Schafft zwei, drei, viele Gänge - Kampnagel Hamburg
Der Asphalt spricht
von Katrin Ullmann
Hamburg, 22. August 2019. "Mitten in der Stadt gibt es ein Gefahrengebiet, in dem die Leute sich nicht dingfest machen lassen – Eine exotische, unheimliche, gefährliche Welt – Ein gefährdender Sammelpunkt von Gemeinschädlichkeit aller Art", heißt es auf der Tonspur. Das Hamburger Gängeviertel ist gemeint, einst auch "Verbrecherquartier" genannt. Ein Massenwohnviertel für (Hafen-)Arbeiter, mit lichtlosen Hinterhöfen und schmalen Gassen, die so dicht bebaut waren, dass durch viele nicht einmal ein Handwagen passte. Das innerstädtisch gelegene Gängeviertel war Hochburg der Kommunistischen Partei, war bis Ende des 19. Jahrhunderts das eigentliche Zentrum jüdischen Lebens in Hamburg, und nicht zuletzt war es Standort des verruchten Kellerlokals "Palette", dem Hubert Fichte 1968 ein literarisches Denkmal setzte.
Es ist nicht viel übrig geblieben von diesem Teil Stadtgeschichte. Die meisten Gebäude wurden abgerissen und wegsaniert. Nur vereinzelte Bauten sind bis heute erhalten. Vor zehn Jahren wurden sie von etwa 200 Künstlern besetzt, die schließlich – das ist jetzt die Kurzfassung – eine Rückabwicklung des Deals, den die Stadt Hamburg zuvor mit einem niederländischen Investor eingetütet hatte, erwirkten.
Stadt als Beute
Im Rahmen des Sommerfestivals auf Kampnagel lädt die Performancegruppe Ligna dort zu einer Stadterkundung ein – mit einem ihrer charakteristischen Audiowalks. Die mit Kopfhörern und unterschiedlichen Tonspuren ausgestatteten Teilnehmer begeben sich im Gängeviertel auf eine Reise in die Vergangenheit, entdecken hinter dem "Autohaus Stern" die Überreste einer Synagoge, streifen durch Parkhauseingänge und Hinterhöfe, betrachten backsteinrote Sanierungsergebnisse, begeben sich kurzzeitig auf die Odyssee von Falladas Willi Kufalt, spähen in Seitenstraßen, öffnen Haustüren, schleichen durch Passagen und queren schließlich die Stadthausbrücke, wo sie Berichte von Festnahmen, Einzelhaft und Folter hören: Zur Zeit des Nationalsozialismus war das Stadthaus die Zentrale der Hamburger Gestapo.
Jäger zu Gejagten
Die Zeitreise(n), die Ligna in insgesamt 20 unterschiedlichen Touren aufbereitet haben, sind vielschichtig. Dazu bündelt sich die Gruppe mal zu einer gemeinsamen Versammlung, mal nehmen einzelne Teilnehmer andere Wege und auch andere Rollen ein. Da werden Jäger zu Gejagten, Subversive zu Spionen und Verfolger zu Verfolgten. Der Zuschauer ist immer Akteur und wird durch sein Engagement im Raum zum Teil eines Kollektivs, Teil der (Performance-)Produktion. Für die öffentliche Umgebung wiederum wird er – vor allem in der Gesamtheit der Gruppe – zur unwägbaren Irritation.
Oft spielt bei diesen Audiowalks der Zufall eine entscheidende Rolle. Schließlich ist die Stadtkulisse selbst der Bühnenraum und jede Beobachtung erhält Bedeutung. Da werden unbeteiligte Passanten zu Protagonisten, wird ein Spaziergänger zum möglichen Spitzel, ein frei laufender Hund zum vermeintlichen Vorboten für die nahende Polizei. Ein edel ausgerichtetes "White Dinner" für weißgekleidete Genießer illustriert die gerade auf der Tonspur erwähnte Perversion des innerstädtischen "Business Improvement District". Ein punktgenauer Kommentar – und tatsächlich starrt die Abendessen-Gesellschaft mit ungläubig offenen Mündern der vorbeiziehenden Audio-Walk-Gruppe hinterher.
Gang durch die Geschichte
Bei "Schafft zwei, drei, viele Gänge" überlagern sich Erzählungen aus der Vergangenheit der Stadt mit den Ereignissen der Gegenwart, kratzt das Gehörte an den dicken Schichten des Asphalts, schärfen die genau recherchierten Informationen das Bewusstsein für die Stadt(ver)planung in Hamburg. Klug und vielschichtig inszeniert Ligna diesen Gang durch die Geschichte(n), öffnet neue Perspektiven auf die eigene Stadt und lässt sich ein auf die spielerische, unwägbare Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Sehr klug und kunstvoll – und einige Kilometer weit. Blasenpflaster nicht vergessen!
Schafft zwei, drei, viele Gänge
von Ligna
Regie: Ligna, Stimmen: Mareike Hein, Matti Krause, Günter Reznicek, Samuel Weiß und ein Chor vom Gängeviertel.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten
https://www.kampnagel.de
Kritikenrundschau
"Ein eindringlicher, vielschichtiger kollektiver Gang durch Gänge voller Gespenster ist das", schreibt Robert Matthies in der taz (23.8.2019). "Umfassend recherchiert und klug miteinander verzahnt sind all die Wege, die man da gemeinsam geht."
"Ligna hat den Audio-Walk nicht nur exzellent recherchiert, er schärft auch den Blick auf die fragwürdige Stadtplanung der Gegenwart", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (24.8.2019).
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