Geisterbahnfahrt der Gefühle

28. Oktober 2023. Die Geschichte des blutsaugenden Grafen Dracula ist aus Bram Stokers Vampir-Roman (von 1897) bis in alle Winkel der Popkultur vorgedrungen. Regisseurin Johanna Wehner holt sie jetzt ins Schauspiel Frankfurt. Stilecht mit Knoblauch und Pfahl ins Herz.

Von Martin Thomas Pesl

"Dracula" in der Regie von Johanna Wehner am Schauspiel Frankfurt © Arno Declair

28. Oktober 2023. Das Theater der Johanna Wehner ist für jene, die noch wollen, dass auf der Bühne Geschichten erzählt werden. Ganz im Wortsinn: Ihre Ensembles betreiben kollektives Storytelling, sie erinnern sich gemeinsam an Geschehenes und berichten es dem Publikum.

Diesmal kommt eine alte Geschichte dran, eine rasend beliebte. Alle meinen Dracula zu kennen, er ist westliches (Pop-)Kulturgut. In über 400 Filmen bleckt der transsylvanische Graf blutdürstig die spitzen Eckzähne. Den 1897 erschienenen Roman von Bram Stoker haben dabei wohl nicht viele im Detail parat. Wer das ändern möchte, kann entweder die aus Zeitungsartikeln, Briefen, Log- und Tagebüchern zusammengesetzte Prosa des irischen Schriftstellers lesen oder sich die Handlung von adrett gekleideten Spieler:innen nach und nach an der Rampe der großen Bühne im Schauspiel Frankfurt erzählen lassen.

Mysteriöse Villa

Wie schon bei "Hiob" 2022 arbeitet Johanna Wehner mit einem siebenköpfigen Ensemble. Im Hintergrund erhebt sich eine ziemlich mitgenommene Villa – oder was davon übrig ist. Die Küche hat es weggebrochen, ein versiffter roter Teppich schützt leidlich die einst sicher prachtvolle Holztreppe, an deren Fuße steht ein Anachronismus, der rätselhaft bleibt: ein Getränke- oder Zigarettenautomat, höchstwahrscheinlich kaputt.

Schauerromantisch schön: das Ensemble in der verfallenen Spuk-Villa von Bühnenbildner Benjamin Schönecker © Arno Declair

Ihren Spieler:innen teilt Wehner diesmal feste Rollen zu. Nur der tierliebe Nervenpatient Mr. Renfield wird zum mehrköpfigen Ungeheuer, und wann immer es etwas zu erklären gibt – dass etwa Mina Murray ihre Freundin Lucy Westenra in Whitby besucht und wie es dort aussieht –, hilft das gesamte Ensemble erzählerisch zusammen. Dabei geht es freilich nicht immer harmonisch zu: Einer präzisiert, die andere widerspricht, aber im Wesentlichen ziehen alle an einem Strang.

Filmmusik und Grabesstille

So entsteht eine Partitur aus Ausrufen und Einwürfen, persönlichen Gedanken und handlungsfördernden Präsens-Sätzen im Spukschloss, untermalt von einem filmisch unauffälligen Score und unaufhörlicher Bewegung. Hinter der jeweiligen Person im Fokus schlängeln sich die Miterzählenden von links nach rechts wie ein sprechender Schwanz. Wenn in der singulären Dialogszene zwischen dem Anwalt Jonathan Harker und Graf Dracula in dessen Anwesen ausnahmsweise niemand herumwuselt, genießt man die unheimliche Grabesstille.

Zunächst aber ist die Grundstimmung Heiterkeit. Gilt es doch Heiratsanträge und Verlobungen zu feiern und wie überhaupt alles schön ist. "Froh zu sein bedarf es wenig", stimmt die Gemeinschaft insgesamt dreimal an, anfangs unbeschwert, später – als längst Schaudern und Trübsinn in Licht, Klang und Sprache Einzug gehalten haben – mit Galgenhumor und schließlich das seltsame Happy-End feiernd, ohne so richtig daran glauben zu können.

Dracula 2 Arno Declair uUnheimliche Gastfreundschaft: Matthias Redlhammer als Dracula und Christoph Bornmüller als Jonathan Harker © Arno Declair

Denn in der Tat hat sich der Vampir am Schluss originalgetreu aufgelöst. Der Knoblauch des Professors Van Helsing hat zwar nicht genutzt, der Pfahl ins Herz aber schon. Dabei war man fast sicher, Matthias Redlhammer würde das Spiel zugunsten des Bösen drehen, so selbstsicher verhöhnt sein Dracula den Peptalk des Professors (Heidi Ecks), als dieser die in ihrem Glücksstreben behinderte Gemeinschaft der jungen Leute zum Endkampf aufruft. Redlhammer ist ein grimmiger Graf, nicht blutrünstig, eher ungeduldig, ein frustrierter Oppositionspolitiker im Parlament, der keine Ruhe gibt und sich große Worte wie "Pflicht" und "Überzeugungen" sarkastisch auf der Zunge zergehen lässt, bis sie tot sind.

Kulinarischer Genuss

Die späten Szenen, in denen das erzählende Kollektiv auch als handelndes greifbar wird, überzeugen am meisten. Zuvor nimmt der gekonnt gebaute Erzählfluss etwas Ermüdendes, ja Blutleeres an. Als Kontrast, zum Aufwachen, wird der viktorianisch formelle Stil der oft schriftlichen Kommunikation zwischen den Figuren erbarmungslos ironisiert – und der selbst gewählte Text somit lächerlich gemacht.

Neben Redlhammer bekommen nur zwei der Spieler:innen Gelegenheit, ihre Charaktere zu formen: Christoph Bornmüller gelingt es, die ständige Angst des braven Bürokraten Jonathan zu vermitteln, der stets wirkt, als würge ihn seine Fliege. Und bei Caroline Dietrichs Mina spürt man einen Hauch lebensfrohe Salondame, für deren Glück sich die Vampirjagd lohnt.

Ohne Zweifel, Johanna Wehner kann erzählen, kann komponieren. Dass nicht immer zwingend klar wird, warum sie es tut, muss dem kulinarischen Bildungslückenschließgenuss nicht im Wege stehen. Und wer froh ist, ist ein König. Shala-lala-la, lalallalla.

 

Dracula
von Johanna Wehner nach Bram Stoker
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Benjamin Schönecker, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Vera Mohrs, Kostia Rapaport, Licht: Ellen Jaeger, Dramaturgie: Katja Herlemann.
Mit: Christoph Bornmüller, Caroline Dietrich, Heide Ecks, Judith Florence Ehrhardt, Stefan Graf, Arash Nayebbandi, Matthias Redlhammer.
Premiere am 27. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Der Abend überzeuge zuerst, verdrieße aber zuletzt, so Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (30.10.2023). Es gehe um Rehabilitierung, das funktioniere - bis Graf Dracula selbst ziemlich viel zu sagen hat. Für alle möglichen Deutungen öffne Benjamin Schöneckers Bühnenbild das Terrain. Wehner greife die Form des Stoker’schen Romans auf, in dem es keinen einzelnen Protagonisten gibt. "Lässt oft alle Beteiligten aufmarschieren, -trippeln, -huschen, eine Polonaise formen."

Dieser Dracula sei "ein zahnloser Wichtelmann ohne Biss", der "penetrante Gemeinplätze" aufsage, seufzt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (30.10.2023, €) und konkretisiert: "Dass der Untote blutleer wirkt, liegt ja in der Natur der Sache." Aber dass die Regisseurin Johanna Wehner "auch dem Rest des Ensembles alle Lebenssäfte entzieht (…), macht den Abend ermüdend und das Theater blass wie zehn Rosenkranz-Gebete." Das Ganze schwanke "zwischen alberner Klamotte, unentschlossener Parodie und großspuriger Parabel", so der Kritiker. Die Dramaturgie habe "so reichlich Versatzstücke aus dem Bauchladen postkolonialer Theorien beigesteuert, dass der `Dracula nach gut zwei Stunden mausetot in die Gruft fährt."

"Wenn er sich aufregt, erinnert dieser Vampir an den Kabarettisten Mathias Richling. Nichts, was man fürchten müsste", schreibt Shirin Sojitrawalla in der FAZ Rhein-Main-Zeitung (30.10.2023). Das Bühnenbild schöpfe aus dem Vollen des Dystopie-Bilderfundus. "Nur das Ensemble scheint hier die meiste Zeit quicklebendig und schneit zu Beginn gut gelaunt herein." Musikalischen Einsprengsel geben die Temperatur des Abends vor: aufgekratzte Lauheit. "Die szenische Fantasie wirkt eingehegt und käsekästchenhaft", aber der markant affektierte Inszenierungsstil Wehners mit seinen präzise eingeübten Manierismen zeugt dabei von großem Formwillen.

"Dracula als Folie für die nervöse Ära von explosivem Shit-Storm und Panikmache? Eigentlich ein innovativer Zugriff auf den Text, sollte man meinen. Doch leider trägt die Idee nicht über das sich knapp zwei Stunden erstreckende Arrangement", schreibt Björn Hayer in der taz (online 31. Oktober 2023). Es werde an diesem Abend viel nacherzählt, aber auf der Ebene der sichtbaren Handlung tue sich nichts. Kaum ein Bild generiere einen Mehrwert, "kein einziger nachwirkender Moment bleibt von dieser Aufführung hängen", so Hayer. "Völlig blutleer" sei dieser "Dracula".

Kommentare  
Dracula, Frankfurt/Main: Nicht eindeutig
Hmm, das sich die Kritiker in letzter Zeit nicht eindeutig zu einem Theaterabend im Resümee durchringen können ist ein grosses Leid der Kritiker geworden
Dracula, Frankfurt/Main: Großartig
Um es kurz zu beschreiben - dieser Abend ist großartig - finde ich. Großartig gespielt, vom gesamten Ensemble, schrecklich komisch und todtraurig. Und diese Musik, ein Wahnsinn, also so ging es mir, eindeutig! Danke dafür!
Dracula, Frankfurt/Main: Form ohne Aussage
Also: ich fand’s formal-handwerklich einen solide gearbeitet Abend. Da steckt Arbeit drin (leider merkt man es) da Sprache in Rhythmus übersetzt und dies körperlich-choreographisch umgesetzt wird.
Allerdings geht mein Erkenntnisgewinn gegen ‚Null‘ und keine Ahnung, was das soll oder ob’s was soll. Man könnte auch sagen ‚inhaltsleer’ bzw. aufgebläht. Die Nachtkritik empfinde ich diesmal leider ähnlich…
Dracula, Frankfurt/Main: Bigotte Trümmer
Nun, wer Matthias Redlhammers, der als Dracula fragt, welche Sühne es für vergossenes Blut denn gäbe, nicht gehört haben soll, dem ist die Aussage, oder die Thematik vielleicht nicht aufgefallen. Aber hier wurde eine Gesellschaft, die ständig ihr Wohlbefinden („Alles ist gut“) und ihre Überlegenheit (zum Beispiel Van Helsing, aber auch Jonathan Harker, der nebenbei die immer langsamer werdenden Züge im Osten beschreibt) behauptet, gezeigt, die dann in ihrer eigenen kulinarischen Blutrünstigkeit nur noch in ihren bigotten Trümmern steht. Das finde ich nicht inhaltsleer, aber es sehen und hören Leute scheinbar unterschiedlich zu. Ich fand es großartig!
Dracula, Frankfurt/Main: Schade
Es gibt starke Menschen, die zwei Stunden lang den Geruch von Farben und Lösungsmitteln, welche das tolle Bühnenbild ausdünstet, ertragen. Selbst, leider zu schwach, nach wenigen Minuten die Fluch ergriffen und mit Kopfschmerzen über die fatale Lüftung im Saal enttäuscht, nach Hause gefahren. Unterwegs habe ich so manche Gedanken über Teamwork, Plannung, Organisation, schließlich Philosophie und Frankfurt allgemein. Na schade. Ich hoffe das nächte mal wird besser.
Dracula, Frankfurt: Geruch der Farbe
Die so lange getrocknete Farbe muss für so genau riechende Leute ein großes Problem sein. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit mit der Inszenierung, dem Stoff und den grandiosen Darstellern wird dem wahrscheinlich auch geschuldet sein. Es gibt übrigens eine wunderbar genaue und wunderbare Kritik dieses wunderbaren Abends in der aktuellen Theater Heute. Könnte dem Verständnis nicht schaden!
Dracula, Frankfurt: Aktueller Schauer
Großartige Inszenierung und Schauspieler:innenkunst. Eine grandiose Darstellung eines gesellschaftlichen Bewegungs-, Sprach-und Gemütszustandes zwischen beschwingtem, romantischem Dasein und dem Eindringen des blanke Schauers, den die Agonie mit sich bringen kann. Keine leichte Kost, die Begegnung mit Dracula, dem berühmtesten Blutsauger aller Zeiten. Da ist man selbst ganz erleichtert, -über die Atempause-wenn alle mal anstimmen "Froh zu sein bedarf es wenig.." Vielleicht liegt es daran, dass mein Großvater aus Siebenbürgen stammt, aber kurzzeitig empfand ich die innere Bedrängnis so stark, dass ich dachte ich müsste mal kurz den Saal verlassen. Die tödliche Bedrohlichkeit scheint ja auch im gesamten Raum und aus der Richtung des Publikums zu kommen. So empfinden eingewanderte, geflüchtet Menschen, wenn die große Kulturmeile wichtiger wird, als die existentiellen Belange der Menschen. Sehr aktueller Schauer. Nie wieder, ist jetzt!!
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