Durchforsten - Landestheater Schleswig-Holstein
Der Hambi-Erotik-Fotokalender
24. Juni 2023. Naturromantik gegen Industrialisierung: Moritz Nikolaus Koch aktualisiert Otto Ludwigs Drama "Der Erbförster". Und lässt sich dabei von der atemberaubenden Industriearchitektur der Büdelsdorfer Eisengießerei Carlshütte ablenken.
Von Falk Schreiber
24. Juni 2023. Büdelsdorf hat rund 10.000 Einwohner:innen und liegt am Nord-Ostsee-Kanal, unmittelbar nördlich der Kreisstadt Rendsburg. Geprägt wird das Städtchen von der 1827 gegründeten Eisengießerei Carlshütte, dem ersten größeren Industriebetrieb der Region und so ein Zeugnis der Industrialisierung Schleswig-Holsteins. Heute beherbergt das Gelände unter anderem ein Kulturzentrum, einen Skulpturenpark sowie die regelmäßig überregional wahrgenommene Kunstausstellung nord.art. Und derzeit ist die Carlshütte auch eine überaus passend gewählte Spielstätte des Landestheaters, für Moritz Nikolaus Kochs Inszenierung von "Durchforsten", einer Aktualisierung von Otto Ludwigs heute weitgehend vergessenem Drama "Der Erbförster" (1850).
Auf dem Hochofen
Passend, denn erstens ist der Spielort Eisengießerei inhaltlich naheliegend, weil es bei Ludwig um den Widerstreit zwischen Naturverbundenheit (verkörpert durch den Förster) und Wirtschaft (verkörpert durch den Fabrikbesitzer) geht. Und zweitens sieht das alles wirklich beeindruckend aus: Ausstatter Martin Apelt (der auch die Dramaturgie übernommen hat) lässt in erster Linie einen historischen Hochofen bespielen, ein riesiges Ungetüm, umgeben von rostigen Stahlgerüsten und bröckelndem Backstein, und der ist in Kunstnebel und Gegenlicht schon ohne Theater eine Industrial-Schau. Was im Umkehrschluss allerdings auch heißt, dass man dieses Theater für die große Qualität des Abends gar nicht unbedingt braucht.
Den Stoff mag man als Zeugnis früher Bemühungen um Nachhaltigkeit lesen, er steckt jedoch vor allem tief im Morast der Naturromantik. Am Landestheater haben sie ihn zum Öko-Thriller erweitert, ziemlich viel hohles Pathos ist hier allerdings immer noch drin. Christian (Felix Ströbel) ist als Förster in Düsterwalde Untergebener des Fabrik- und Waldbesitzers Stein (Tom Wild). Die beiden Alphamänner mögen einander eigentlich, ihre Kinder Marie (Kristin Heil) und Robert (Tomás Ignacio Heise) stehen kurz vor der Hochzeit, aber, ach, auch Stein kann sich nicht gegen die Gesetze des Kapitalismus stellen, und nach diesen Gesetzen muss der Wald "durchforstet" werden. Was Christian unbedingt verhindern will, eine nachhaltige Waldentwicklung sei dann nicht mehr gewährleistet. Und weil beide Männer ziemliche Sturköpfe sind, ist keine echte Verständigung möglich.
Angst vor der Klima-RAF
Die nachfolgende Generation ist weiter. Die träumt vom Widerstand im Hambacher Forst, und zur Entspannung gönnt sie sich ein paar schöne Stunden mit dem "queerfeministischen Hambi-Erotik-Fotokalender". Ja, diese Zeichnung der so idealistischen wie weltfremden Jugend ist so nahe an der Karikatur, wie es klingt. Die jungen Leute schlagen mit ihrer Rebellionsromantik dann auch keine Brücke zwischen den in ihrer Rechthaberei festgefahrenen Alten, sondern lassen die Lage im Gegenteil weiter eskalieren: Irgendwann fallen Schüsse, es gibt einen Toten, und Steins sinistre Referentin (Lea Aumann) kann die Staatsmacht gegen alle ökologischen Bedenkenträger:innen in Stellung bringen – mit Argumenten wie "Klima-RAF" und "linksgrünem Ökoterror". Das dreht den (einst von den Nazis vereinnahmten) "Erbförster"-Stoff nicht ungeschickt auf links, interessanter aber wird er dadurch auch nicht.
Der Star ist die Spielstätte
"Durchforsten" erweist sich als Aktualisierung einer mittelprächtigen Vorlage mit der Brechstange. Aber: Das Ensemble spielt mit Freude an den Möglichkeiten, die diese schematischen Rollenvorgaben bieten, selbst kleinste Rollen wie die des versoffenen Ersatzförsters Buchjäger oder die irgendwann hinzugezogener Werkschutz-Kampfmaschinen werden von Gregor Imkamp beziehungsweise von Ali Al-Jburi und Hussein Al-Najafimit mit Leben erfüllt. Außerdem hat Regisseur Koch ein Gespür dafür, Szenen aufzubauen und wieder aufzulösen, und er bekommt auch ein großes Ensemble in den Griff. Die Live-Musik von Oliver Niess sorgt derweil dafür, dass die knapp zwei Stunden Spieldauer einen durchgängigen Rhythmus entwickeln, einen Flow, der überdeckt, wie vorhersehbar die Handlung in Richtung der endgültigen Katastrophe drängt.
Und schließlich ist da immer noch die Ausstattung. Apelt arrangiert das Hüttenwerk als kathedralenhaften Raum, "Durchforsten" wird so zur Feier der Industriearchitektur. Das alleine ist schon den Besuch im hohen Norden wert.
Durchforsten
nach Otto Ludwig
Regie: Moritz Nikolaus Koch, Bühne, Kostüme und Dramaturgie: Martin Apelt, Musik und Klang: Oliver Niess.
Mit: Felix Ströbel, Friederike Pasch, Aaron Rafael Schridde, Kristin Heil, Steven Ricardo Scholz, Tom Wild, Tomás Ignacio Heise, Lea Aumann, Gregor Imkamp, Ali Al-Jburi, Hussein Al-Najafi
Premiere am 23. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, eine Pause
www.sh-landestheater.de
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