Da kann man Fleisch ranpacken!

von Frank Schlößer

Rostock, 17. Oktober 2020. Puntila hat die These von Theodor Adorno geknackt. Wenn er zweiacht im Turm hat, dann lebt er das richtige Leben. Dann ist er leutselig, spontan, großzügig. Dann ist er sogar in der Lage, sein anderes, falsches Leben zu reflektieren: Es täte ihm so leid! Denn wenn er einen dieser Anfälle hätte, wenn er gelegentlich "sternhagelnüchtern" sei, dann würde er zum Tier, zu Sklavenhalter, zum Kapitalisten. Aber was soll er machen! Schließlich hat er 90 Kühe!

Puntila goes Pop

Der Kapitalismus hat sich als Neoliberalismus so gut getarnt, dass er hingenommen wird wie die Gravitation. Das macht ihn so unfassbar fluffig: Es ist unprofessionell geworden, von Klassenkampf oder Ausbeutung zu sprechen. Wer sein Leben im Griff hat, der weiß "wie es läuft" und findet seinen Platz: Hier die, die das Geld haben. Dort die, die es brauchen. Der Gesindemarkt wird schließlich überall abgehalten. Das hat Knecht Matti kapiert. Besser als sein Herr Puntila.

herr puntila 2 560 c dorit gaetjen uPretty in Pink: das Gesinde als Cheerleader. Vorne schleppt Chauffeur Matti ( Luis Quintana) seinen Herrn Puntila (Frank Buchwald)  © Dorit Gätjen

Die Regisseurin Elina Finkel und ihr Ausstatter Norbert Bellen haben entschieden: Dieser Puntila wird poppig. Bühne und Hintergrund sind in zurückhaltendes Silber getaucht, die leicht ansteigende Tanzfläche in dieser Disco ist die Projektionsfläche: Die Kostüme und Lidschatten der Girls-Group in knallpink, und dass sich da der eine oder andere Mann einschleicht, fällt nicht weiter ins Gewicht. Der Bühnenmusiker John R. Carlson liefert von der Nebenbühne die passenden Klänge mit Anleihen von Abba bis Gottlieb Wendehals. Über allem steht in pinkfarbenen Leuchtbuchstaben die simple Parole "Kapitalismus ist geil" – durchweg über alle zweieinhalb Stunden. Das hätte zwar nicht notgetan – aber so macht es der Pop nun mal: Er tut alles, damit auch das simpelste Gemüt kapiert, worum es geht.

Heiterkeit im Parkett

Nun ist Brechts "Puntila" erstmal ein gutes Stück, eine Komödie, die das oberste zuunterst kehrt, die Tempo hat, die nicht von Monologen oder Arien unterbrochen wird. Brecht hat lieber Pointen platziert, die ihren Witz aus dem Inhalt ziehen.
Da kann man Fleisch ranpacken! Da kann man außer dem schönen Brecht-Text auch die Körper einsetzen. Da kann man laut und schrill werden, saufen natürlich und prügeln und keifen und flüstern und schreien.

Dafür gibt Regisseurin Elina Finkel dem Ensemble reichlich Gelegenheit: Luis Quintana gibt den Chauffeur Matti als coolen, abgeklärten Bodyguard, der die Klassenkampf-Konstellation in jedem Augenblick durchschaut. Frank Buchwald überdreht seinen komödiantischen Puntila derart, dass er einem fast sympathisch wird.

herr puntila 1 560 c dorit gaetjen uKapitalismus ist geil aber nicht immer praktisch: Eva (Katharina Paul) in versace-hafter Robe auf dem Schoß von Papa Puntila © Dorit Gätjen

Katharina Paul liefert von der starken Frau bis zum Slapstick mehr als das, was Brecht seiner Eva zugedacht hat: Ausgerechnet ihr prächtiges Kleid, dass ihr die Stellung als unabhängige Herrschaftsfrau auf dem Gut ihres Vaters zuweist, hindert sie daran, selbständig ein paar Schritte zu gehen. Bernd Färber gibt den devoten, weil verschuldeten Attaché und erntet für seine souveräner Unterwürfigkeit Heiterkeit im Parkett. Hätten da die üblichen 600 statt der – coronabedingten – 100 Zuschauer im Saal gesessen, es hätte richtige Lacher geben können!

Schrill, unterhaltsam, Brecht pur!

Katrin Heller hielt als Köchin Lina den Puntila-Hof am Laufen. Dass Telefonistin, Kuhmädchen, Apothekerfräulein und etliche andere Nebenrollen zu einem Chor zusammengefasst wurden, war ebenfalls eine passende Entscheidung – so schafft die Inszenierung den Spagat zwischen der Oberflächlichkeit des Pop und der Eindringlichkeit des epischen Theaters. Dass man inzwischen auch mit einen Brecht-Text ein bisschen lockerer umgehen darf, hat der Inszenierung zusätzlich genützt. Es ist dennoch Brecht geblieben – von A bis Z.

Achtzig Jahre ist es her, dass Brecht mit seiner Kernfamilie im finnischen Exil bei der Schriftstellerin Hella Wuolijoki mit seiner Familie lebte. Dort schrieb er – aus einer Vorlage seiner Gastgeberin – diesen Puntila. Man möchte ihm heute noch auf die Schulter hauen und ihm sagen: "Haste doch das Beste draus gemacht aus deinem politischen Lockdown!"

So haben auch Elina Finkel und Norbert Bellen, das Ensemble, die Techniker, die Gewerke das Beste draus gemacht aus diesem Start in eine – wiederum ungewisse – Spielzeit. Das Volkstheater Rostock bietet einen schönen, schrillen, unterhaltsamen, nachwirkendem Theaterabend – der aus neoliberaler Sicht natürlich völlig unsinnig ist angesichts der Diskrepanz zwischen dem Aufwand und den kaum vorhandenen Einnahmen. Nicht alles unterliegt der neoliberalen Gravitation. Noch nicht.

 

Herr Puntila und sein Knecht Matti
von Bertolt Brecht
Regie: Elina Finkel, Bühne / Kostüme: Norbert Bellen, Musik: John R. Carlson, Dramaturgie: Henrik Kuhlmann, Choreografie: Katja Taranu
Mit: Frank Buchwald, Katharina Paul, Luis Quintana, Bernd Färber, Katrin Heller, Özgür Platte, Mario Lopatta, Steffen Schreier. Und von der HMT Rostock: Rosalba Thea Salomon, Tara Helena Weiss, Kea Krassau, Aljona Angelika Weigert, Annika Hauffe, Şafak Şengül (Şafak Şengül stand in der Tagesbesetzung nicht mit drin, sie saß im Publikum)
Premiere am 17. Oktober 2020


www.volkstheater-rostock.de

 

Kritikenrundschau

Langeweile kommt bei Matthias Schümann von der Ostsee-Zeitung (19.10.2020) bei diesem Abend nicht auf. Der Kritiker freut sich besonders am stoischen Witz von Luis Quintana als Matti. Auch Katharina Paul als Eva erhält das Prädikat großartig". Gut tut der Inszenierung aus seiner Sicht auch, dass diese Figur so ernst genommen wird.  Lobend werden auch die mitwirkenden Studierenden der Hochschule für Musik und Theater erwähnt. Manche Figur ist dem Kritiker aber auch zu abziehbildhaft geraten. 

Gunnar Decker schreibt im Neuen Deutschland (online 23.10.2020): Die "Puntila-Matti-Ausbeutungsorgie" in Rostock sei eine "nicht endende Party". Die Feiernden schienen "zwar irgendwie tot, zumindest scheintot", aber der Maschinerie sei das egal.  Die Regie von Elina Finkel forciere die Farce in der Tragikomödie. "Das scheint richtig, um dem drohenden Lehrstückcharakter eine eigene unberechenbar-groteske Dynamik des Spiels entgegenzusetzen." In Corona-Zeiten eine "geradezu opulente Inszenierung, klug choreographiert und keine Sekunde langweilig". Die aufschlussreiche Lesart dieses Brecht-Klassikers folge Byung-Chul Han Schrift "Kapitalismus und Todestrieb": "Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst ... Man problematisiert sich selbst statt die Gesellschaft."

 

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