Blut wie Fluss - Schauspiel Bonn
Strudeln durchs Labyrinth
1. April 2023. Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss? Nicht bei Fritz Kater. Sein neues Stück quillt über von philosophischen Gedanken zu Gesellschaft, Geschichte und dem ganzen Rest. Struktur schaffen, das ist die große Aufgabe. Für die Regie wie jede*n von uns. Armin Petras inszeniert das neue Stück seines Alter Ego-Autors.
Von Gerhard Preußer
1. April 2023. Das Leben ist ein Labyrinth. Überall gibt es tote Gänge, in denen man nicht weiterkommt. Aber manchmal öffnet sich die Wand und ein Weg tut sich auf. Suchen muss man selbst. Den roten Faden findet man höchstens hinterher. Eine Gesellschaft wiederum ist kein Haus, nichts Festes. Eher ein Fluss mit Strudeln, ein Aggregat unterschiedlicher Strömungen, mit Ausweichbewegungen, aber dennoch einer unbewussten Richtung.
Labyrinth und Fluss sind die zentralen Metaphern in Fritz Katers neuem Stück. "Labyrinth" war der zunächst geplante Titel, "blut wie fluss" heißt nun die Endfassung, die im Schauspiel Bonn uraufgeführt wird. Leben, Gesellschaft, Geschichte – alles will Fritz Kater aufgreifen. Und das am Beispiel Bonn. Wer so viel zeigen will, braucht eine Struktur, oder mehrere. Das ganze Unternehmen des Regisseurs Armin Petras ist, dem konturlosen Gedankenüberschwang seines mit ihm identischen Autors Fritz Kater Strukturen zu verleihen, dem ausufernden Textschwall Form zu geben.
Strukturen für den Strudel
Struktur 1, Szenentitel: Jede Szene veranschaulicht eine der sieben Todsünden, in bunter Reihenfolge, mit Wiederholungen. Struktur 2, der private Plot: Vater-Tochter-Konflikt, Beziehungsdrama alter Mann-junge Frau, zwei Autounfälle, eine Herztransplantation, eine Art Leihmutterschaft – alle Zutaten, die man benötigt, um biografische Verwirrung zu stiften. Struktur 3: die Politik der Bonner Republik, Willy Brandt und die Guillaume-Affäre 1974.
Die Beziehungen der Szenen zu den klassischen Todsünden – Zorn, Trübsucht, Wollust, Hochmut, Habgier, Missgunst, Völlerei – sind nur lose. Der Plot entfaltet sich langsam in alle Richtungen: Milena, die Tochter des Bonner Wasserbauingenieurs Lennart, löst sich von ihrem Vater. Terodde, ein ehemaliger Literaturwissenschaftler, war mit Milena verbunden, liebt aber nun die moldawische Studentin Marta, die bei einem Autounfall ums Leben kommt. Yussuff, ein palästinensischer Biologiestudent, der als Kellner jobbt, überfährt sie aus Versehen. Lennart erhält gegen Barzahlung Martas Herz, die Transplantation bleibt aber erfolglos. Frösi, eine 79-jährige Sekretärin, will ein Kind und erhält es gegen Barzahlung von Martas Zwillingsschwester. So sind alle Unwahrscheinlichkeiten hübsch verknotet.
Wider die Vereinzelung
Und darüber legt sich noch die dritte Struktur: Willy Brandts Biografie wird durch einen Vortrag der zur Professorin avancierten Milena ausführlich referiert und gewürdigt. Die Szenen des Misstrauensantrags gegen Brandts Regierung 1972 und die Verhaftung des Kanzleramtsspions Günther Guillaume 1974 werden nachgespielt und mit O-Tönen beglaubigt, unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive des 15-jährigen Sohns, Pierre Guillaume. (Schließlich ist Regisseur Armin Petras genauso ein Sohn eines DDR-Kundschafters, des Wissenschaftsspions Ehrenfried Petras).
Damit die Fähigkeit des Publikums, Zusammenhänge herzustellen, nicht überfordert wird, stellt Petras eine Art Alter Ego auf die Bühne. Eine Regisseurin (Lena Geyer) sitzt mit Regiebuch am Rande im Sessel, greift dann aber zum Mikrofon und leitet die Szenen jeweils ein, erklärt Übergänge, liefert Informationen. So gelingt es tatsächlich, das Gewusel von zwanzig Figuren, die die sechs anderen Schauspieler:innen mit Elan verkörpern, überschaubar zu machen. Diese ganze labyrinthische, verflüssigte Vielfalt von Strukturen dient einer Idee, die Petras uns auch gleich mitliefert. Er will "der Vereinzelung etwas entgegensetzen, das Gemeinsame erzählen", erklärt die Regisseurin auf der Bühne. Und dazu braucht er diese "sprunghafte Multiperspektivität".
Geschichtsphilosophische Gedankenfetzen
Die teilweise realistischen Dialoge weiten sich oft zu essayistischen Exkursen: "Heutiger Modus des Denkens ist das Futur zwei, Zukunft als Katastrophe, Kunst als Schadensersatz." Dazu gibt es einen biologischen Vortrag über die Überlebenschancen verschiedener Tier- und Pflanzenarten nach dem Ende der Menschheit. Oder: "Was ist das bloß für ein Gebilde von Welt in dem wir leben, das niemand haben will" – "Sie besteht nur weil viele Menschen vor uns etwas gewollt haben und heute wieder viele Menschen etwas wollen, nur leider etwas völlig anderes." Solche geschichtsphilosophischen Gedankenfetzen erhascht man manchmal im vorüberrauschenden Textstrom.
Teilweise ist das nur Textaufsagen mit verteilten Rollen, aber die Inszenierung ist durchaus zur Selbstironie fähig. In einer Szene gibt die "Regisseurin" auf der leere Bühne Milena und Terodde Anweisungen, zu duschen, den Toaster zu bedienen, sich zu küssen. Daniel Stock und Annika Schilling sehen sich ratlos um, können die vorgesagten Texte nicht in körperliche Aktion umsetzen: eine missglückte Probe mit einer übereifrigen Regisseurin.
So rettet sich die Inszenierung von der Überforderung in die ironische Selbstdarstellung der künstlichen Authentizität. Und zum Schluss, nach allen Willy-Brandt-Hymnen, schärft uns der Bonner Kanzler mit originaler, vom Whisky aufgerauter Stimme noch einmal ein: "Ein Volk braucht eine innere Ordnung. Wir werden nur so viel innere Ordnung haben, wie wir Mitverantwortung ermutigen. Wir wollen mehr Demokratie wagen."
An gedanklichem Reichtum, an ästhetischer Reflektiertheit mangelt es diesem Abend nicht. Er ist ein Manifest gegen das ganze "Lebensverweigerungsersatzkonstruktionsgedöns" und für das Leben im Labyrinth. Nicht Anämie, Blutarmut, sondern Plethora, Blutandrang, wäre hier die Diagnose.
blut wie fluss
von Fritz Kater
Regie: Armin Petras, Musik: Jörg Kleemann, Bühne: Tom Musch, Kostüme: Katja Strohschneider, Licht: Thomas Tarnogorski, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Christian Czeremnych, Wilhelm Eilers, Lena Geyer, Ursula Grossenbacher, Annika Schilling, Daniel Stock, Sandrine Zenner.
Premiere am 31. März 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.theater-bonn.de
Kritikenrundschau
"Überforderungstheater" sei diese Inszenierung, findet Kritiker Dietmar Kanthak im Bonner Generalanzeiger (3.4.2023). Alle Darsteller haben laut dem Rezensenten immer wieder "kurze, anspruchsvolle Augenblicke". "Aber wie so häufig dürfen sie nur wenig von dem abrufen, was sie können. Oft sagen sie wie bei einer Lesung aus einem Buch auf, was sie eigentlich zeigen müssten: Berichterstatter-Fron statt Schauspieler-Kunst." Immerhin verabreiche der Abend chorisches Sprechen und Projektionen in "barmherzig kalkulierter Dosis". Es bleibe nicht viel hängen von den großen Fragen der Zeit, nicht einmal von den sieben Todsünden, schließt der Kritiker seinen Text.
Armin Petras habe die Uraufführung des neuen Stückes aus der Feder seines Alter Egos Fritz Kater ohne viel Effektbrimborium inszeniert, schreibt Andreas Pecht in der Rhein-Zeitung (4.4.2023). Der Abend bleibe beim "intensiven, beobachtenden Blick auf das Labyrinth des Lebens und sein Vorwärtskommen auf oft fragwürdigen Wegen zu fragwürdigen Ufern". Das ist für den Kritiker "gut gemachtes, rundum sauber gespieltes, bisweilen vielleicht etwas überkomplexes Nachdenktheater".
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