Das goldene Zeitalter - Kay Voges sucht am Schauspiel Dortmund nach Auswegen aus den Endlosschleifen des Lebens
Lebensloop auf Zuruf
von Sascha Westphal
Dortmund, 13. September 2013. Ganz zum Ende, der eiserne Vorhang ist schon heruntergefahren, ziehen noch einmal die Bilder des Abends an den Augen des Publikums vorüber. Immer vier Stück gleichzeitig werden per Split-Screen-Technik auf den Eisernen projiziert. Ein vorerst letztes Wiedersehen mit Adam und Eva, mit Friedrich Nietzsche und Irina, der Jüngsten von Tschechows "Drei Schwestern", mit einem Bär namens Erklär-Peer und einer singenden Raupe, mit Sisyphos und dem Duracell-Hasen, mit dem Deutschen Michel und den Kaufhaus-Zombies. Ein letztes Mal ergießt sich ein Strom von Eindrücken von der Bühne in den Saal, ein letztes Mal Exzess und Monotonie. Albernes und Tiefschürfendes, Trauriges und Absurdes, prallen wie schon zuvor aufeinander und stürzen auf den Zuschauer ein. Alles, was er in den vergangenen drei Stunden gesehen und gefühlt, durchlitten und gedacht hat, ist erneut da, geronnen zu Standbildern, die sofort andere Bilder und Filme im Kopf nach sich ziehen. Und schon ist die Falle wieder zugeschnappt. Die nächste Runde kann beginnen. "Fortsetzung folgt" steht dann zuallerletzt auf dem eisernen Vorhang.
Fließband des Lebens
Doch nun erst einmal zurück zum Anfang, den es gar nicht gibt. Als sich die Türen zum Saal öffnen, hat das Spiel schon begonnen. Sechs Menschen, drei Frauen und drei Männer, legen immer wieder den gleichen Weg zurück. Rechts oben, auf der höchsten Ebene von Pia Maria Mackerts über zwei Etagen und ein Zwischengeschoss gehendem Bühnenbild, öffnet sich eine Fahrstuhltür. Eine Schauspielerin tritt heraus, wendet sich nach links und geht die Treppe hinunter. Auf der Zwischenebene angekommen wendet sie sich nach rechts, geht die nächste Treppe runter und schreitet dann zu einer Fahrstuhltür.
Wieder und wieder die gleichen Bewegungen, steif, mechanisch, ausladend und ungelenk. Jeder Schritt wird von einem lauten Klacken begleitet, der Ton der Monotonie, der Soundtrack eines Lebens vom Fließband. Und natürlich tragen sie alle – wie sollte es auch anders sein – das gleiche Kostüm, eine lange platinblonde Perücke, einen blauen Minirock und einen passenden kurzen Blazer wie die stilisierten Schulmädchen und Superheldinnen in japanischen Animes. Kopien von Kopien.
Inszenierung auf Zwischenruf
Irgendwann setzen sich der Regisseur Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin in den Zuschauerraum, wie bei einer Probe, und das Licht im Saal verlöscht. Von diesem Moment an wird der Abend zur Live-Inszenierung. Kay Voges ruft seine Anweisungen dem Ensemble auf der Bühne zu, gibt Stichworte und stößt Szenen an. Es kommen gegenläufige Bewegungen in die sich wiederholenden Abläufe. Die Schauspielerinnen und Schauspieler lösen sich aus der anfänglichen Endlosschleife, schlüpfen in Rollen und Kostüme, in denen sie zum Teil gar nicht mehr zu erkennen sind.
Uwe Schmieder rezitiert Passagen aus der Genesis, sich endlos fortsetzende Genealogien. Der Baum der Erkenntnis senkt sich vom Bühnenhimmel herab. Eva Verena Müller und Caroline Hanke kommen in stark gepolsterten und auf niedliche Weise faltigen Ganzkörper-Suits als Adam und Eva auf die Bühne. Sie sagt, er soll etwas essen, er will nicht. Selbst den Apfel verschmäht er. Irgendwann erscheint dann Merle Wasmuth auf der Bühne. Auch sie in einem Ganzkörperkostüm, nur sieht ihres aus wie eines der Präparate aus Gunther von Hagens "Körperwelten"-Wanderausstellung. Wieder und wieder rollt sie einen Stein über die Bühne, die Treppe hinauf.
Live-Loops in Bild und Ton
All diese Szenen, die als Fluchten aus dem Loop des Alltags beginnen, gebären wieder ihre eigenen Endlosschleifen. Es gibt einfach kein Entkommen. Dafür sorgen auch der Videokünstler Daniel Hengst und der Musiker Tommy Finke. Acht Kameras zeichnen das Treiben auf und hinter der Bühne auf. Daniel Hengst bearbeitet und schneidet das Material live und projiziert es auf eine Leinwand im Hintergrund der Bühne. Mittels Split-Screen verdoppelt, vervierfacht, verachtfacht sich das Geschehen. Was gerade noch live zu sehen war, flackert wenig später als Videobild über die Leinwand. Währenddessen spielt Tommy Finke elektronische Kompositionen und Ausschnitte aus berühmten klassischen Werken ein, nimmt einzelne Sätze der Schauspieler auf und loopt sie, so können sie jederzeit wieder erklingen. Tonspur legt sich auf Tonspur, Bild auf Bild.
Alles ist Teil der Wiederkehr des Immergleichen. Und nicht erst im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit eines jeden Augenblickes wiederholt sich selbst noch die Wiederholung. Das war im Theater, dieser Kunst der Suche nach dem Anderen im Gleichen, eigentlich schon immer so. Damit spielt Kay Voges, im Lauf des Abends und auch von Vorstellung zu Vorstellung. Bei jeder Aufführung wird seine Live-Regie andere Situationen und Szenen hervorbringen. Alles ist variabel, das Geschehen wie auch seine Länge. Und dennoch wird wohl immer dieses vielfältige und einzigartige Gemisch der Eindrücke bleiben, in dem Ermüdung und Exaltation, Verstörung und Verzauberung eins werden. Fortsetzung folgt...
Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen (UA)
von Alexander Kerlin und Kay Voges
Regie: Kay Voges, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Musik: Tommy Finke, Video-Artist: Daniel Hengst, Licht: Sibylle Stuck, Dramaturgie: Alexander Kerlin.
Mit: Björn Gabriel, Caroline Hanke, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder, Merle Wasmuth.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause
www.theaterdo.de
Noch mehr Live-Technik kam beim Projekt Der Live-Code von Videokünstler Daniel Hengst ebenfalls am Theater Dortmund zum Einsatz.
Aus der Erkenntnis, dass das ganze Leben hauptsächlich aus Wiederholung besteht und der Mensch sich in Endlosschleifen befindet, haben die "waghalsigen Theatermacher" Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin einen "variablen Theaterabend" geformt, der zwar immer wieder anders sein kann, der die Spielzeit aber ganz eindeutig fulminant eröffnet hat, schreibt Arnold Hohmann auf derwesten.de (15.9.2013). Der "mal verrückte, mal tiefsinnige Abend" voll bunter Kostüme setze ganz auf den Live-Effekt: "Musiker Tommy Finke wird seine Kompositionen an jedem Abend neu ausrichten, Daniel Hengst seine hintergründigen Videos stets „on location“ erschaffen. Und zwischen den Zuschauern wird immer Kay Voges sitzen, um seine Regieanweisungen dem jeweils abgerufenen Material anzupassen." Mit schönen Quallen, gefräßigen Raupen,Supermarkt-Zombies, Adam und Eva sowie vielen anderen Gestalten vermische "Das goldene Zeitalter" Entertainment und Erkenntnis "auf eine sehr verrückte Weise".
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