Gefangene des Nichtstuns

21. Januar 2024. Wer auf dieser Party tanzt, erlebt die längste aller Nächte: Luis Buñuels Filmklassiker sperrte 1962 eine bürgerliche Salongesellschaft in ein Zimmer ohne Ausgang. Mit der Neufassung von PeterLicht und SE Struck rückt Regisseurin Claudia Bauer den Stoff nah an unsere kriegs- und klimamüde Gegenwart. 

Von Leopold Lippert

"Der Würgeengel" in der Regie von Claudia Bauer am Schauspiel Frankfurt © Arno Declair

21. Januar 2024. Im Englischen gibt es die schöne Wendung vom "veneer of civilization", dem Furnier der Zivilisation, das angeblich sehr dünn sei und schneller abblättere, als es einem lieb sei. Und so ist die komplett furnierholzvertäfelte Wohnzimmereinrichtung auf der Bühne des Schauspiels Frankfurt (Bühne: Andreas Auerbach) schon böse Vorahnung: Hier wird wohl die Moralfassade der feinen Gesellschaft gleich bröckeln. 

"Der Würgeengel", in Frankfurt in einer Überschreibung von PeterLicht und SE Struck nach dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel, ist ja bei allem Surrealismus auch eine ernsthafte zivilisatorische Versuchsanordnung. Eine schicke Festgesellschaft kann auf unerklärliche Weise die Party nicht mehr verlassen, und in der plötzlichen Gefangenschaft wird aus gepflegter Etikette bald existenzielle Rohheit.

Verständnis deluxe

Für Regisseurin Claudia Bauer ist die "Würgeengel"-Uraufführung schon die zweite in derselben Konstellation. Bereits 2022 inszenierte sie PeterLichts und SE Strucks Überschreibung des Buñuel-Films "Der diskrete Charme der Bourgeoisie", und wie der Vorgänger ist auch der "Würgeengel" in der Gegenwart einer sehr selbstbezogenen Wohlstandswidersprüchlichkeit angekommen. Die Gastgeber Fred (Sebastian Kuschmann) und Leonora Königs (Anna Kubin) lassen nur regional und saisonal und nachhaltig servieren (also Schwarzwurzel und Steckrübe), trotzdem gibt’s Champagner im Pappbecherchen.

Die Gäste bringen üppige 70er-Outfits mit klobigen Mustern und knalligen Farben, haben gute Laune und Föhn- und Turmfrisuren (Kostüme: Vanessa Rust), sind aber trotzdem alle sehr erschöpft, weil der Party eine Gala zum Krieg voranging ("sehr eindrucksvoll, da hab ich erstmal so richtig begriffen, was los ist"). Aber so ein bisschen Kriegsmüdigkeit ist nicht weiter schlimm, Leonora hat dafür "Verständnis deluxe" – denn die Arbeit macht sowieso Haushälterin Marie (Julia Preuß).

Der Würgeengel (UA)von PeterLicht und SE Struck nach Luis BuñuelRegie: Claudia Bauer Regie: Claudia BauerBühne: Andreas AuerbachKostüme: Vanessa RustMusik: Alexandra Holtsch, Hubert WildVideo: Jan Isaak VogesDramaturgie: Katja HerlemannLicht: Marcel Heyde Auf dem BildDer Würgeengel von PeterLicht und SE Struck nach Luis BuñuelRegie: Claudia BauerEnsemble Foto: Arno DeclairParty ohne Ende: Ensemble im Bühnenbild von Andreas Auerbach © Arno Declair

Aus der Lethargie wird in der Gefangenschaft bald Eskalation, die Klassengegensätze werden immer heller ausgeleuchtet, und während man sich dauernd der eigenen Handlungsmacht versichert, tut man eigentlich genau gar nichts. So weit, so vorhersehbare Kulturkritik, die sich zwar leicht auf etwa unser Zaudern in der Klimakatastrophe beziehen ließe, aber diskursiv immer vage bleibt.

Japsende Eskalationsspiralen

Was den Abend aber dann doch sehr besonders macht, sind der Detailreichtum und die Präzision, mit der Text und Sound dieses Nichtstun über die Zeit hinwegdehnen. Dabei hilft es, dass "Der Würgeengel" ein Ensemblestück ist, in dem während der pausenlosen 130 Minuten alle Schauspieler*innen (mit Ausnahme von Klopausen und im Schrank versteckten Leichen) permanent präsent und Teil eines kollektiven Klangkörpers sind, der von chorischem Sprechen über sich verhärtende Wiederholungsschleifen zu zerstückeltem Smalltalk und japsenden Eskalationsspiralen tönt.

Wenn der Text, der voll mit aparten Wortgebilden wie "hineindiffundierend" "Sofasavanne", oder "Weg-Champagner" ist, an einer Stelle sehr wiederholend behauptet, "Ja genau, es stagniert so vor sich hin!", dann hat das deswegen etwas Trotziges, weil Bauers Inszenierung eben nicht vor sich hin stagniert, sondern die stehen gebliebene Zeit in klangliche (und durchaus komische) Bewegung bringt.

Surrealer Handlungsspuk

Atmosphärisch grundiert ist das alles noch durch das feinstimmige Hauskonzert des Sängers Hubert Wild, der seinen Johann als Countertenor am bürgerlichen Salonklavier meist barocke Melodien trällern lässt – zentral, auch für den surrealen Handlungsspuk, ist dabei "Son nata a lagrimar" aus Händels "Giulio Cesare", das Johann gemeinsam mit Sabrina (Katharina Linder) bis zur Erschöpfung geben muss.

Ach so, zum Schluss schaffen es die Partygäste durch einen Wiederholungstrick raus aus dem Furnier, die zu diesem Zeitpunkt schon recht lädierte Wohnzimmerbühne rollt dabei spektakulär in den Hintergrund. Doch dann geht das mit dem Gefangensein im Nichtstun wieder von vorne los, diesmal schwitzend in der Sauna (bei Buñuel war es noch die Kirche). Ist das nun doch ein Verweis auf die schweißtreibende Klimakatastrophe? Konkrete Erklärungshorizonte bleiben auch am Ende dieses gewitzten und souveränen Abends offen.

Der Würgeengel
von PeterLicht und SE Struck nach Luis Buñuel
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Hubert Wild, Alexandra Holtsch, Video: Jan Isaak Voges, Dramaturgie: Katja Herlemann, Licht: Marcel Heyde.
Mit: Torsten Flassig, Anna Kubin, Sebastian Kuschmann, Katharina Linder, Arash Nayebbandi, Julia Preuß, Lotte Schubert, Andreas Vögler, Hubert Wild.
Premiere am 20. Januar 2024 am Schauspiel Frankfurt
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

"Mit Beginn ist alles hin", reimt sich Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2024) im Vergleich mit dem Buñuel-Film ein entscheidendes Fehlen zusammen: das der Fallhöhe. "Diese Gesellschaft ist längst überflüssig geworden, alle reden läppische Albernheiten ohne Sinn und Geist, aber in enervierender Geschwätzigkeit". Als Kabarettabend sei das hinnehmbar, aber: "Claudia Bauer ist viel zu sehr Künstlerin, als dass sie leichtfertig aufgäbe". Sie schweiße das Ensemble zum aufgedrehten Spiel zusammen und verordne ihm Musik. "Das Ergebnis ist glorreich", schwärmt Tholl. Theaterhandwerkstechnisch prima, sei die Rettung des Abends dann aber doch eine inhaltliche. Bauer emanzipiere Maria, "Personal wird Königin", so Tholl. "Die anderen huldigen ihr, voller Bewunderung gegenüber dem einzig tätigen und nicht larmoyanten Menschen hier. Dazu rast Preuß mit schönstem Furor, dass es eine Freude ist".

In einen "ironisch und grell aufgeladenen Trip in die Untiefen des spätbürgerlichen Lebens" werde das Ensemble hier geschickt, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (22.1.2024). "Der Ton ist sofort hochgezwirbelt", deutlich bis – bei aller Virtuosität – überdeutlich. Wiederholung fülle den Stillstand. Die Figuren seien Karikaturen, von den Schauspieler*innen wunderbar ins Krasse gezogen. "Trotzdem wäre es vielleicht imposanter und vor allem viel verblüffender und kühner, auf der Bühne einmal einen Menschen zu sehen, der die Nerven behält", so von Sternburg. Julia Preuß' Maria sei die "Rächerin der Unterschicht", die mit einer Notsituation erfahrungsgemäß besser zurecht kommt als die Reichen. "Interessant, dass das Buñuel zu vordergründig gewesen zu sein scheint", kommentiert die Kritikerin. Das Ensemble sei "schön aufeinander eingespielt, der Beifall wärmend".

"Mit ihrem bitterbösen Furioso über das Versagen der Gesellschaft, die sich angesichts der Weltkrisen permanent zum Handeln auffordert, aber nur Worthülsen repetiert", treffe Claudia Bauer "den Nerv unserer psychisch gelähmten Epoche", schreibt Bettina Boyens in der Frankfurter Neuen Presse (22.1.2024) . Besonderes Augenmerk lege die ironische Überschreibung von Buñuels Kultfilm auf die soziale Schere. Maria bleibe "trotz peinlich achtsamer Ansprache lange gesellschaftlicher Fußabtreter", sei dann aber die einzige, die in Hunger und Not Abhilfe schaffe. Für kurze Zeit gelinge es ihr, die Hierarchie mit dem eitlen Gastgeber zu tauschen; doch in kürzester Zeit sei sie als Hausmagd erneut erniedrigt. "Szenenapplaus und gewaltiger Schlussjubel."

Ein sehr gut gemachtes Kammerspiel mit gut aufgelegtem Ensemble hat Esther Boldt vom Hessischen Rundfunk (22.1.2024) gesehen. Dramaturgisch sei der Abend allerdings vorhersehbar und habe entsprechende Längen. Inhaltlich bewege er sich nah an tagesaktuellen Diskursen – eine ob ihres Vermögens mit Verantwortung betraute Klasse, die sich angesichts zahlloser Krisen als handlungsunfähig erweise –, aber man erfahre leider wenig Neues.

Als "Stück der Stunde" präsentiere der stimmige Theaterabend den "Würgeengel", bemerkt Joachim Lange in der taz (22.1.2024). Den Charme eines eigenen Sounds, den Claudia Bauers Inszenierung entfalte, betone die Regisseurin noch, "indem sie ihren mit Lust an der Komödie spielenden Akteuren die Überakzentuierung eines pointiert ausstellenden Sprechens verordnet", so Lange. "Sie schleudern die pseudointellektuellen Phrasen zur Beschreibung ihrer Unfähigkeit zu handeln geradezu heraus und scheinen deren Wirkung nachzuspüren. Dazwischen blitzen dann immer mal Sequenzen des Politik- und Korrektsprechs von heute auf, die – zumindest anfangs – immer wieder für Lacher im Publikum sorgen." Klug zwischen das "Wortschwallturbotheater" geschaltet seien die in Großaufnahme projizierten Kommentare von Maria; sie sei "im Bündnis mit dem Publikum sozusagen die eingeschleuste Beobachterin eines Experiments". Großartig, findet der taz-Kritiker.

 

Kommentare  
Der Würgeengel, Frankfurt: Weggenickt
„So weit, so vorhersehbar.“ Genauso sah ich es auch.
Ich bin nach 60 Minuten das erste Mal weggenickt. Gab es keine Hausdramaturgie, die die Langeweile nicht auch sah? Die Schauspieler:innenleistungen in Frankfurt empfand ich persönlich als eine einzige Enttäuschung.
Der Würgeengel, Frankfurt: Feuerwerk
Ganz grosses Kino!
Danke!!!
Würgeengel, Frankfurt: Zu lang
Eher Triangel of Sadness als Würgeengel, aber immerhin war der Ursprung der Neuversion erkennbar (im Gegensatz zu Johann Simons Bochumer Version, die eher eine Variation von Warten auf Godot war, irgendetwas mit Klima, dass eine Aufführung trotz Sandra Hüllers Auftritt so schnell ins Vergessen gerät, spricht für sich) … Aufführung um eine halbe Stunde zu lang … alles wird ausgesprochen … die gegrillte Katze kam ein wenig plötzlich … bitte Pilzkopfperücken verbieten, das entstellt sogar hübsche Gesichter und dient nicht zu einer Charakterisierung, wenn etwa das dahinter steckt …
Würgeengel, Frankfurt: Ensemble leuchtet
Einen Weg-Champagner auf das grandiose Ensemble.
130 Minuten geleuchtet.
Wir kommen wieder.
Würgeengel, Frankfurt: Belanglos
kulturindustrie nichts weiter

der politische tod des theaters in seine belanglosigkeit
Würgeengel, Frankfurt: Recyceln
Alles schon mal gesehen. "Würgeengel" hieß in Frankfurt vor zwei Jahren noch "Der Charme der Bourgeoisie", "Malina" am Volkstheater Wien war zuvor "humanitää" am selben Ort und hat nun sein Pendant in Berlin am DT mit Titel "Ursonate". Danke, Nachtkritik und andere Medien, dass das Wiederholen und Recyceln jetzt offensichtlich wird.
Der Würgeengel, Frankfurt: Wiederholung
Müde bin ich geh zur Ruh....in Frankfurt nichts Neues
Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung...
Ich frage mich mittlerweile warum ich eigentlich überhaupt noch ins Theater gehe, denn das die intellektuelle Elite sich mit sich selbst zu Tode langweilt weiß ich seit Jahren.
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