Mein Kampf – Amélie Niermeyer inszeniert George Taboris bitteren theologischen Schwank am Main
Und um die Ecke glotzt das Grauen
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 31. Oktober 2010. Das Wiener Männerheim unter der Metzgerei Merschmeyer besteht in Frankfurt aus einer gekachelten Hinterwand, die eine kleine Spielfläche begrenzt. Aus den Kacheln lassen sich Betten herausklappen, das Bad ist in der Mitte und unten hausen nur noch die Hühner. Im Wohnheim, einem zugigen Zuhause für Gestrandete aller Art, befrotzeln sich der ewig gute Mensch Schlomo Herzl und der nicht ganz koschere Koch Lobkowitz (Felix von Manteuffel), der sich ohne weiteres für den lieben Gott hält. Schlomo verkauft Bibeln und das Kamasutra, Lobkowitz schlägt sich irgendwie anders durch. Eines Tage steht dann ein gewisser Hitler vor der Tür, ein Muttersöhnchen und radikal realistischer Pinselschwinger, der es an der Kunstakademie versuchen möchte und dabei beachtlich scheitert.
Der nicht zu ersetzende Theatermann und Menschenmöger George Tabori entwickelte aus dieser Konstellation eine unglaubliche Liebesgeschichte. Schlomo nämlich liebt das hypochondrische Muttersöhnchen aus Braunau am Inn. Und mehr noch: Unter Schlomos Regie entwickelt sich das untalentierte Jüngelchen erst zum größenwahnsinnigen Herrscher. Das ist natürlich eine Farce, Tabori selbst sprach von einem theologischen Schwank. "Mein Kampf" heißt sein auf der gleichnamigen Erzählung fußendes Drama, das er selbst 1987 im Wiener Akademie-Theater uraufführte.
Diktatorenherrlichkeit in Unterhosen
Das Stück ist ein bitterer Witz. Ein Pointenfeuerwerk, gezündet über dem Abgrund von Auschwitz. Immer wenn man es sich gerade im Gelächter gemütlich macht, glotzt das Grauen um die Ecke. Auch darum ist das Lachen ein trotziges: wir lachen, obwohl wir wissen, dass es nichts zu lachen gibt. Es ist ein Lachen der sorglosen Verzweiflung. Die kurzweilige Inszenierung von Regisseurin Amélie Niermeyer, bis zum Ende der Spielzeit noch Generalintendantin in Düsseldorf, macht es dem Publikum nicht schwer, in dieses Lachen einzustimmen. Das liegt zuallererst am Text und gleich danach an ihren beiden Hauptdarstellern: Michael Benthin als durchs Wohnheim schlurfender Schlomo ist von umwerfender Liebenswürdigkeit, die über jeden Scherz erhaben scheint und dennoch zum Lachen animiert.
Er liebt Hitler wirklich und denkt sich nichts Böses, als er ihm einen neuen Look verpasst: Bärtchen und Scheitelhaar. Andreas Uhses Hitler kommt erst als niedlicher Bubi im Trachtenstrick auf die Bühne und entfaltet später selbst noch in langen Unterhosen große Diktatorenherrlichkeit. Mit seiner hageren Statur und seinem charismatischen Schädel erscheint er als großmannssüchtiges Strichmännchen. Eine Witzfigur, die sich scheinbar selbst parodiert. Aus der zentralen Verwandlungsnummer macht Niermeyer eine swingende Slapstickshoweinlage. Schwarze Schuhwichse besorgt Hitlerbärtchen und Kopfschmuck im Handumdrehen.
Gerupftes Hühnchen in Blutsauce
Von Anfang an aber lehnt der Tod wie eine lässige Diva an der Wand neben der Bühne. Später hockt Valery Tscheplanowa als Tod wahlweise mit Schlomo oder Hitler auf dem Hochbett und spricht mit atemberaubender Stimme letzte Wahrheiten gelassen heiser aus. Doch das dicke Ende kommt erst noch, denn im fünften Akt, wenn Hitler und Konsorten im Wohnheim einfallen, darunter auch Schlomos geliebtes Gretchen (Henrike Johanna Jörissen), steigert sich Hitlers Spezi Himmlischst (Sascha Nathan) in einen wahren Blutrausch hinein.
In Frankfurt erzählt er nicht nur in bester Fernsehkochmanier, wie man Hühnerkoteletts Mizzi in delikater Blutsauce auf Wildart zubereitet, sondern er führt es vor: zerlegt ein nacktes Hühnchen, zerfetzt, zerhackt, zermatscht es, nimmt es aus, kurz: schlachtet es. Am Ende dieser für zartere Gemüter schwer mitanzusehenden Fleischorgie bedeckt blutiges Zeug den Bühnenboden (Requisite: Iris Hagen, Corinna Lange, Uschi Trella) und fleischliche Überreste braten in der Pfanne. Das mag einem schmecken oder nicht, angesichts wahrer Gräueltaten ist es bloß ein Spaß.
Mein Kampf
von George Tabori
Regie: Amélie Niermeyer, Bühne: Stefanie Seitz, Kostüme: Kirsten Dephoff, Musik: Cornelius Borgolte, Licht: Ellen Jäger, Dramaturgie: Andreas Erdmann.
Mit: Michael Benthin, Henrike Johanna Jörissen, Felix von Manteuffel, Sascha Nathan, Valery Tscheplanowa und Andreas Uhse.
www.schauspielfrankfurt.de
Mehr Tabori? In Nürnberg verschränkte Frank Behnke Lessings Lustspiel "Die Juden" mit George Taboris "Das Jubiläum" 2009 zum Vorher-Nachher-Spiel.
"Mein Kampf" komme "formal vor allem als ein Stück hinter der Maske des - wenn auch reichlich abgedrehten - Schwanks daher", schreibt Christoph Schütte in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen (1.11.2010). Und "Andreas Uhses Hitler in Strickwams und Kniebundhosen" sei "eine groteske Witzfigur, die man ernst nimmt nur, weil man um die Leichenberge weiß". Amélie Niermeyer lese "Mein Kampf" "denn auch gerade so: als fulminante Farce". Und auch wenn man mitunter fürchten müsse, "Niermeyers Inszenierung erschöpfe sich allein in der Groteske", lasse sie "das Grauen doch zumindest ahnen".
Für das Theater seien Hitler und auch das Stück "Mein Kampf" "eine Zwangsjacke geworden, Hitlers Rollenpotential ist hundertfach ausgelotet, im Kern ist sein Typus ohnehin unverrückbar, seine Ausdrucksmittel begrenzt", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (1.11.2010). Bei "Mein Kampf" sei "kaum etwas Neues zu erfinden, weder Figur noch Geschichte bieten dem Regisseur größere Freiheiten. Dabei muss er dieses Stück dann auch noch so leicht inszenieren, wie Tabori es geschrieben hat." Genau dies habe Amélie Niermeyer in Frankfurt versucht und habe gewonnen. "Andreas Uhse kommt Hitler nahe, gewagt nahe, nicht nur mit seinen zackigen, hackigen Bewegungen, auch mit seinen stieren, ängstlichen Blicken, die von schweren inneren Kämpfen erzählen. Man kann Mitgefühl haben mit diesem hochmütigen Zwerg, so wie der liebende Schlomo. Man sieht das kommende Monster, aber auch den armen Kerl. Uhse und Niermeyer haben ein Herz für ihn, was man am schönsten sieht, wenn er nachts bei einer Stierkampf-Polonaise mittun will."
"Als George Tabori sein Stück vor über 20 Jahren herausbrachte, war es an deutschen Theatern noch ein sittlicher Verstoß, sich über Hitler zu amüsieren", glaubt Sabine Kinner in der Frankfurter Neuen Presse (1.11.2010). Seither aber habe "sich der Umgang mit dem Massenmörder entkrampft". Folglich könne "Mein Kampf" jetzt am Frankfurter Schauspiel "so selbstverständlich über die Bretter gehen wie eine Comedy für Intellektuelle". "Den Abend zu einem Bravourstück zu machen", gelinge Amélie Niermeyer nicht. "Dazu fehlt es an sarkastischer Zuspitzung von Dialog und Handlung. Allzu vieles verläppert sich, bleibt unausgespielt und unerklärt." An dem Hitler-Darsteller Andreas Uhse liege das aber nicht: er mache "aus jedem Satz eine pathetische Rede, windet sich wegen Verstopfung und schwenkt steif die Arme, bis der Hampelmann aus dem werdenden Diktator beachtlich hervortritt."
Begeistert zeigt sich Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (9.11.2010): "Niermeyer lässt den Text für sich wirken. Was nicht heißt, dass sie ihn nicht lustvoll auskostet. Abgesehen von jüdischer Musik, die aus dem Röhrenradio dringt und einmal auch Hitler zu einer wüsten Polka verleitet, zu der er Hut und Schläfenlocken trägt, abgesehen von Wagners 'Liebestod' aus dem 'Tristan', der die Begegnung des Schlächters mit seiner Auftraggeberin in höhere Sphären hebt, ist die Aufführung wunderbares, reines Schauspieler-Theater, voller Kabinettstückchen, die nie zum reinen Selbstzweck verkommen." Manche Szenen erinnern ihn an Tarantino-Filme. "Und doch, trotz dieser Momente, ist 'Mein Kampf' in Frankfurt ein unaufgeregter, aber aufregender, in seiner Präzision beeindruckender Abend. Der ein wenig wehmütig macht, weil Amélie Niermeyer im nächsten Sommer Professorin wird und dann wohl kaum mehr zum Inszenieren kommt."
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Könnte es sein, daß Sie das deutsche Wort Tiefgang nicht recht verstehen? Es wäre doch schön, wenn das Frankfurter Theater in die Tiefe ginge. Statt dessen geht es mit den von Ihnen angeführten Schenkelklopfern hoch her, aber eben nicht tief. Das nenne ich mal einen Niedergang.