Pelle der Eroberer - Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Die Gestrandeten
von Georg Kasch
Schwerin, 27. April 2019. Pelle geht. Völlig unspektakulär verschwindet er von der Bühne, auf der knapp drei Stunden lang das Elend regierte. Zurück bleibt sein Vater Lasse, der einsam auf einer der Holzrippen hockt, die die Bühne in einen großen Schiffsrumpf verwandeln. Ja, das Leben ist eine Reise. Aber Pelle hat hier gelernt, dass es auch auf Grund laufen kann. Und wenn man derart festsitzt, hilft nur, das Schiff zu verlassen und weiterzuziehen.
Armut im Schiffsrumpf
Bewegend erzählt Martin Andersen Nexø im ersten Teil seiner Bildungsroman- und Arbeiter-Tetralogie "Pelle der Eroberer" von diesem Feststecken auf dem Steinhof, auf dem Vater und Sohn 1877 als billige Arbeitskräfte landen. Die Armut treibt sie von Schweden auf die dänische Insel Bornholm, die Armut hält sie dort fest. Nexø schildert auf knapp 350 Seiten, wie sich Lasse und Pelle abrackern auf dem Hof und an ihren Illusionen, die alle zerplatzen. Auch, weil Lasse zwar ein zärtlicher, liebevoller Vater ist, aber auch ein Quatschkopp, der sich im Zweifelsfall vor der Obrigkeit oder der kräftigeren Jugend wegduckt.
Schwerins Schauspielchef Martin Nimz hat den Roman jetzt im E-Werk, der Nebenspielstätte des Mecklenburgischen Staatstheaters, auf die Bühne gebracht und sich dafür von Bernd Schneider einen aufgeschnittenen Schiffsrumpf auf die kleine Bühne zirkeln lassen. Der kann Verstecke bieten, Stall und Hof darstellen, mit seinem umlaufenden Reling-Steg auch Düne, Zaun, Mauer, Weg sein. Hinten erhebt sich das Oberdeck mit Fenster – das Haus der Hofbesitzer, der Kongstrups.
Erdige Typen
Hier entdeckt Pelle die Welt, die vielversprechende wie die schlechte. Wie sie sich weitet, macht Nimz dadurch deutlich, dass er zunächst nur einzelne Protagonisten auf Pelle treffen lässt. Erst spät, nach der Pause, stehen einmal alle 14 Figuren auf der Bühne, ein Abbild einer Gesellschaft, die geändert werden muss.
In ihrem Mittelpunkt: Hannah Ehrlichmann als Pelle. Ein ernster, stiller, fragender Junge, das Gesicht ein Spiegel seiner Seele. Wie wenig Ehrlichmann braucht, um Freude, Trauer, Enttäuschung zu zeichnen! Ein ernsthafter Blick hier, ein leichtes In-sich-Zusammensacken da, schon steht da ein Kind, das einen zutiefst berührt. Gerade im Zusammenspiel mit Frank Wiegards Lasse. Wiegard ist vom Typ her viel zu viril für den alten Vater. Bemerkenswert, wie man dennoch einen abgewirtschafteten Mann sieht, der sich in der aufkeimenden Liebe zur (vermeintlichen) Witwe Olsen (die herrlich erdige Antje Trautmann) verjüngt, um am Ende wie ein Greis zu wirken.
Der Roman, einst Teil des DDR-Kanons, passt gut zu Mecklenburg mit seinen wortkargen, bodenständigen, wind- und wettergegerbten Typen, die immer dann, wenn es um Gefühle oder komplexere Phänomene geht, nicht so recht rauswollen mit der Sprache. Nina Steinhilbers Spielfassung, die Nexøs Erzählerstimme komplett in wörtliche Rede auflöst, legt besonderes Gewicht auf die Gerechtigkeitsfrage, weil hier alle mitbekommen, was Einzelnen widerfährt. Alle schauen zu – und gleichzeitig weg.
Sexueller Missbrauch
Was besonders heftig wirkt bei den zwei Fällen sexuellen Missbrauchs, die Steinhilber und Nimz im Roman entdeckt haben (wobei Nexø zumindest an einer Stelle eher unspezifische Gewalt suggeriert): Dass der fiese Lehrling hier Pelle nicht nur körperlich demütigt, sondern vergewaltigt, macht Pelles Verzweiflung darüber, dass ihn sein Vater nicht verteidigt, noch bodenloser. Und als die Kongstrup-Nichte Sine vom Hofbesitzer vergewaltigt wird, illustriert Nimz, wo Kopfbilder stärker wären.
Nimz und Steinhilber nutzen den Mikrokosmos Schiff auch, um von der Wiederkehr des Gleichen zu erzählen, vom Leid, das sich vermehrt, von den Teufelskreisen, die sich so schwer durchbrechen lassen. Erik, der Knecht, der sich mit Pelle befreundet und hier zur dritten Hauptfigur gemacht wird, versucht es – und verliert im Moment seines Widerstands durch einen Unfall den Verstand.
Das schmerzt besonders, weil Flavius Hölzemann ein so lässiger wie energiestrahlender Rebell ist, der im zweiten Teil nur noch in die Luft starrt und von Links nach Rechts geschoben wird. Dabei hatten er und Pelle doch den Pakt, gemeinsam nach Amerika auszuwandern in zwei Jahren! Pelle, der als erster in der Familie Lesen lernt, schreibt mit Kreide die Buchstaben des mytischen Kontinents auf, versucht, Erik damit aufzuwecken. Vergebens.
Entgegen dieser kleinen, zärtlichen, zutiefst berührenden Momente, von denen Nimz etliche skizziert, pinselt er die Nebenfiguren (vor allem die mit Knacks) und die drastischen Momente ziemlich grob. In Kongstrups Fenster etwa regiert das Stummfilm-Pathos, Schreie gellen, Blut spritzt. Dass sich Frau Kongstrup für die Vergewaltigung der Nichte an ihrem Gatten rächt, hätte man auch so verstanden.
Und doch berührt einen dieser Abend, an dem irgendwann das Meer zu rauschen, ein Tier zu schreien, der Dung zu stinken beginnt – aus der Kraft des Spiels heraus. Er nimmt einen mit auf eine dunkel grundierte Reise, die nur endet, wenn man die Kraft findet, das Schiff zu verlassen.
Pelle der Eroberer
von Martin Andersen Nexø
Aus dem Dänischen von Mathilde Mann
Für die Bühne bearbeitet von Nina Steinhilber
Regie: Martin Nimz, Ausstattung: Bernd Schneider, Dramaturgie: Nina Steinhilber.
Mit: Frank Wiegard, Hannah Ehrlichmann, Katrin Heinrich, Sebastian Reck, Flavius Hölzemann, Antje Trautmann, Christoph Götz, Vincent Heppner, Isabel Will, Valentino Dalle Mura, Markus Paul, Theresia Crone / Lydia Lehmann.
Premiere am 27. April 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
Kritikenrundschau
Holger Kankel schreibt in der Schweriner Volkszeitung (29.4.2019): "Regisseur Martin Nimz und Nina Steinhilber als Dramaturgin und Dramatikerin schenken uns einen sinnlichen, atemlosen, bilder- und assoziationsreichen Theaterabend2, der bei der Premiere "zu Recht" gefeiert worden sei. Das "durchweg starke" Ensemble erzähle historisch und psychologisch "genau" in "kurzen, oft deftigen und gnadenlosen Szenen ganze Schicksale".
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