Krum - Thalia Theater Hamburg
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Hamburg, 3. Oktober 2021. Bereits im Jahr 1975 entstanden, erlebt das Familien- und Freundschaftsepos "Krum" des israelischen Autors Hanoch Levin erst jetzt seine deutschsprachige Erstaufführung, und zwar am Thalia Theater Hamburg. Regisseur Kornél Mundruczó gibt ihm in seiner Inszenierung Strand, Meer und Horizont.
Von Michael Laages
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von Michael Laages
Hamburg, 2. Oktober 2021. Eigentlich ist das ja skandalös, dass es dem Thalia Theater vorbehalten blieb, dieses immerhin schon 1975 entstandene Stück des israelischen Dramatikers Hanoch Levin jetzt erstmals in deutscher Sprache vorzustellen. Und im Grunde auch den Autor selbst. Der ist zwar bei den Nachbarn in Frankreich bestens bekannt (als widerständige Stimme der Kultur in Israel seit Ende der 60er Jahre), hierzulande aber sind die Bühnen-Begegnungen mit Levins Texten extrem selten geblieben. Und "Krum", diese herausfordernde Familien- und Nachbarschafts-Phantasie, die abendfüllend über Abgründen balanciert, hatte bislang nur Krzysztof Warlikowski aus Polen zum Gastspiel nach Deutschland gebracht. Vor ziemlich genau einem Jahr, vor dem zweiten Lockdown in der Pandemie, begann nun der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó im Auftrag des Hamburger Thalia Theaters mit den Proben an einer neuen Übersetzung; und natürlich blieb dann auch diese Arbeit liegen. Jetzt endlich kann das Theater das in vielerlei Hinsicht erstaunliche Stück zeigen.
Minidramen an irgendeinem Strand
Hier leben, lieben und verzweifeln alle im Sand und am Strand. Auf dem Halbrund-Horizont des Bühnenraums dahinter plätschern die Wellen irgendeines Meeres. Und über dem Video-Meer ereignen sich immer wieder Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Vollmond und Sterne leuchten, gelegentlich flattern Vögel von Bühnenrand zu Bühnenrand. Ein mächtiger Felsblock beherrscht das Bild – auf den kann das Ensemble klettern, und von dem können einzelne herunter fallen und sich hinunter stürzen: ins Meer; also in den Wassergraben vor dem Horizont. Fast alle bleiben immer anwesend und im Spiel, und der Sandstrand markiert die zwanghafte Gemeinschaft – das ist die zentrale Idee, die das Team um Regisseur Mundruczó und Bühnenbildner Stephane Laimé Levins überaus unordentlichem Text verpasst haben.
Lauter Mini-Dramen sind hier versammelt; sie durchdringen einander und wechseln sich ab – ein junger Mann, Krum eben, ist gerade von irgendwoher zurückgekommen an diesen gemeinschaftlichen Ort (der am Strand in Israel liegen könnte, in dieser Fassung aber auch in Rio de Janeiro, Neapel oder San Francisco; weltweit in jeder Stadt am Meer). Bei der Ankunft teilt Krum der besorgten Mutter mit, dass ihm draußen in der Welt nichts, aber auch gar nichts gelungen sei. Und so macht er jetzt auch weiter – Krum ist eigentlich gar nicht die Hauptfigur, eher der Katalysator für alles, was um ihn herum geschieht. Er will allerdings beginnen, über diese kleine, aber beispielhaft jämmerliche Menschenwelt zu schreiben.
Komödie mit Verzweiflungs-Hintergrund
Zum Beispiel über den Freund Tugati – der sorgte sich absurderweise immer darum, ob das tägliche Quantum Sport besser morgens oder abends absolviert werden sollte. Nun bricht er zusammen beim Versuch, Tennis zu spielen, muss operiert werden und stirbt. Kurz zuvor hatte er wider alle eigene Erwartung noch die ruppig-schöne Dupa geheiratet, die umstandslos vom Toten zum nächsten Lover wechselt. Überhaupt gehen alle Lieben schief: Krum hatte sich auf Truda gefreut, die aber bei seiner Rückkehr längst die Entscheidung für den etwas beschränkten Elektriker Tachtich getroffen hat. Mit dem Ex-Freund Krum fingiert sie noch (sehr ulkig!) virtuellen Sex im Sand: ohne jede Berührung, aber mit schön viel Stöhnen. Die üppige Zwitzi treibt sich derweil mit dem potenten Italiener Bertoldo herum; während Felicia und Dolce als gealtertes Paar (hier mit zwei Frauen besetzt) längst alle Hoffnung auf Gemeinsamkeit aufgeben mussten. Die spektakulärste Figur ist im Grunde (Achtung: sprechender Name!) "Silenti", der tatsächlich fast die ganz Zeit über (bis kurz vor Schluss) stumm bleibt und mit Badehose, Kühlbox und einer Bierdose nach der anderen am Strand und auf dem Felsblock hockt.
Einem Lebensentwurf folgt hier im Grunde niemand; ausgenommen vielleicht Elektriker Tachtich, der ja sehr zufrieden damit sein kann, dass er die tolle Truda abgekriegt hat. All diese kleinen Geschichten aus Liebe, Sehnsucht und Alltag sind durchzogen von enorm viel Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Einmal sitzen alle wie im Kino vor einem Film, und Krums finaler Kommentar lautet: "Schämt Euch dafür, am Leben zu sein." So finster aber Levins Welt auch ist bei genauerem Hinhören und Hinschauen, das Stück selbst schnurrt an der Oberfläche wie eine Komödie – die Katastrophe, die dieses Leben ist, kommt über weite Strecken ziemlich witzig daher. Und das kann nicht nur Mundruczós Inszenierung geschuldet sein. Dieser Zauber der Farben – zwischen ganz dunkel und sehr hell – steckt offenbar im Original.
Orgiastisches Spektakel
Stephane Laimés grandioses Bühnenbild, die Kostüme von Sophie Klenk-Wulff und Mundruczós Spiel-Phantasie treiben Levins Stück voran in eine Art Delirium, ein leicht orgiastisches Spektakel aus (sehr oft sehr nackten) Körpern, Träumen und Geist. Und – das Hamburger Ensemble verdient sich diesen Ehrentitel an diesem Abend – extrem kollektiv wird agiert, Haupt- und Nebenrollen gibt's hier nicht.
Überhaupt hat der Abend über gut zwei pausenlose Stunden hin viel von einer Geisterbeschwörung voller spektakulärer Bilder. Wenn etwa Tugati, der immer voller Todesahnung war, nun tatsächlich gestorben ist, zerrt ihn das Ensemble auf die Spitze des Felsens und stürzt ihn ins Meer; Krum hingegen, der in diesem Moment schwört, Tugatis Tod zum Ausgangspunkt für das eigene Schreiben zu nehmen, fesseln sie danach mit Stricken an den Felsen: Nein, so eine Geschichte wollen sie nicht lesen über sich selber! Als schließlich Krums alte Mutter stirbt, krabbelt er unter den Fesseln hervor, nimmt Abschied – und krabbelt unter die Fesseln zurück. Das ist sein Platz.
Levins Humor ist sehr finster und lässt wenig Hoffnung – "Hoffen auf Erschöpfung" ist die einzige Vision, die die Figuren hier zu bieten haben. Ein kleines Welt-Panorama ist zu bestaunen in diesem ziemlich grandiosen Stück – und wenn die Theater jetzt nicht endlich auch in Deutschland diesen 1943 in Tel Aviv geborenen und 1999 dort auch gestorbenen, berufslebenslang mit dem berühmten Cameri-Theater verbundenen Theater-Poeten zu entdecken beginnen, dann ist eine große Chance verpasst.
Krum
Ein Stück mit zwei Hochzeiten und zwei Begräbnissen
von Hanoch Levin
Übersetzung von Leanne Raday und Frank Weigand
Inszenierung: Kornél Mundruczó, Bühne: Stephane Laimé, Kostüme: Sophie Klenk-Wulf, Komposition und Live-Musik: Daniel Freitag, Video: Rasmus Rienecker, Dramaturgie: Soma Boronkay und Emilia Linda Heinrich.
Mit: Anna Blomeier, Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Ole Lagerpusch, Karin Neuhäuser, Barbara Nüsse, Tim Porath, Maja Schöne, Lisa-Maria Sommerfeld, Stefan Stern, Oda Thormeyer.
Deutschsprachige Erstaufführung am 2. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
Für den NDR (3.10.2021) berichtet Katja Weise: "Regisseur Kornél Mundruczó findet eindrückliche Bilder, setzt sehr auf Tempo, Action und einen die losen Szenen verbindenden, fast durchgängigen Sound. Musiker und Komponist Daniel Freitag begleitet großartig live und doch bringt die Musik nicht jede Szene weiter. Oberflächlich betrachtet ist 'Krum' eine Komödie, und das fantastische Ensemble genießt sichtlich die Überzeichnung. Doch vor allem will Mundruczó von dem erzählen, was unter der Oberfläche liegt: Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit."
"Es ist ein Humor des sinnlosen Tadels, den Levin mit seinen kurzen Szenen über die braven Bürger erfindet", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (5.10.2021). Dafür brauche es "Schauspielerinnen und Schauspieler, die Komik aus armseligen Figuren herauskitzeln können, ohne deren Würde zu verraten". Und die könne der Abend bieten, ist der Kritiker zufrieden. Regisseur Mundruczó sei "ein stiller Triumph des Humors" geglückt.
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Klar gabs schauspielerische (Anna Blomeier, Bernd Grawert), sängerische (Maja Schöne) und tänzerische (Lisa-Maria Sommerfeld) Höhepunkte, aber zu einem schlüssigen oder gar bewegenden Ganzen hat sich das für mich nicht gefügt.
Hanoch Lewin war - wie Shakespeare und Moliére - ein Homme de Théâtre (und nicht „nur“ letzte). Er hat direkt für das Cameri-Theater geschrieben. Das merkt man nicht unbedingt beim Lesen, sondern erst wenn man diese Stücke macht.
Vor einigen Jahren habe ich in Warschau von Warlikowski eine phantastische Inszenierung der „Suitcase Packers“ gesehen.
Dass Lewin in Polen und Frankreich gespielt wird, zeigt auch, dass uns - anders als unseren westlichen und östlichen Nachbarn - der jüdisch geprägte Unterstrom unserer Kultur vollkommen verloren gegangen ist. Wir haben ihn erfolgreich eleminiert.
Als ich den Regisseur fragte, warum er sich für Hanoch Lewin interessiert, sagte er: „Weil hier alle Figuren genau das sagen, was sie denken und fühlen!“ das war ein interessantes Plädoyer gegen den Mittelstands-Kitsch vom „Subtext“.
Die Produktion entstand übrigens vor einem Jahr mit knapp 4 Wochen Planungszeit, weil eine andere, mit einer Regisseurin geplante Inszenierungs wegen Corona nicht stattfinden konnte. Mundruczó wiederum war plötzlich verfügbar, weil die weltweite Promo-Tour für seinen Film nicht stattfinden konnte, gut für uns - kuriose Zeiten.
So fingen die Proben an, ohne deutschen Text und ohne Bühnenbild- es entstand erst. Aber mit Regisseur und Besetzung.
Tja, so ist das Theaterleben manchmal.
dass Hanoch Levin endlich den Stellenwert auf deutschen Bühnen erhält, der ihm schon sehr lange gebührt, ist absolut richtig und wünschenswert und dafür gebührt dem Thalia Theater großes Lob. Allerdings hat die Entdeckung von Hanoch Levin bereits schon vor einigen Jahren begonnen und ist vor allem den kongenialen Übersetzungen von Matthias Naumann zu verdanken, der die Stücke übrigens direkt aus dem Hebräischen übersetzt. So sei an dieser Stelle an die Stuttgarter Erstaufführung von "Mord" in der Regie von Wojtek Klemm 2015 erinnert. Nachinszeniert wurde das Stück im gleichen Jahr von Dedi Baron am Düsseldorfer Schauspielhaus. 2018 brachte Antje Thoms dann am Staatstheater Augsburg Levins großes Meisterwerk "Das Kind träumt" zur deutschsprachigen Erstaufführung. Beide Übersetzungen sind ebenso wie die noch nicht erstaufgeführte von "Hiobs Leiden" beim Litag Verlag zu entdecken.
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14860:das-kind-traeumt-antje-thoms-inszeniert-am-theater-augsburg-die-deutschsprachige-erstauffuehrung-von-hanoch-levins-stueck&catid=230&Itemid=100190