Dogville - Karin Henkel bringt Lars von Triers gefilmtes Theater mit filmischen Mitteln auf die Bühne des Schauspiels Frankfurt
Hundestadt ohne Hundegefühl
von Grete Götze
Frankfurt, 11. April 2014. "Was hat der eigensinnige Däne diesmal nur wieder angestellt? Er hat ein Theaterstück gefilmt." Das schrieb die Zeitschrift Spiegel, nachdem 2003 Lars von Triers Film "Dogville" in die Kinos gekommen war. Artikel-Titel: Theater, Theater. Ein brutaler Film, in dem Lars von Trier den Zuschauer mit ellenlangen Einstellungen, Überlänge und einer furchtbaren Dorfgemeinschaft quält, die ihre hässliche Fratze im Zusammenleben mit einer schutzlosen Fremden zeigt. Und ihm am Ende nicht einmal die Hoffnung lässt, dass Grace (Nicole Kidman) oder man selbst besser ist, weil man sich ihren Rachefeldzug nur herbeigesehnt hat.
Und was macht die erfolgreiche Deutsche elf Jahre später am Schauspiel Frankfurt aus dem Film, der von Anbeginn derart nach seiner Inszenierung schrie? Karin Henkel versucht ein Kammerspiel mit filmischen Mitteln. Sie rückübersetzt Triers Theaterstück in einen Film. Mit echtem Streichquartett und musikalischen Einschüben vom Band, unterteilt in einzelne Szenen. Auf eine Drehbühne stellt ihr Bühnenbildner einen Plexiglaskäfig, in den ein Holzhaus mit unterschiedlichen Etagen und Orten eingeschlossen ist. Und so wie sich der Zeiger der Uhr dreht und die Zeit vergeht, dreht sich die Bühne.
Das wahre Grauen
Im Käfig, vor und neben der Drehbühne wird Grace (Claude de Demo) verdauliche zweieinhalb Stunden lang immer mehr von der Dorfgemeinschaft gequält, arbeitet, ohne Geld zu bekommen, wird missbraucht und schließlich in eine Holztruhe gesperrt. "Ist das ne Art, alle zu erschießen?", fragt Torben Kessler davor ins Publikum. Lars von Trier fand es eine Art, Grace alle niederschießen zu lassen, die sie gedemütigt haben. Die Frankfurter Grace hört ihren Vater, den Rächer, nur vom Band. Sie schießt schon am Anfang. Aber sie bleibt das Opfer. "In Ihrer Vorstellungswelt lauert das wahre Grauen", sagt Kessler. Da denkt der angesprochene Zuschauer noch, Kessler übernehme nicht nur die Rolle von Tom, der die Gemeinschaft überzeugt, Grace aufzunehmen, sondern auch die des Erzählers. Aber er richtet sich nur am Anfang und am Ende ans Publikum.
Dazwischen hat sich Henkel schöne Bilder überlegt: Grace läuft aus Angst vor Grausamkeiten nur rückwärts die Treppe hinunter. Das Ensemble friert, nachdem das Wetter und die Stimmung umgeschlagen ist, zusammen hinter dem Plexiglas. Die Dorfgemeinschaft singt schräg hintereinander angeordnet, christliche Lieder, nachdem sie Grace schlecht behandelt hat. Und bevor Manuel Harder als Chuck Grace in der von einem Duschvorhang umhüllten Badewanne vergewaltigt, zieht er seine Jacke aus und klebt sein Kaugummi auf die Veranda. So viel Zeit muss sein.
Lichtpunkte der Fiesheit
Zeit für genaues Arbeiten schon, aber für Gefühl nicht. Wo Trier seinen Zuschauern keine Gnade vor der Eintönigkeit seiner Bildeinstellungen lässt, nur in Kreide die Grundrisse der Wohnungen auf eine schwarze Bühne zeichnet, schenkt Henkel ihren Zuschauern Hauswände, farbige Kostüme, musikalische Unterbrechungen und echte Kinder auf der Bühne. Das ist inszenatorisch unterhaltsam und technisch gelungen. Und auch Schauspieler wie Kate Strong, mit einem widerlichen britischen Akzent das Telefon nach Grace befragend, sind Lichtpunkte der Fiesheit.
Aber es erschließt sich nicht, was Henkel mit ihrer Inszenierung bewirken will. Sie vermag es nicht, in der Vorstellungswelt des Zuschauers echtes Grauen zu entfachen. Henkel macht aus einem unfassbar wütenden Film, der polarisierte wie wenige vor ihm, eine zahme Inszenierung. Wo Lars von Trier ein Labor über das abgründige Wesen des Menschen auf eine kahle Bühne stellte und damit die wildesten Gefühle auslöste, belässt diese Aufführung mit viel mehr Mitteln die Emotionen in der Schublade. "Seien Sie bereit für das Gute und das Böse", sagt Kessler als Tom. Am Ende setzt sich der Böse Tom auf die Gute Grace in der Kiste. Es entsteht der Eindruck, Henkel habe Bilder ausgetüftelt, die so genau sind, dass sie zur Rohheit ihrer Aussage nicht passen.
Nur ein Moment fällt heraus: Bei der ersten Verbeugung des Ensembles liegt Claude de Demo noch in der Kiste. Kommt Sie da nicht alleine heraus? Warum hilft ihr keiner? Soll man diesen gemeinen Schauspielern jetzt etwa Applaus klatschen, während de Demo im Dunkeln gefangen ist? Bitte mehr davon!
Dogville
von Lars von Trier
Deutsch von Maja Zade, dramatisiert von Christian Lollike
Regie: Karin Henkel, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Jörg Gollasch, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Claude De Demo, Torben Kessler, Thomas Huber, Manuel Harder, Heidi Ecks, Jörn Kirchner, Kate Strong, Andreas Uhse, Isaak Dentler, Wiebke Mollenhauer, Katharina Bach, Daniel Rothaug, Martin Rentzsch (Stimme des Vaters) und Kindern.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Alles sehr anschaulich, alles sehr unterhaltsam", findet Verena Lueken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.4.2014) diese als Rückblende erzählte Fassung. Wenn Tom aber ein alternatives Ende erfinde, werde plötzlich zahnlos, was radikal begann.
Eine "gelungene Inszenierung" hat Judith von Sterneburg erlebt, wie sie in der Frankfurter Rundschau (14.4.2014) schreibt. Durch die Rückblende und klassische V-Effekte schaue man "anders hin, entspannter, mit kühlerem Herzen, vielleicht verwunderter darüber, dass Grace sich all das gefallen lässt, und auch quasi analysebereit".
"Von Trier hat den Zuschauer mit seiner strengen Versuchsanordnung ins Innerste getroffen", so Anke Dürr auf Spiegel Online (14.4.2014). "Henkels Inszenierung ist dagegen merkwürdig vergnüglich anzuschauen. Die Regisseurin behauptet die Allgemeingültigkeit nur, rückt das Stück aber mit realistischen Details der Kleinstadt, die bei ihr vollgestopft ist mit christlichen Symbolen, weit weg von uns, dem aufgeklärten, säkularen, großstädtisch-intellektuellen Publikum. Man betrachtet diese Kleinstadtbewohner wie Versuchskarnickel: mäßig interessiert, nicht involviert."
Karin Henkel inszeniere, "als habe sie sich immerzu gefragt: Muss ich mich wirklich auf Lars von Triers moralischen Rigorismus einlassen, wo er sich doch selbst von der Schlussszene distanziert?", beschreibt Jürgen Berger den Abend in der Süddeutschen Zeitung (15.4.2014). Dieses Fragezeichen über der Inszenierung habe zur Folge, "dass die Frankfurter Grace kein zarter Tugendterrier, sondern eine Doris Day der Wohlanständigkeit ist." Der hinzugefügte Schluss "hört sich grausamer an als im Film gedacht, wirkt auf der Bühne aber harmloser als vorgesehen".
In der tageszeitung (taz, 15.4.2014) schreibt Shirin Sojitrawalla: Karin Henkel verwandele Lars von Triers Film, der "nach Theater aussieht", in eine "Aufführung, die nach Film aussieht". Die Bewohner Dogvilles trügen "teilweise unwahrscheinlich gelbe Klamotten und machen unmögliche Gesten". Claude de Demo sehe wie ein lädierter Filmstar aus. Die bunte Bürgerschar, im Film eine triste Ansammlung rechtschaffen bigotter Bürger, "mutiere in Frankfurt zu sich selbst und zu geifernden Kaugummifratzen". Dabei ergäben sich immer wieder "herrlich fleischliche Bilder". Obwohl Henkel alles in "eine bunte Aufgekratztheit" hineindrücke, übertrage sich dennoch die Beklemmung, die diese Geschichte auslöst.
Alexander Jürgs schreibt in der Tageszeitung Die Welt (12.04.2014): Lars von Trier habe seinen Film als "Parabel auf die Unbarmherzigkeit der amerikanischen Gesellschaft" verstanden. Karin Henkels Version bewege sich nach "martialischen Auftakt rasant in Richtung Boulevard, Komödie und Slapstick". Eine durchgedrehte Bande Dorftrottel, von denen "ständig jemand in norddeutschen Tonfall verfällt", so dass man sich bald "ans Hamburger Ohnsorg Theater erinnert". Unbedingt wolle sich Henkel der "Wucht des Originals" verweigern. Als Strategie einleuchtend, trotzdem laufe ihre Inszenierung "ins Leere", weil sie es nicht schaffe "zu berühren". Wo von Trier "Abgründe" zeige, habe Henkel alles "mit Boulevardtheatersoße zugekleistert".
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