Im Vogelflug über die Kleinkrämerei

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 29. August 2010. Es marschiert strack geradeaus. Mit dem Schrittwechsel klicken die Scheinwerfer: an, aus. Streifen weißen Lichts ergießen sich über die schiefe Ebene, das Hell-Dunkel wechselt im Takt der Schritte. Durch Licht und Schatten rauschen Sängerinnen in bodenlangen Röcken heran, sacht weht ihr Lied: "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?" Hinter ihnen läuft eine Heerschar auf, mit golden blitzenden Uniformknöpfen und stillgestellter Mimik, schiebt sich Schritt um Schritt, Lichtwechsel um Lichtwechsel auf das Publikum zu.

Da ist es also, das "Fleisch von meinem Fleische", die Glücksverheißung am Theater, die Goethe pries und heute noch diverse Theaterwissenschaftler vom Theater als realem Versammlungsort der Körper schwärmen lässt. Doch zur Projektionsfläche taugt diese Menge im Schlagschatten kaum, auch wenn sie vom Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben spricht und dabei jedes Wort scharf vom nächsten trennt, sodass es einsam in der Luft steht, bevor es verpufft.

Strampeln in Standesgrenzen

Mit Johann Wolfgang Goethes Theaterroman "Wilhelm Meisters theatralische Sendung" steht ein ungewöhnlicher Stoff am Spielzeitauftakt des Schauspiels Frankfurt: Die Geschichte des naiven, neugierigen und erlebnishungrigen Kaufmannssohnes Wilhelm Meister, der schon als Kind seine Einbildungskraft pflegte und die Berufung zum Theater spürte, sich zum Höhenflug über die Kleinkrämerei jedoch lang aus seinen Standesgrenzen freistrampeln muss.

Anlass zur Auseinandersetzung ist die biennal stattfindende Goethe-Festwoche, bei der sich diesmal zahlreiche Kulturinstitutionen der Stadt mit der Figur Wilhelm Meisters beschäftigen. Die "theatralische Sendung" gilt als 'Urmeister', 1777 begonnen, hat Goethe sie nie vollendet, sondern sie vielmehr später in "Wilhelm Meisters Lehrjahre" umgearbeitet.

Gedanken frei im Kaufmannsstande

In "Wilhelm Meister. Eine theatralische Sendung" hat Regisseur Ulrich Rasche alle Handlungsebenen des ungestümen, episodischen Stoffs gestrichen und allein die Diskurse behalten. Und davon gibt's viele, wettert hier doch der stürmende, drängende Meister gegen Standesgrenzen und den noch schlechten gesellschaftlichen Status des Theaters. Ein neues Theater, seine Integration als bürgerliche Institution kündigt sich ebenso an wie das moderne, autonome Subjekt auf der Suche nach Selbstverwirklichung.

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Bettina Hoppe als Wilhelm Meister © Birgit Hupfeld

Rasche, der unter anderem auch schon an den Berliner Sophiensaelen, an der Volksbühne und am Staatstheater Stuttgart mit Chören arbeitete, gibt diesen Disputen so viele Stimmen, dass sie fast revolutionär klingen – oder auch ziemlich komisch, wenn beispielsweise vorn die Sänger das Wort "Kaufmannsstande" zu einem dichten Klangteppich intonieren und sich aus dem Hintergrund der Sprecherchor in seinen schwarzen Uniformen heranschiebt und tönt: "Die Gedanken sind frei". Abgelöst von der Romanhandlung werden die Debatten Meisters mit seinem Schwager, einem Freund oder Schauspieler unpersönlich und allgemein, aus dem theateraffinen Kaufmannssohn wird ein Repräsentant seiner Zeit, ihrer Konflikte und Umbrüche.

Monströse Monotonie zu flirrendem Licht

"Wilhelm Meister. Eine theatralische Sendung" ist eine monströse, monotone Theatermaschine, die knappe zwei Stunden gleichbleibend durchläuft: In verschiedenen Formationen marschieren ein Sprech- und ein Gesangschor sowie die Schauspieler Bettina Hoppe und Joachim Nimtz von der Rückwand über die schiefe Ebene auf den Zuschauer zu, verkünden dabei mit unbewegter Stimme ihre Botschaft und gehen ab, sobald sie an der Rampe angekommen sind – ein fortschreitender, im Lichtwechsel fortflirrender Rhythmus, der militärische Ordnung herstellt. So werden bürgerliche Sicherheit gegen künstlerische Freiheit ins Feld geführt, bürgerliche Tatkraft gegen adelige Selbstverwirklichung und die Schönheit der doppelten Buchführung gegen den Vogelflug, kurz: gesellschaftliche und ökonomische Zwänge gegen die innere Notwendigkeit der Kunstschöpfung.

In seiner Verkürzung schält Rasche Kernpunkte und gesellschaftskritische Momente des Romanfragments heraus und überführt sie in die hochartifizielle Sprache einer opernhaften Inszenierung, die in ihrer gleichbleibenden, strengen Form abwechselnd hypnotisiert und elektrisiert, einschläfert und aufregt.

 

Wilhelm Meister. Eine theatralische Sendung
Ulrich Rasche nach Johann Wolfgang Goethe
Regie: Ulrich Rasche, Kostüme: Bernd Skodzig, Mitarbeit Regie/Leitung des Sprechchors: Jürgen Lehmann, Musik: Sir Henry, Chorleitung Europaakademie: Prof. Joshard Daus, Einstudierung Gesangschor: Sebastian Kunz, Licht: Jan Walther, Dramaturgie: Andreas Erdmann.
Mit: Bettina Hoppe, Joachim Nimtz.
Sprechchor: Ana Berkenhoff, Uta Bierbaum, Maren Claus, Iris Reinhardt Hassenzahl, Franziska Kruse, Kornelia Lüdorff, Nici Nathan, Lydia Schamschula, Johannes Clauss, Andrej Falk, Sebastian Gerasch, Daniel Heck, Marcus Hosch, Robert Ludewig, Thomas Prazak, Alexander Weise.
Gesangschor: Julika Birke, Judith Brombacher, Susanne Christ, Ieva Giadamaviciute, Iris Hartung, Ah-Rang Lee, Kinga Lukasik, Yoon-Kyung Shin, Cellina Fischbach, Kathrin Hövelmann, Ausra Stravinskaite, Laura Labogaite, Mira Szary, Ines Madeira, Martha Lubosz, Laura Stancikaite, Daniel Hild, Edgar Kist, Simon Hetterich, Vilius Mineikis, Carlos Esteban, Pablo Romero, Vladimir Tarasov, Michael Bootz, Bernhard Behr, Sebastian Covarrubias, Tobias Falk, Johannes Schwarz, Romanas Kudriasovas, Thomas Heiss, Arturas Miknaitis, Sebastian Kunz.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Mehr über Ulrich Rasche im nachtkritik-Archiv, z.B. über seine Lichtstreifen-Choreographie in den Seestücken der Berliner Volksbühne. Goethes Wilhelm Meister hat bereits vor einem Jahr eine Spielzeiteröffnung bestritten, nämlich am Staatsschauspiel Dresden, in der Regie von Friederike Heller, mit Christian Friedel in der Hauptrolle.

 

Kritikenrundschau

"Vergnüglich" sei dieser "chorischer Theaterabend" keineswegs, befindet Bernhard Doppler auf Deutschlandradio Kultur (Fazit, 29.8.2010). "Zitate aus 'Wilhelm Meisters theatralischer Sendung', aber auch andere Goethezitate, Stellen aus dem Neuen Testament und von Karl Marx, geraten - skandiert vorgetragen - zu tiefernst gemeinten, bisweilen - auch akustisch - nicht ganz verständlichen Kalendersprüchen." Zum Beispiel priesen ein Sprecher plus Chor zu Beginn des Abends "in abgehackten Sätzen (...) den Beruf des Schauspielers, da der Schauspieler noch mehr als der Priester die Herzen seiner Zuhörer zu Edlerem zu bilden verstehe" - Sätze, die im Roman durch den Erzählkontext stets relativiert würden. Sentenzen über das Theater würden bei Rasche Aussagen zum "Prinzip der Ökonomie" gegenübergestellt. "Immer gleich sind die Bewegungen. Der Chor schreitet - in unterschiedlichen Formationen - in gleichförmigem Rhythmus über eine große schräge Fläche".

Rasche mache aus Goethes Roman ein "Oratorium in Bewegung, ein Prozessionstheater in Schwarz-Weiß", beschreibt es Ruth Fühner vom Radiosender hr2 Kultur (30.8.2010): Hoppe und Nimtz glichen weniger Figuren als "Aufsagern, denen nur ganz wenig an Persönlichkeit gegönnt wird", Hoppe etwa "die Anstrengung des Denkens über den eigenen Stand hinaus". "Identifikationsfiguren fürs Herz" seien es jedenfalls nicht und der ganze Abend eine "Verweigerung von jeglicher Spannung", auch der zwischen Individuum und Gesellschaft, Künstlertum und bürgerlicher Existenz. Das Ich könne der "Masse der sich selbst verwirklichenden Spießer überhaupt nicht entkommen, weil es ein Bürger ist wie sie". Sehnsucht, Schönheit und Utopie hätten dennoch ihren Ort, nämlich die Musik. Hören könne man dabei "gerade nicht Wilhelms Stimme der Natur", alles sei "hochkünstlich". Rasche betreibe eine "Dekonstruktion des 'Wilhelm Meister'". Das alles wirkt auf die Kritikerin "schon sehr theoretisch", wie "ein Stück Konzeptkunst", zumal "absolut humorfrei." Wäre nicht die Musik von Sir Henry gewesen, die dem Ganzen eine gewissen "Leuchtkraft und Wärme durch Reibung" gebe, wäre es "theatralisch nur ein pathetischer Schmus".

"Eine Geisterbeschwörung oder einen Exorzismus" hat Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (31.8.2010) erlebt. "Wenn dieses Theater Schule macht, muss bald niemand mehr in die Kirche gehen", hier würden "alle sakralen Bedürfnisse" befriedigt. "Monoton wie ein Uhrpendel, intensiv wie einen Choral" habe Rasche, "der Meister eines neuen puristischen Ritualismus", den Goethe-Roman inszeniert. In "immer neuen Wellen" schicke er die beiden Chöre über die Bühne, "ein Dauererguss der gesprochenen und gesungenen Repetition" - "ein Wunder, dass die Zuschauer nicht irgendwann anfangen, die Körper rhythmisch nach links und rechts mitzubewegen." Der "Erkenntnisgewinn dieser suggestiv-meditativen Theatermethode" gehe zwar "gegen Null, die Gottesnähe aber ist die größtmögliche." Bei Bettina Hoppe als Wilhelm Meister bekomme "jedes Wort eine wahnhafte Klarheit". Dagegen verkörpere Nimtz als Vater "die Verlockung des Geldes". Doch Rasche entscheide diesen "wahrhaft biblischen Streit" nicht, sondern stelle ihn nur "in schöner schwarz-weißer Klarheit" vor uns hin. Dabei huldige er "einer rein formalen Methode", einem "mit Intensität aufgepumpten Minimalismus, durch den die Form nachgerade sakrale Bedeutung gewinnt". Bisweilen seien die Akteure in dem "schwarz-weißen Uhrwerk sehr eingeklemmt, ein wenig Variation würde dem visuellen Tick-Tack nicht schaden". Aber vielleicht bräuchten wir auch gerade auch "diesen strengen Purismus (...) als Zeichen einer neuen Seriosität".

Statt kindlicher Marionetten-Begeisterung und Mariane-Liebe, so ein weniger geneigter Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen (31.8.2010), werden kurze Roman-Ausschnitte plus "Bibel-, Marx- und Adam-Smith-Zitate" gesprochen, während der Chor ein "Amalgam aus Bach und Hugo Wolf" singe und "wie ein steter Zeitlupen-Menschenwasserfall von oben nach unten" laufe. All dies stelle sich "geradezu penetrant in den Dienst der aus dem Roman gezogenen Passagen, die etwa in den Liedertexten bestätigt oder kontrastiert werden". Dabei mache die "schon nach zehn Minuten enervierend stockende Diktion der Sprecher und das bedeutungsheischende Zergliedern jeden Wortes in seine Silben (...) die Sache nicht besser, und die Wucht, die darin zweifelsohne liegen soll, läuft, je weiter der Abend fortschreitet, umso zuverlässiger ins Leere". Die weltanschaulichen Standpunkte seien rasch klar, viel vom dem, "was im Roman erheblich differenzierter angelegt ist", werde nivelliert. Dass manches in der "Beschränkung auf die Zitate ohne Kontext" "äußerst missverständlich wird, ist ärgerlich".

Die "kreative Bildsprache" von Rasches "ungemein visueller" Inszenierung mit ihrem "spielerischen und strengen, ja mathematischen Zugang" erinnert Marcus Hladek von der Frankfurter Neuen Presse (31.8.2010) hingegen an Robert Wilson. Das Lichtwechsel-Bühnenbild entfalte eine "immer hypnotischere Wirkung". "Ein einziges, immer wieder leicht modifiziertes Bild", das "an die Spielwerke auf Rathausuhren" erinnere. Schon die "Zahlenmagie aus zwei Solisten, 16 Sprechern und 32 Sängern im geometrisch-schwarz-weißen Raum" deute die "ungeheure Formstrenge" und den hier waltenden "Willen zur Allegorisierung" an - ein "geometrischer Ansatz", der von der musikalischen Komposition noch gesteigert würde. Diese schaffe eine "weihevoll-sakrale Atmosphäre". Goethes Roman werde hier nicht einfach nur benutzt; vielmehr werde das "kunstvolle Gewebe", das diesen ausmacht, in dieser Bühnenfassung "sehr anschaulich".

 

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