Eisbilder - Grazyna Kania entdeckt Kristian Smeds' Stück für das Landestheater Schleswig-Holstein in Rendsburg
Hier kommt die Kälte
von Michael Laages
Rendsburg, 2. März 2017. Wann wohl wäre zuletzt so gnaden- und so ausweglos, so fundamental und fürchterlich vom großen Traum erzählt worden: von der Liebe, die doch vielleicht all den Schrecken, all das Grauen des menschlichen Alltags vergessen lassen könnte?
Das junge Mädchen, sagen wir: die Tochter, beschwört sie in der Familie, deren "Eisbilder" der finnische Dramatiker Kristian Smeds in furioser sprachlicher Wucht und Wut und Gewalt an die kahlen, kalten Wände bürgerlicher Gemeinsamkeit menetekelt; einen "Liebesbrief" formuliert das Mädchen, Empfänger ist der Freund, den sie gerade verlassen hat. Warum? Weil die Liebe so groß war, dass sie schreckliche Wirkungen zeitigte – das eigene Ich kam ihr (und vielleicht auch ihm) abhanden, sie sah es zerstört im Angesicht des anderen; alles, was sie selber war, erbrach sie aus sich heraus, ihm in den Schoß. Grässliche Angst bekam sie, selbst ganz und gar zu verschwinden. Darum musste das aufhören; keine Hoffnung nirgends.
Lieben = Sterben.
So weit, so finster – in Grazyna Kanias Inszenierung allerdings, die das erstmals 2002 im finnischen Original bei der damals noch in Bonn beheimateten "Biennale" mit neuen Stücken aus Europa gezeigte Drama im entlegenen Rendsburg für die deutsche Szene entdecken hilft, verfallen alle Körper im Ensemble nach diesem apokalyptischen Liebes- und Anti-Liebesbrief in konvulsivische Zuckungen. Sie alle scheinen nun diesen Horror der Selbstauflösung in der Liebe zu empfinden, werfen sich in Jennifer Ocampo Monsalves Choreographie an die Wände und auf die lange Bank im Bühnenkasten von Lucia Becker; und als das Zucken endet, tragen je vier im Ensemble die fünfte Figur auf Händen, umarmen einander schließlich, vereint in einer großen Kommune. Dann aber geht die Tür im Kasten auf, die, durch die zu Beginn alle im Schneesturm herein geweht worden waren – und kaltes weißes Licht blendet sie: der Alltag am Ende der Welt.
Rendsburg in der Champions-League
Wie viel von diesem furiosen Finale dem Autor geschuldet ist und wie viel der Erstaufführungsregisseurin am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, Deutschlands nördlichster Bühne, darf hier mal offen bleiben – spätestens dieses zehnte und letzte der "Eisbilder" belegt aber nachdrücklich, was für eine Entdeckung hier einmal mehr gelingt mit diesem Kristian Smeds. Das "Biennale"-Gastspiel liegt 15 Jahre zurück, in München arbeitete Smeds zum 100. Gründungsjubiläum der Kammerspiele 2011, und auch die Volksbühne in Berlin zeigte mit "12 Karamasows" mal ein Projekt des Dramatikers und Regisseurs – aber durchgesetzt ist Smeds nicht. Vielleicht gelingt das jetzt endlich. "Eisbilder" ist ohne jeden Zweifel ein Stück für große und bedeutende Häuser; die Schleswig-Holsteiner, mit Spielstätten in Rendsburg, Schleswig und Flensburg, Husum und Heide, Itzehoe und St. Peter-Ording, liegen mit diesem Abend, und eben mit Smeds, ganz weit vorn.
Mit dem fünfköpfigen Ensemble, Melina von Gagern und Neele Frederike Maak, Flavio Kiener, Reiner Schleberger und Christian Simon, gelingen Grazyna Kania en gros und im Detail ganz erstaunliche Psychogramme: vom Kind, das sich einem Greis gegenüber wähnt, der aber nur das eigene Spiegelbild in ferner Zukunft ist; von der alleinerziehenden Mutter, die in aller Überforderung die eigenen Kinder zu hassen beginnt; vom Vater, der in der Sauna die Söhne beschweigt. Immer wieder beginnen Szenen mit dem "Es war einmal"des Märchens, und grausam sind sie wie das Schlimmste bei den Grimm-Gebrüdern: die Fabel vom dreijährigen Harry etwa, der eines nachts das Haus verlässt und einbricht ins Eis, worauf in der Folge auch alle anderen Familienmitglieder grässlich schicksalhaften Grusel durchleiden. Immer wieder auch durchzieht religiöser Fundamentalismus die Szenen – als Mittel zur Flucht aus der finstren Leere des Alltags hinauf zu irgendetwas Höherem. Sogar einen armseligen Prediger hat die Familie zu bieten, noch so einen verrückten Heiligen … und in der Schule brüllen Kinder, Lehrer und Eltern einander immer nur an mit Schrei-Kaskaden aus "IchIchIch"; ein kleines Ernst-Jandl-Poem scheint die Inszenierung hier der Smeds-Phantasie beigefügt zu haben.
Kein Licht in der Welt
Diese bürgerliche Schreckensfamilie ist nicht notwendigerweise und nicht typisch finnisch; aber die Musik, der Schneesturm und der mehrfach beschworene Suff lassen ahnen, dass Smeds von Zuhause erzählt. Dass so gar kein Licht in diese Welt hinein scheinen will, ist auch ein bisschen anstrengend – aber die aggressive Leidenslust reißt das Publikum immer wieder hinein in die Selbstüberprüfung des eigenen Umgangs mit den unlösbaren Dingen des Lebens. Das ist ein unerhört starker Text von einem exemplarisch und fundamental zupackenden Dramatiker. Und dass Grazyna Kania die "Eisbilder" jetzt zuerst auf den Bühnen des höchsten deutschen Theater-Nordens zeigt, sollte niemand davon abhalten, diesen schaurig-schönen Strindberg-Wiedergänger aus Finnland jeweils für sich neu zu entdecken: wo auch immer, wann auch immer.
In Rendsburg übrigens sind die "Eisbilder" von Kristian Smeds Auftakt und Highlight für ein kleines "Nord-Festival", mit Literatur, Theater, Musik und Film; alle Kulturträger der kleinen Stadt und das Land haben sich gemeinsam darum bemüht. Auch das war bemerkenswert an der Reise nach Rendsburg.
Eisbilder
Deutsche Erstaufführung
von Kristian Smeds
aus dem Finnischen von Katja von der Ropp
Regie: Grazyna Kania; Bühne und Kostüme: Lucia Becker; Choreographie: Jennifer Oscampo Monsalve; Musik Stefan Schauer; Dramaturgie Susanna Praetorius.
Mit: Melina von Gagern, Flavio Kiener, Neele Frederike Maak, Reiner Schleberger, Christian Simon.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.sh-landestheater.de
"So lose der Bilderreigen inhaltlich geknüpft ist, so dicht ist die Atmosphäre der einzelnen Szenen, die sich unter der Regie von Grazyna Kania zu einem spannenden Ganzen verbinden", schreibt Sabine Christiani in der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (4.3.2017) und hat einen "außergewöhnlichen" Theaterabend gesehen, bei dem immer wieder Gänsehaut aufkomme.
Grazyna Kania nehme in ihrer Inszenierung die Widersprüche des Stücks von Kristian Smeds auf, "macht sich gerade das Abgebrochene und (...) Disharmonische zunutze", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (4.3.2017). In schwächeren Momenten wirke das zerdehnt und überfrachtet, aber "vor allem kann man sehen, wie zwischen Distanz und Nähe das Menschliche erkennbar wird."
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m e h r von der Welt zu bedeuten als das Publikum selbst weiß, verinnerlicht hat oder auch nur ahnt.
Und weniger bedeutende Häuser - wenn damit Theater gemeint sind, wie das im Bettriebssprech der Fall ist - sind diejenigen, die dem Publikum w e n i g e r von der Welt bedeuten, als es selbst weiß, verinnerlicht hat oder ahnt.
Die unbedeutendsten Häuser sind m.E. hingegen diejenigen Häuser, die selbstgerecht immer nur annehmen und öffentlich arrogant behaupten oder gern unwidersprochen behaupten lassen, sie würden stets wie erstere tun, obwohl sie in den meisten Fällen so wie die zweiten tun.
Insofern ist es eine ungerechte Formulierung von Laages eher als eine sachlich "furchtbare". Denn er hat ja offenbar ein kleines und bisher eher als unbedeutend betrachtetes Haus gefunden, das gerade s.E. etwas bedeutend Bedeutenderes als bisher geleistet hat. Es hat nämlich einen in die Jahre gekommenen echten neuen alten bisher unbeachteten Dramatiker inszeniert, den selbst die Castorfsche Berliner Volksbühne unter seiner eigenen Mitwirkung nicht hat durchsetzen können. Obwohl man ihm - wie Laages - das wünschen kann. Weshalb Laages ihm auch gleich - nach dieser erneut abgegeben Probe, die anderen bisherigen Proben dramatischen Könnens jedoch nur folgte - noch einmal ein endlich größeres, gewohnt bedeutendes Haus wünscht. Dass ihn als Dramatiker dann endlich durchsetzt. Die Regisseurin hat dann, folgt man Laages Argumentation, eine sehr gute Werbe-Inszenierung gemacht für einen bisher völlig verkannten Dramatiker. Und dann wollen wir hoffen, dass zur endgültigen Dramatiker-Durchsetzung an einem großen und gewohnt bedeutenden Haus auch ebenfalls genau diese, für seine Texte offenbar überaus geeignete Regisseurin an einem neueren oder noch älteren unbekannten Texte Smeds ebenfalls zur Tat schreiten darf.
(Lieber Wolfgang M., die Übersetzerin heißt Katja van der Ropp; wir haben ihren Namen im Besetzungskasten ergänzt und danken Ihnen für den Hinweis. Mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion)