Wilhelm Meisters Lehrjahre - Friederike Heller blättert in Goethes Bildungsbürgerbibel
Wabbel-Wilhelm aus der Wundertüte
von Dirk Pilz
Dresden, 18. September 2009. "Äh, ja, äh, das Glück" sind seine letzten Worte. Das ist hinter dem schweren, samtig roten Vorhang, aus dem Dunkeln heraus. Sein Gesicht sehen wir nicht, aber wir können uns denken, mit welch' fröhlich verblüffter, von Überrumpelung und Überraschung gezeichneter Miene er schließlich in den Schoß des bürgerlichen Lebens geplumpst ist. Wilhelm Meister hat geheiratet, und er wird dies mit einem schaumigen Lächeln begrüßt haben. Die Hände stellen wir uns schlaff und schlampig in die Luft gehängt vor, die Augen sanft auf sein wackres Eheweib gerichtet.
Knapp drei Stunden lang ward er, Wilhelm, durch das Geschehen geschubst, lernte Schmerz und Freud', übte sich in Lieben und Verlassen, studierte mit durchaus eifrigem Bemüh'n die Künste, das Leben und die Artgenossen – das Streifenhemd unter den Hosenträgern dabei erst streng und atmungsinaktiv zugeknöpft, dann zusehends verknautscht, endlich auch aufgeknöpft – und blieb bei alledem doch immer ein seltsam wattiges Etwas.
Verrat am Wilhelm-Selbst
Dieser Wilhelm wabbelt durch die Welt. Weder führt er sein Leben, noch wird er geführt. Es gleitet ihm dahin wie das Badeentchen durch den Schaumberg. Er findet also auch nicht sein Glück, sondern schliddert hinein. Das Wilhelm-Leben ist wie ein Seifenprodukt: glitschig, aber nie zu greifen. Und Christian Friedel, der Wilhelm dieses Abends, spricht dabei wie seine Figur ist – er rutscht und schlingert durch die Sätze, als sei jedes akzentuierende Sprechen, alles Modulieren und Silbenpräzisieren ein übler Verrat am Wilhelm-Selbst.
Friederike Heller hat die Bibel des deutschen Bildungsbürgertums inszeniert, Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Und wollte man ihren Wilhelm stellvertretend für ihre Lehrabsicht nehmen, hat sie uns das Fürchten gelehrt: Dieser Wabbel-Wilhelm ist ein gedanken- und seelenarmes Würstchen, seinen eigenen Leidenschaften und den Grillen seiner Umwelt zum freudigen Fraß vorgeworfen. Und falls dies uns das Bild ihrer (und auch meiner) Generation darstellen soll, der 30- bis 40jährigen, gibt es kaum Anlass zur Hoffnung: Bei ihr biegt man in den bürgerlichen Hafen nicht gefühls- und gedankenbereichert, sondern aus Mangel an Eigensinn und Vorstellungsvermögen ein. Oh weh.
Vermanschendes Pop-Blubbern
Immerhin bietet uns ihr Abend freundlicherweise gleich den Sound zu diesem verdösten Dasein: das alle Sehnsüchte und Träume vermanschende Pop-Blubbern von Kante, einer Band, die jeden klaren Akkord verabscheut und das Glissando offenbar für das höchste Musikglück erachtet. Jeder Ton wird bei ihr hingeschmiert. Der Kante-Frontmann Peter Thiessen erweist sich als Fachmann für das Auflösen der Tonleiter in Gleitstoff, allen Vieren stehen die vom letzten Mittelalterspektakel ausgeliehenen Kapuzenglitzerhemden gut. Sie helfen kräftig mit, der Goethe-Vorlage ihre Musical- und Popcorn-Qualitäten zu beweisen.
Dem Wilhelm Meister dieses Abends gefällt das. Aber um Wilhelm Meister, Goethe und die Bildungsidee geht es hier wahrscheinlich gar nicht. Es geht um die Augenfutterqualitäten des Theaters. Denn Friederike Heller nutzt die Geschichte Wilhelms, um beherzt in die Wundertüte Theater zu greifen und allerlei Trickwerk hervorzuzaubern.
Sein Zug durch die innere und äußere Erfahrungswelt ist bei ihr ein flottes Blättern durch das Regiehandbuch. Marionetten- und Handpuppen treten auf, Gaukler, Fechter und Halskrausenträger sind zu bestaunen, Masken, Videos, die Drehbühne werden uns vorgeführt, das Wunderwesen Mignon schwebt am Seil herein und Sonja Beißwenger singt einmal sehr schön unterm Sternenhimmel.
Bühnenmittelchen spazieren führen
Auf der Bühne ist eine Bühne aufgebaut, vor dem Vorhang hat Rosa Enskat ihren großen Moment als bitterböse, vom Leben und der Liebe enttäuschte Aurelie, Olivia Grigolli darf in einer Opernnummer brillieren, am Ende ist das gesamte Ensemble zum Chor auf ein Podest gebaut, als wolle es sich für "Wetten, dass ..." bewerben.
Auch das schaut schick aus. Schick, aber leer. Dieser Abend will Theaterliebe wecken, will verführen und bezirzen, indem er munter allerlei Bühnenmittelchen spazieren führt. Doch nichts berührt, nichts geht an. Friederike Heller hat sich mehrfach als kluge Romanadaptionsregisseurin erwiesen, gern erinnern wir uns an ihre kühle Bühnenfassung von Houellebecqs "Elementarteilchen", vor neun Jahren im Dresdener Theater in der Fabrik. Auch diesmal hat sie ihr Handwerk ausgebreitet – nur wozu?
Im Kern ist die Inszenierung hohl. Es steckt dort nur ein Wabbel-Wilhelm und mit ihm ein Generationenporträt, das diesem Abend mehr aus Versehen geschieht, als dass er wollend und wissend ausgestellt sei. Das aber ist womöglich umso bezeichnender. Ohwehohweh.
Wilhelm Meisters Lehrjahre
von Johann Wolfgang Goethe
für die Bühne eingerichtet von Martin Heckmanns und Friederike Heller
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kolhstedt, Musik: Kante, Puppenbau: Lutz Großmann, Ulrike Langenbein, Dramaturgie: Martin Heckmanns, Robert Koall. Mit: Sonja Beißwenger, Thomas Braungardt, Thomas Eisen, Rosa Enskat, Christian Friedel, Albrecht Goette, Olivia Grigolli, Picco von Groote, Matthias Luckey, Peter Thiessen, Ines Marie Westernströer.
www.staatsschauspiel-dresden.de
Mehr lesen? Im Juli 2009 inszenierte Friederike Heller in Stuttgart Botho Strauß' Trilogie des Wiedersehens.
Kritikenrundschau
Als "fantasievolle, poetische Reise in die Welt des Theaters" habe Regisseurin Friederike Heller "Wilhelm Meisters Lehrjahre" am Staatsschauspiel Dresden inszeniert, meint Valeria Heintges in der Sächsischen Zeitung (21.9.) und freut sich insbesondere an "grandiosen Puppenspielern", "einfachen, aber bestechenden Einfällen" und an dem "großen, immer größer werdenden Bühnenbild von Sabine Kohlstedt, das Theater im Theater zeigt". Eine durchdachte Inszenierung sei das, "die mit starken Bildern, fantastischen Szenen beeindruckt und auch manchmal etwas rätselhaft erscheint. Und die mit einer beeindruckenden schauspielerischen Ensembleleistung besticht, die begründet hoffen lässt für Kommendes. Allen voran Christian Friedel, der den Wilhelm Meister in jedem Moment mit unglaublicher mimischer und körperlicher Präzision verkörpert. Meister ist erst kindlich übermütig, dann jugendlich starrsinnig, am Schluss väterlich stolz; immer ein wenig naiv, aber nie dumm."
Statt den weit verzweigten Stoff des "Wilhelm Meister" einer "hoch intellektuellen Analyse zu unterziehen, geht Heller scheinbar ganz naiv und spielerisch damit um", schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (21.9.). Mit "der rätselhaften Mystik des Geheimrats" habe Heller "nichts am Hut", sie setze "ganz heutig auf jugendlich-romantische Gefühle, ohne in einen multimedialen Rausch zu verfallen." Mit "viel Geschick um eine 'eilige Handlung' bemüht", habe sie "frappierende szenische Entsprechungen für verzweigte, vielschichtige Entwicklungen gefunden." Über weite Strecke führe "die Linearität des Hanlungsstrangs aber zu Verlust an dramatischer Spannung", und wenn Heller mit "Unarten heutiger Staatsbürokratie" aufwarte, habe das "zwar Witz, aber keinen rechten Biss. Das ist, bei aller Sympathie, die diese Inszenierung ausstrahlt (…) ein wenig schade."
Auf Welt Online (23.9.) karikiert der Dresdner Reinhard Wengierek das unerschütterliche Selbstvertrauen seiner residenzstädtischen Landsleute: "jeder hier weiß, was "scheen" und große Kunst ist. Notorische Selbstbezüglichkeit, die sich in süffisantem Konservatismus gefällt: "Nee, das basst nich zu uns!" Kein einfaches Pflaster also für den neuen Intendanten des Staatsschauspiels Wilfried Schulz, der für seine Eröffnung einen "starken Cocktail" aus Goethes "Wilhelm Meister, "Romeo und Julia" und der Bühnenadaption von Ingo Schulzes Roman "Adam & Evelyn" zusammen gerührt hatte. Und, was kam dabei heraus, fragt Wengierek: "Lauter anstrengende Großaktionen im Verkunsten; die Inhalte verflachend, die Figuren zermalmend, die Spannung ausleiernd." Schade drum, dabei hätten die jungen Regisseure anderswann und anderswo bereits gezeigt, dass sie es besser könnten. So verschnitt Friederike Heller Goethes Wilhelm Meister, dieses "fettes Futter für das vor Ort so gern sich spreizende Bildungsbürgertum", leider zum Musical-Zirkus derweil selbst das feine Spiel von Karin Plachetka und Benjamin Höppner in "Adam & Evelyne" nichts vermochte gegen die plakativ politischen Kabarett-Einlagen.
Es ist eine bis auf die Handlung eingedampfte Fassung des vielschichtigen Entwicklungsbuches, die den Bildungsgehalt nicht transportiert, das aber auch gar nicht will. Was diese Fassung dagegen will, ist richtiges Theater, ein Theaterroman ist der "Wilhelm Meister" ja auch, sie will den Moment und nicht die Entwicklung, lebendiges Bilderbuch nicht großer Bildungsroman", meint Peter Michalzik (Frankfurter Rundschau, 29.9.). Alles sei "frisch und vital, was da geschieht, mit Stegreiflust und Hanswurstcharme, eine Wandertruppenaufführung mit Bandbegleitung". "Goethes Gassenhauer, "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" oder "Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide" werden zu Hamburger-Schule-Schlagern, die Vokale werden schmerzhaft gedehnt: man weieieieint." Es bleibe aber "ein erheblicher Rest, der leider nicht nur Schweigen sein kann: Geht es am Ende um die Turmgesellschaft, ist es superkonventionelles Drehbühnentheater ohne szenische Phantasie, was da geboten wird". Bis dahin aber sehen wir, "gar nicht dumm, die große, neue Naivität. Das Theater versichert sich seiner eigensten, einfachsten Mittel, ohne Angst vor Simplizität oder Peinlichkeit".
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Lieber Dresdner,
Sie haben recht - die Inszenierung dauerte knapp drei Stunden, nicht vier. Ich habe es korrigiert.
Herzliche Grüße,
Dirk Pilz
Ich frage mich, warum die Kritiken von Herrn Pilz seit Beginn der Saison so klingen, als tunke er während des Schreibens genießerisch ein Butterhörnchen in eine Tasse heißer Schockolade.
Es ist nie ganz deutlich, ob er gerade vom Roman oder der Aufführung spricht. Die Goethe-Vorlage hat also Popcorn-Qualitäten, gut. Das Gleiche lässt sich von der Kritik sagen. Sie oszilliert zwischen Ernsthaftigkeit, dem Wunsch nach unterhaltender Diktion und lässigem Plaudern.
Wohl kein Mensch, auch nicht ein sogenannter Bildungsbürger oder ein fanatisierter Kulturapostel, hat diesen Roman bislang als Bibel behandelt. Es handelt sich weit eher um einen Entwicklungsroman, auch wenn er als Bildungsroman in die Geschichte eingegangen ist. Die Romankritik von Novalis, der das romantisch Überspannte vermisste und von einer "Wallfahrt zum Adelsdiplom" sprach, mag Herrn Pilz beeinflusst haben. Letztlich geht es darum, dass Wilhelm sich selbst ausbilden möchte, und dabei muss er zwangsläufig viele Irrwege gehen. Dabei wirkt er zeitweise als Getriebener - und das sollte man in einer Aufführung auch so darstellen.
Die Dresdner Inszenierung habe ich nicht gesehen. Aber Wilhelm wird am Ende geführt, und zwar von der Turmgesellschaft, die als Deus ex machina fungiert. Das bürgerliche Glück am Ende ist sicherlich etwas spießig, vielleicht auch für manchen hinter einer bürgerlichen Fassade steckenden Dauer-Bohemien, der den Abfall vom Theater bedauert.
war gestern auch noch in romeo und julia. na, beat, wenn das nun auch noch ein zeichen war, wohin das theater in dresden in den nächsten jahren geführt werden soll, dann ist das doch weder "unterschiedlich" noch "spannend"?! hoffentlich war das nicht das zeichen "wohin theater in einem haus gehen wird".
es ist einfach wohltuend, diese kritische Sicht auf das Stück so treffend formuliert zu finden. Bitte behalten Sie Ihren klaren Blick!
Das sind die Begriffe, die den Wilhelm Meister dieser Inszenierung abwerten sollen. Eine Figur wohlgemerkt, die sehnt, die sucht, lernt, irrend zwischen Bild und Abbild, sich seiner ungewiß.
Lassen wir uns auf ein Gedankenspiel ein:
Bilden wir jeweils das Gegenteil der obigen Begriffe.
...
Na?
Und das dann „wollend“ und „wissend“.
Sollte des Pilzchens Kern ein Herrenmenschlein sein?
Mit Pilz habe ich keine Probleme, nur hat er in schwächeren Stunden, in Augenblicken der Ermattung seiner geistigen Ressourcen, manchmal Probleme mit seiner Formulierungskunst. An kraftvolleren Tagen, in Zuständen der Frische erreichen seine Kritiken sogar eine sehr gute Qualität. Wie der Zufall es so wollte, geriet ich einmal während eines Publikumsandrangs in Pilz' Nähe und beinahe kam es dazu, dass sich unser Atem vermischte. Wie Sie sehen, bester bärfloh, lebe ich noch, und das nicht schlecht.
Im Übrigen möchte ich Pilz die Meinung nicht verbieten - aber das hat schon jemand weiter oben gesagt.
Zur Goethe-Vorlage. Der Satz lautet: "Sie [die Band Kante] helfen kräftig mit, der Goethe-Vorlage ihre Musical- und Popcorn-Qualitäten zu beweisen."
Bei der Goethe-Vorlage ist weder von der Regisseurin Heller die Rede, die ja den Text bearbeitet hat, noch vom Dramaturgengespann Heckmanns/Koall.
ansonsten: herzliches beileid: atemvermischung ist natürlich furchtbar.
magst du nich mal noten verteilen an die kritiker? ist bestimmt unterhaltsam. pilz geben wir heute eine fünf, er war ermattet.
Anscheinend hatte er bei der Wilhelm-Rezension nicht die beste Tagesform, womöglich schrieb er mit leerem Magen oder nach einer Aufwallung raubtierhafter Fresslüsternheit und hatte dabei ein wattiges, schaumiges und glitschiges Gefühl in der Abdomenregion.
Mittlerweile hat sich Pilz aus der kurzen Krise längst wieder herausgeschrieben. Und sein Atem hat mich auch nicht aufs Krankenlager geworfen. Warum sollte ich ihn schlecht bewerten? Sein Niveau ist, von Ausnahmen abgesehen, recht konstant, es geht nicht immer hoch und runter, sonst wäre er ein Fahrstuhl-Kritiker, der sich in der Rolle des Liftboys gefällt.
Was ist so schlimm an Unterhaltung, die hie und da eine kleine 'Weisheit' inne hat? Ich habe das Stück nicht nur einmal besucht und habe einiges erst auf den zweiten, dritten Blick erfasst. Sicher, da wird viel auf engen Raum gepresst, das Tempo ist teils rasant. Wer dann überfordert gar nicht richtig hinsieht-und hört, der kann wohl nur "Gewabbel" rekapitulieren.
Ich fand`s witzig, spannend und charmant.