martins
Mit: Brian Mendes, Jess Barbagallo, Lilith Schüler, David Goya Brunnert Rego sowie Chloe Brooks und Jacob Roberts (Stimmen)
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de
www.taniabruguera.com

 

Kritikenrundschau

Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera erfüllte sich einen Herzenswunsch und inszenierte nun erstmals ein richtiges Bühnenstück, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (14.8.2017). "Ihre ziemlich konventionell werktreue Interpretation" lebe von der große Präsenz der beiden Darsteller Jess Barbagallo und Brain Mendes, gewinne Realitätsbezug aber vor allem durch die Spielsituation: "In einen siloartigen Bühnenraum blickten die Zuschauer von drei Galerien aus durch kleine Löcher, in die nur der Kopf passte." Durch das klinische Weiß der Ausstattung, wirkten die vielen dunklen Köpfe der Zuschauer dann "einerseits wie eine hydraartige Überwachungsarmee, die hinunter auf den Grund des Geschehens glotzt, gleichzeitig aber wie die Trophäensammlung eines Wildtierjägers".

"Auf einem äußeren Gerüst stehend, blicken die Zuschauer von drei Ebenen aus durch Schlitze", beschreibt Sven Ingold die Spielsituation in der Welt (14.8.2017). "Wer den Kopf durch den Schlitz steckt, wird selbst Teil des Bühnenraums. Wer von außen durch den Schlitz schaut, wird zum anonymen Beobachter." Als Überwacher der Gefangenen auf der Spielfläche einerseits und fixierter Teil des Bühnenbildes andererseits beschleicht den Zuschauer in Brugueras Versuchsanordnung das ungute Gefühl, dass es auch für ihn keine Freiheit, keinen Ausweg gibt. "Er sitzt fest wie Hamms Eltern Nagg und Nell in ihren Röhren." Warum deren Darsteller Friedrich Bunce und Clara Wolf aber fast bewegungslos daliegen, bleibe das Geheimnis der Regie.

"Die Bühneninstallation erweist sich als bezwingend, lässt sie doch das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen dem blinden und gelähmten Hamm und seinem hinkenden, steifen Diener Clov noch schärfer hervortreten", findet Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (12.8.2017). Abgesehen von der bemerkenswerten Bühnensetzung spule sich das Beckett-Geschehen geradlinig und textgetreu ab, was an dieser Stelle überrasche, aber funktioniere.

 

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