1. Stapellauf. Neubeginn - Sewan Latchinian beginnt am Volkstheater Rostock mit drei Premieren im spartenübergreifenden Eröffnungsspektakel
Hier ist was los!
von Hartmut Krug
Rostock, 20. September 2014. Auf dem lange verwaisten, ungemütlichen Vorplatz des Rostocker Volkstheaters ist plötzlich was los. Ein Leuchtturm und große Eisbären aus Pappmaché empfangen den Besucher. Sewan Latchinian, neuer Intendant, versucht, sein Haus mit viel Phantasie und Aufwand in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken. Mit Mitteln, die schon an seiner vorherigen Spielstätte, der Neuen Bühne Senftenberg, erfolgreich waren.
Also steigt Latchinian aufs Dach und läutet mit sieben Glockenschlägen die Spielzeit und sein aufwendiges, spartenübergreifendes Spektakel "1. Stapellauf. Neubeginn" ein. Das von 16 Uhr bis eine halbe Stunde nach Mitternacht dauernde Spektakel umfasst drei Stücke und lange Pausen, in denen für die Zuschauer mehr als ein halbes Dutzend Bars und Restaurants bereitstehen. Und da Rostock am Meer liegt und das erste Stück auf dem Meer spielt, tragen sie Namen wie Offiziermesse oder Drunken Sailor Bar.
In Rettungswesten zu den Notausgängen
Draußen vor dem Haus beginnt es aber erst einmal mit der Ankunft der Passagiere der Titanic. Musik schmettert, aus Oldtimern steigen die reichen Passagiere, während die einfachen Passagiere mit ihren Koffern zwischen den Zuschauern hindurch zur Titanic, also dem Theater, strömen.
Alle, Schauspieler wie Musiker, tragen Totenmasken, ein makabrer, zugleich demonstrativer wie pittoresker Verfremdungseffekt. Wilhelm Dieter Sieberts Mitspieloper geht auf der Bühne weiter, mit Orchester, Tänzern, Sängern und Schauspielern, bis das Schiff sinkt und die Zuschauer, mit Schwimmwesten versorgt und an kleinen Panik-Spielszenen vorbei auf Treppen oder Rutschen ins Freie gelangen – zum schlimmen Finale mit Rettungsboot und Schiffsuntergang. Das Ganze: eine muntere, aber etwas langwierige Aufführung, die mit ihren äußerlichen Effekten durchaus punktet, aber das doch recht bieder und verstaubt wirkende Opernwerk nicht wirklich spannend und betreffend zu machen versteht.
"Ingrid Babendererde", der Romanerstling von Uwe Johnson in der geschickt komprimierenden Bühnenfassung von Holger Teschke, findet dann auf einer Guckkastenbühne statt. An ihr steht das Zitat "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut". Gekämpft wird mit Bannern, auf denen die Arbeit der Oberschulen von Mecklenburg Vorpommern als "bedeutender Beitrag im Kampf für Frieden und Einheit für Deutschland" beschworen wird. Wenn hier Oberschüler bei ihrem Unterricht über Politik diskutieren, geht es immer gleich um mehr. Um eine Sinnsuche nach dem eigenen Weg, mit und zwischen FDJ-Schein-Gewissheiten und den anderen Fragen und Antworten der Jungen Gemeinde.
Eine hochpolitische, enorm emotionale Angelegenheit
Latchinian hat ein Stationendrama mit scharf umrissenen Figuren inszeniert. Die drei Musiker von Wallahalla geben dem Geschehen eine schöne poetische Stimmung. Zu Beginn stehen die Schauspieler still nebeneinander: ein Bild, nicht unähnlich Barlachs Fries der Lauschenden. Dann zitieren sie Johnsons Beschreibung des Ortes, und schon geht es in einer Schulstunde heftig zur politischen Sache. Wenn Dieter, Schüler und zugleich FDJ-Vorsitzender, mit kurzer Hose unterm engen Pullunder, so verklemmt wie dogmatisch mit dem intelligenten wie arroganten Klaus Niebuhr streitet, dann ist das eine hochpolitische wie enorm emotionale Angelegenheit.
Immer geht es auch um die Beinahe-Abiturientin Ingrid Babendererde, der Inga Wolff eine wunderbar schwirrende unsichere Sicherheit gibt. Wie sie sich mit zaghaft tastenden Bewegungen dem anderen Geschlecht nähert, das hat eine zugleich realistisch genaue wie emotional poetische Kraft. Und ist immer wieder wunderbar leicht und komisch.
Starkes Bekenntnis zum Volkstheater
Ohnehin nimmt die gesamte Inszenierung ihre Kraft aus dem genauen, leichten Spiel der Schauspieler. Sie geben eindeutige Figuren, aber keine Klischees, sondern suchende Menschen, denen die Dogmatiker der Partei keine Chance lassen. Drangsaliert verlassen drei der Schüler schließlich die DDR. Das Publikum spendete der Aufführung seinen hellen Jubel.
Auch Kay Pollaks "Wie im Himmel" bekam zum Schluss durchaus verdienten starken Beifall. Die Geschichte vom berühmten Dirigenten, der nach einem Herzanfall aussteigt und in seinem Geburtsort den Kirchenchor zu neuer musikalischer Kraft führt, zugleich aber auch dessen Mitglieder dazu bringt, vor sich, ihrem Leben und den anderen ehrlich zu sein, findet in dieser Inszenierung in einem Bühnenbild statt, das das Konzertzimmer der Norddeutschen Philharmonie Rostock zeigt. Also gibt es nicht die "tümliche" Atmosphäre, wie sie viele Inszenierungen dieses Stückes prägt. Und so bleibt es kein Märchen, sondern wird wieder eine, trotz aller poetischen Ausmalung, realistische Geschichte von Menschen und ihren Ängsten und Sehnsüchten.
Der besondere Reiz dieser spartenübergreifenden Aufführung liegt aber darin, dass sich die Schauspieler aus "Ingrid Babendererde" bei "Wie im Himmel" in völlig anderen, von Typ und Aussage her fast konträren Rollen beweisen konnten. Weit nach Mitternacht wurde der nicht enden wollende Beifall zu einem starken Bekenntnis für ein Volkstheater Rostock, das durch die Sparpolitik von einigen Politikern von Stadt und Land gefährdet ist.
1. Stapellauf. Neubeginn
Spektakel am Volkstheater Rostock
Untergang der Titanic
Oper in zwei Akten von Wilhelm Dieter Siebert
Regie: Sewan Latchinian, Musikalische Leitung: Manfred Hermann Lehner, Ausstattung: Tobias Wartenberg, Choreografie: Katja Taranu, Dramaturgie: Michael Mund, Martin Stefke.
Mit: Sängern, Schauspielern, einer Vertikalseilartistin, der Tanzcompagnie des Volkstheaters, dem Theaterjugendclub u.a.
Ingrid Babendererde
von Uwe Johnson
Uraufführung der Bühnenfassung von Holger Teschke
Regie: Sewan Latchinian, Bühne und Kostüme: Stephan Fernau, Dramaturgie: Martin Stefke.
Mit: Inga Wolff, Till Demuth, Bernd Färber, Johannes Moss, Juschka Spitzer, Steffen Schreier, Undine Cornelius, Sandra-Uma Schmitz, Alexander Wulke, WALLAHALLA mit den Musikern Bernd Dölle, Uli Elsäßer, Hannes Schindler.
Wie im Himmel
von Kay Pollak
Musikalische Leitung: Manfred Hermann Lehner, Regie: Sewan Latchinian, Bühne: Konzertzimmer der Norddeutschen Philharmonie Rostock, Kostüme: Katharina Sichtling, Dramaturgie: Martin Stefke.
Mit: Ulrich K. Müller, Till Demuth, Alexander Wulke, Johannes Moss, Steffen Schreier, Bernd Färber, Ulf Perthel, Sithembile Menck, Juschka Spitzer, Sabrina Frank, Inga Wolff, Andrea Stache-Peters, Petra Gorr, Undine Cornelius, Cornelia Wöß, André Trautmann, Matthias Noack, Marina Fadina, Jaana Kauppinen-Widiger, Annegret Voigt, Opernchor des Volkstheaters Rostock, Singakademie Rostock, Norddeutsche Philharmonie Rostock.
Gesamtdauer des Abends: 8 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen
www.volkstheater-rostock.de
"Das war ein historischer Tag im Kulturleben Mecklenburg-Vorpommerns", schreibt Dietrich Pätzold in der Ostseezeitung (22.9.2014). Was sich bei der Premiere des Spektakels '1. Stapellauf' am Samstag achteinhalb Stunden und länger im und um das Große Haus herum abgespielt habe, habe die Erwartungen übertroffen. "Als das Publikum gegen 0.20 Uhr von den Sitzen hochsprang und applaudierte, während vorn auf der Bühne und auf den Rängen das komplette Ensemble sang, musizierte und freudestrahlend hinter einem Transparent 'Es lebe das Volkstheater' tanzte und hüpfte, da war man tatsächlich einbisschen gemeinsam im Himmel. In einem irdischen Himmel freilich, der – dies war die große und kraftvoll durchinszenierte Botschaft des Abends – errungen und erkämpt werden muss und kann." Auch die drei Inszenierung kriegen alles samt sehr gute Noten ausgestellt.
"Welch eine Energie in diesem Aufführungsmarathon alle Beteiligten elektrisierte, kann nur ermessen, wer dabei war. Wer nicht, hat etwas Großes verpasst," schreibt Michael Baumgartl in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten (22.9.2014). Die drei Premieren an einem Abend, von Sewan Latchinian unter Beteiligung aller Sparten inszeniert, hätten das Publikum vom Samstagnachmittag bis zum anbrechenden Sonntagmorgen unter Spannung gehalten, "die sich am Schluss in tosendem Jubel unter stehenden Ovationen löste". Latchinians Bühnenversion von Ingrid Babendererde lobt der Kritiker den klaren, schnörkellosen Stil, mit der Regisseur er die Konflikte entwickeln würde. Auf diesem Weg erreiche er erreicht damit "eine eindringliche, berührende Aufführung".
Frank Schlösser schreibt in Das ist Rostock.de (22.9.2014): "Das war ein guter Sonnabend für Rostock." Das "Theater habe sich auf den Weg gemacht, "endlich ein Volks- und Stadttheater des 21. Jahrhunderts zu werden". Die Mitmachoper "Der Untergang der Titanic" sei ein "Heidenspaß, ein wirkliches Spektakel ...Ein Volkstheaterstück". Mit "Ingrid Babendererde" sei das Stadttheaterstück hinzugekommen. eine "unterhaltsame, tiefgehende, ergreifende Betrachtung einer ideologischen Auseinandersetzung, die viele Zuschauer noch kennengelernt haben". Das neue Ensemble habe sich "sowohl mit seinem gemeinsamen kraftvollem Spiel als auch mit den bemerkenswerten Einzelleistungen der Stadt empfohlen". Mit "Babendererde" sei "nachvollziehbar" geworden, was "die neue und neu motivierte Crew des Volkstheaters zu leisten imstande ist, wenn ihr keine weiteren Knüppel zwischen die Beine geworfen werden". Draußen in der Pause: "Die Menschen diskutieren, erinnern sich gegenseitig an Musterungskomissionen, FDJ-Versammlungen und Parteiausschlüsse – und an Lagerfeuernächte samt Nacktbade-Aktionen am bewachten Ostseestrand. Jetzt fühlt es sich so an, als wäre ein neues Schiff vom Stapel gelaufen ...", als hätte das Theater sich gelöst aus "den wehmütigen Erinnerungen an die große Perten-Zeit". Mit "Wie im Himmel" werde all die "ehrliche Rührseligkeit" auf die Bühne geholt, die den Film so erfolgreich gemacht habe. "Zum dritten Mal an diesem Abend werden die Zuschauer stehend applaudieren. Halb eins werden sie sogar mitsingen..."
Die Schweriner Volkszeitung schreibt (22.9.2014): "Das Schiff Volkstheater Rostock ist zu Wasser gelassen und nimmt Kurs in die offene See". Der "1. Stapellauf" habe die Wellen hochschlagen lassen, "dass es nach allen Seiten nur so spritzte". "Welch eine Energie in diesem Aufführungsmarathon alle Beteiligten elektrisierte, kann nur ermessen, wer dabei war. Wer nicht, hat etwas Großes verpasst."
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Für mich war es ein wunderbarer Abend, und ich finde es gut, dass der OB diesen besuchte! Alles Gute für meine geliebte Hansestadt und ihr Theater!
Berlinerin, in Rostock geboren
Und Danke auch wegen der Demo. Ahoi.