König Lear - Bad Hersfelder Festspiele
80 Jahre und kein bisschen weise
1. Juli 2023. Die Festspiele in der Stiftsruine von Bad Hersfeld haben mit Shakespeares "König Lear" begonnen. Regisseurin Tina Lanik schickt Charlotte Schwab als Titelheldin in einen Überlebenskampf des Alters und damit in die Aussichtslosigkeit des letzten Weges.
Von Michael Laages
1. Juli 2023. Nein – hier ist Papa nicht zur Mama geworden. Auch das wurde ja schon ausprobiert: Shakespeare geschlechtlich neu zu sortieren und von der "Königin Lear" und deren Söhnen zu erzählen. Das Autorenkollektiv Soeren Voima und Regisseur Christian Weise nahm sich das am Maxim Gorki Theater in Berlin vor, und auch der belgische Dramatiker Tom Lanoye schrieb ein Stück, das die Geschichte vom selbstverschuldeten Niedergang der absoluten Macht einer Herrscherin zuschrieb. Einige Theater, in Konstanz, Darmstadt oder Ingolstadt, versuchten sich an dem Stoff. Die Eröffnungsinszenierung für die Bad Hersfelder Festspiele geht so weit nicht, nimmt sich gar nicht erst vor, Struktur und Vision der Fabel auf ganz neue Fundamente und Bedingungen zu stellen.
Tatsächlich hat die bewährte (und in der Stiftsruine debütierende) Regisseurin Tina Lanik nur die Titelfigur mit einer Frau besetzt, die den alten Mann spielt, der das eigene Reich unter den Töchtern verteilen will und feststellen muss, dass er zweien von dreien nur die Lust an der Macht herangezogen hat, die sich nun gegen ihn selber wendet. Und Charlotte Schwab in der Titelrolle, auch schon vor drei Jahrzehnten im Ensemble des Thalia Theaters in Hamburg und danach immer wieder eine Schauspielerin mit sehr viel Mut zum großen Risiko, kann das natürlich – auch wenn sie sich damit wirklich viel zumutet.
Happy-Birthday-Grüße an den Vater
Denn wenn der Weg der Herrscher-Figur speziell im zweiten Teil des langen Abends Schritt für Schritt erst in den Wahnsinn, dann in die Gefangenschaft und schließlich zum Sterben führt, zeigt sie das, was blieb vom alten Mann, in extrem schmerzhaften Bildern: wie auf der Intensiv- und Pflegestation. Zunehmend formlos zerfließt der Männer-Körper unter dem alten Königsmantel (und später auch ohne), ausstaffiert ist der Rest vom Mann als nackter Kloß mit baumelndem Gemächt. Wie heißt es doch - das letzte Hemd hat keine Taschen. Auch das Hemd bleibt dem Alten versagt auf den letzten Wegen.
Wer sich gelegentlich fragte, wie alt denn Lear wohl geworden ist, bekommt in Bad Hersfeld zu Beginn eine feierliche Antwort – die "Happy Birthday!"-Girlande hängt in der wie immer grandiosen Ruinen-Kulisse, und die goldene "80" ist auch dabei. Auf den riesig-runden Geburtstagstisch stellen drei Mädchen eine überdimensionale Torten-Attrappe, und jede hält sich für berechtigt, einen Gruß an den Vater oben hinein zu stecken. Das sieht gemütlich aus und gar nicht beunruhigend; im Gegenteil – wenn der Herrscher mit der Krone auf dem schütteren grauen Strähnen-Haar als Clou der Fete mit der Aufteilung des Reichs beginnt, verteilt er einfach nur kleine Tortenstückchen. Da sorgt sich die Inszenierung noch um Alltäglichkeit, versetzt sogar mit etwas Albernheit: wenn sich die mittlere Tochter Regan vor lauter geheuchelter Liebesbekundung das Tortenstück ins Gesicht drückt.
Aber so heiter geht das natürlich nicht weiter – wenn der Alte die jüngste Tochter Cordula ruppig vom Hof jagt, weil sie nicht mitheucheln mag.
Schauspielerin Charlotte Schwab eignet sich den Männer-König mit großem Bemühen um Kälte und Konzentration an. Aber immer klingt auch große Müdigkeit, Verzweiflung und die Ahnung um die Aussichtslosigkeit des letzten Weges mit. Ganz anders als das neulich bei Wolfram Koch am Thalia Theater in Hamburg gelang, der eher leichthin, verspielt und ein bisschen delirant durch Jan Bosses Inszenierung zu tanzen schien, bis auch das nichts mehr half.
Auflösung unterm Königsmantel
Je strenger sich jetzt in Bad Hersfeld Charlotte Schwab durch die etwas angestrengt wirkende neue Übersetzung von Miroslava Svolikova kämpft, desto markanter wirkt die offenkundige Verständnislosigkeit, mit der die Demontage alter Macht zur Kenntnis genommen wird – erst im Haus der ersten Tochter Goneril, dann (nach dieser ersten Enttäuschung) auch bei Regan ein Tochterhaus weiter. Katrin Röver und Nora Buzalka, die beiden machtbesessenen Töchter, markieren neue Zentren der Macht; wie parallel der uneheliche Sohn Edmund im Hause Gloucester, der mit finstrer Intrige den Vater dazu treibt, Bruder Edgar zu verstoßen.
Bis zur Pause beherrscht noch die Kulisse einer Art von skelettiertem Geschäftshaus das Bild, Drehtür inklusive. Danach – und mit Beginn von Lears Wahnsinn unter freiem Himmel - beherrscht ein monströser Mond den Hintergrund. Im Vordergrund ist die Bühne in mehrere kleine Hütten-Gebilde zerfallen, die sowohl Zufluchtsorte für Lear und den vertriebenen Gloucester-Sohn Edgar werden als auch zu Machtzentren der neuen Herrscher-Familien Albany (um Goneril) und Cornwall (um Regan). Aber wie das Bild zerfallen wirkt, zerfasert auch die Inszenierung – bis (und das ist vielleicht der wichtigste deutende Gedanke der Inszenierung!) Cordelia, einst die Jüngste am Hofe von Lear, sichtlich gealtert aus dem Exil in Frankreich zurückkehrt.
Cordelias frühes Altern
Auch sie ist in Macht hinein gepresst worden, das Kostüm zeigt es. Ohne jeden Anflug von Zufriedenheit und Zuversicht, dafür mit riesigem Schwert, sucht sie den Vater. Sie findet ihn im Rollstuhl, betreut von drei nicht sehr freundlichen Pflegerinnen; und wenn auch Cordelia zum Opfer vom intriganten Edmund geworden ist, trägt der Alte die ehedem so junge Tochter tot herein, um selbst mit ihr im Arm zu sterben. Da kommen die allzu oft viel zu wimmeligen Bilder des Abends zur finalen Ruhe.
Vom "weiblichen Zugriff" durch Svolikovas neue Übersetzung raunt das Programmheft – das ist ziemlich übertrieben. Na gut – Lears Narr, wie Shakespeare ihn positioniert hat (und mittendrin übrigens plötzlich einfach verschwinden lässt aus dem Stück!), besteht hier aus drei Närrinnen und bekommt Text über den Untergang alter Männer verpasst, geschenkt. Laniks Inszenierung franst immer dann aus und verliert sich in aufgeregten Details, wenn es nicht um Charlotte Schwab und die Titelfigur geht; und manchmal rücken dann, an den Rändern, die wichtigsten Partner-Rollen ins Visier – besonders nachhaltig wirkt übrigens Günter Alt als treuer Kent. Ausstaffiert ganz in Lila als Double des verschlagenen Dieners Oswald wird er, ein Bad Hersfelder Urgestein, zu einem Neben-Zentrum im vielköpfigen Ensemble.
Nichts Neues von Macht und Verlust
Friederike Ott überrascht als Cordelia vor allem in der gealterten Version am Ende, in der Gloucester-Familie übernimmt sich Philipp Henry Brehl ein wenig als finstrer Edmund-Entertainer. Während Bijan Zamani als Edgar ziemlich viel Zeit nur mit einem Müllsack um die Lenden zubringen muss … dabei wird es ziemlich kalt in der Ruine. Nach Mitternacht, zum Schluss-Jubel, ist das Thermometer auf 12 Grad gefallen. Und die Inszenierung hat gegen Ende auch mächtig an Tempo und Struktur eingebüßt – wie überhaupt eine klarere, grundsätzlichere Regie-Strategie dem traurigen Spiel vom alten Lear wirklich sehr geholfen hätte.
Charlotte Schwab aber ist die Wieder-Begegnung unbedingt wert. Mit ihr als Lear wäre womöglich auch noch mehr möglich gewesen. Vielleicht sogar ein wirklicher weiblicher Blick … So aber ist nichts Neues zu sehen von Macht und Verlust.
Hinweis: Fälschlicherweise wurde in diesem Artikel ursprünglich für die erwähnte Hamburger "Lear"-Inszenierung Maria Milisavljevic als Übersetzerin genannt. Der Fehler wurde am 5. September korrigiert.
König Lear
von William Shakespeare, Deutsch von Miroslava Svolikova, Fassung Tina Lanik und Jens Heuwinkel
Regie: Tina Lanik, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Jörg Gollasch, Licht-Design: Felix Dreyer, Tondesign Joerg Grünsfelder.
Mit: Günter Alt, Philipp Henry Brehl, Nora Buzalka, Beatrix Doderer, Anna Graenzer, Bettina Hauenschild, Max Herbrechter, Thomas Huber, David Moorbach, Friederike Ott, Katrin Röver, Charlotte Schwab, Frank Wünsche, Bijan Zamani; Lea Tessmann/Christine Roider am Cello.
Premiere am 30. Juni 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.bad-hersfelder-festspiele.de
Kritikenrundschau
Als "glücklichen Einfall" bewertet Hans Riebsamen in der FAZ (3.7.2023) den "Kunstgriff der Regisseurin" Tina Lanik, den Narren "in drei Närrinnen aufzuspalten, die Lears innere Stimmen, sein Unterbewusstsein, sein Gewissen repräsentieren". Denn nun übernähmen "diese drei Frauen immer wieder die Rolle des Erzählers, der die verzwickte Handlung der langen Schlussszene zusammenfasst". Von Hauptdarstellerin Charlotte Schwab in der Titelrolle ist der Kritiker ohnehin des Lobes voll. Des Weiteren täten auch die Kürzungen dem Drama gut: "Mag man als Zuschauer auch nicht jede Wendung im Untergangsgeschehen verstehen, verspürt man ob der großen Bilder doch den mächtigen Sog, der alle Protagonisten in den Abgrund reißt", bilanziert der Kritiker.
"Charlotte Schwabs Lear ist die zentrale Figur dieser eindrucksvollen Inszenierung von Tina Lanik", schreibt Christine Zacharias in der HNA (2.7.2023), "doch er ist bei Weitem nicht der Einzige, der Aufmerksamkeit verdient." Lanik habe "ein Ensemble zusammengestellt, das offenkundig harmoniert und in dem jeder und jede starke Momente" habe: "Es lohnt sich, aufmerksam und genau hinzusehen, um möglichst keine Sekunde zu verpassen, denn oft sind es kleine Szenen, die viel über die Charaktere verraten", urteilt die Kritikerin.
Tina Lanik "setzt ein paar markante, frische und starke Punkte an einem zunächst lebhaften, nach hinten heraus etwas auseinanderfallenden Abend", berichtet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (7.7.2023) "Obwohl die fast schon abstrakten Weiten der Stiftsruine für Shakespeare-Stücke ideal sind, regieren mehr Possierlichkeit und Einfallsreichtum als Erschütterung und große Linie. Dafür ist man aber ganz bei der Sache."
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Dieses Jahr hatte ich König Lear gewählt - und hatte das entäuschendste Festspielerlebnis bisher. Die Gründe: die grandiose und einmalige Bühne so wenig zu nutzen verstand bisher noch kein Regisseur - wie einfach hätten man z.B. das "Bedrängen" mit einem großen Hofstaat mit den erprobten Komparsen aus Hersfeld und Umgebung mengenmäßig haptisch erfassbar machen können und damit die Bühen nutzen können. Was die graue (Welt- ???) Kugel sollte außer die sonst immer beeindruckende Tiefe des Raumes der Stiftsruine zu verdecken - zu verstehen war das nicht.
Frau Lanik hat in der ersten Runde eine muntere, in der zweiten manchmal albern auseinanderfallende Regie geführt. Nach der Pause sehnte man sich zurück ins Hotel, viele Zuschauer verliesen bereits das Satdion vor der Zeit. Das diffuse Programmheft war kein Halt - und die Begründung für die Besetzung der Lear-Rolle mit einer Frau "weil es nicht genug Rollen für Frauen über 50 Jahre gibt" war ein Fingerzeig - das angestrengt wirkende Umdeuten von Shakespear mag in solcher woke wirkender Bemühtheit begründet zu sein.
Desweitern fiel mir auf, dass der Innenraum merkwürdig verschmälert erschien - die breiten Eingänge links und rechts wirkten dieses Jahr wie der ganze Zuschauer-Innenraum merkwürdig verloren. Das Gefühl setzte sich draussen fort, nach den Jahren des Wedel-Booms war draussen vor und um die Ruine irgendwie "die Luft raus". Es mag auch an der Hitzewelle an diesem Wochenende gelegen haben - so wirkte es auch ein wenig im sonst gerade auch nach der Aufführung belebten Stiftsbereich oder um den Linggplatz - wenig Bewegung und Flair.
Der stille Niedergang der Hersfelder Innenstadt in Bezug auf das Angebot an Geschäften hat mit den Festspielen nichts zu tun - entspricht der neuen Wirklichkeit wie anderorts. Aber es passte irgendwie zu einem bedrückenden Festspiel-Besuch.
(Anm. Redaktion: Werte Tinas Forever, hier lag tatsächlich ein Fehler vor, der inzwischen berichtigt wurde. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)