Bombenstimmung

21. Juni 2023. Warum ist ein rechtsextremer Bombenanschlag, bei dem 2000 zehn Menschen verletzt wurden und ein ungeborenes Baby starb, heute so vergessen? Und warum wurde der Täter nie verurteilt? Beim Düsseldorfer Asphalt-Festival geht das Theaterkollektiv Pierre.Vers diesen Fragen nach – und kommt zu verstörenden Antworten.

Von Dorothea Marcus

"Dunkeldorf" beim Asphalt Festival Düsseldorf: Im Bild die Journalistin (Julia Dillmann) © Nana Franck

21. Juni 2023. Was es im schicken Düsseldorf für heruntergekommene S-Bahnunterführungen gibt, mitten in teurer Innenstadt-Lage. Rechte Sticker mit der Aufschrift "FCK Antifa" verkleben die Bahnhofsuhr, ansonsten beherrscht vermüllter, vertaggter Schmuddelbeton das Bild. Am 27. Juli 2000 explodierte in dieser Unterführung eine mit TNT gefüllte Bombe und verletzte zehn Menschen, die gerade aus einer Sprachschule kamen. Eine Frau verlor ihr ungeborenes Baby. Die Opfer waren Aussiedler, aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan, sechs von ihnen Juden. Doch obwohl der Name des rechtsextremen Ralph S. bald kursierte, der das Viertel seit langem als sogenannter "Sheriff von Flingern" in Tarnkleidung tyrannisierte und einen Militaria-Handel betrieb, sollte es 18 Jahre dauern, bis er festgenommen wurde. Trotz vieler Indizien und Zeugenaussagen wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen, was im Jahr 2021 nochmals bestätigt wurde. "Bombenstimmung in Düsseldorf", texteten rechte Netzwerke nach dem Anschlag.

Auf der Straße

Wie kann es sein, dass diese krasse, mutmaßlich faschistische Tat dennoch heute fast vergessen ist? Sich weder in die bundesdeutsche noch in die kommunale Erinnerung eingeschrieben hat? Diese Fragen zu beantworten, hat sich das Düsseldorfer Kollektiv Pierre.Vers vorgenommen, deren Spezialität seit 2012 historische Spurensuchen im Theater sind, etwa mit Aktion: Aktion! 2021. Auf sieben Bildschirmen wird das triste Elend des S-Bahnhofs eingespielt, abwechselnd mit sterilen, betonierten Düsseldorfer Stadtlandschaften. Aufgehängt sind sie im "Ost34", einem ehemaligen Elektrofachhandel und nun für zwei Jahre lang eine der Spielstätten des Düsseldorfer Asphalt-Festivals. Durch die riesigen Schaufensterscheiben ist die Straße davor quasi zu einem Teil des Bühnenbilds geworden, und wenn die Live-Kamera die sechs Schauspieler davor in Großaufnahme filmt, weiß man kaum, ob sie sich draußen oder drinnen befinden, ob es sich um Live- oder Archivmaterial handelt.

Dunkeldorf 01 805 Ralf Puder uHinten die Straße, vorne die Menschen © Ralf Puder

Raffiniert sind verschiedene Wirklichkeitsebenen an diesem Abend zusammengebaut. Mit Neonröhren sind fünf Spielflächen abgeteilt wie Zeitschichten, jeder der Darsteller besetzt zunächst einen Raum. Später durchschreiten sie die ganze Fläche, bespielen tatsächlich die Straße, kommen hinter Säulen hervor oder aus der Ecke mit den Zeitungsschlagzeilen von damals. Die Hauptfiguren sind: eine reflektierende Sozialarbeiterin jüdischen Glaubens (Azizè Flittner), eine engagierte Journalistin, die dem Fall jahrelang hinterherrecherchierte (Julia Dillmann), ein linker, wütender Aktivist und "Passant der ersten Stunde" (Daniel Fries), der mit dem Fall betraute Kommissar (Alexander Steindorf).

"Wie blöd der Schlingensief ist"

Der Stücktext, geschrieben von Juliane Hendes, ist eine Collage aus von Pierre.Vers geführten Interviews, Zeitungsberichten, Talkshow-Reenactements. Mit unschuldig aufgerissenen Augen und dumpf-biederer Rechtschaffenheit rechtfertigt sich da der Polizist, dass der Regen alle Spuren sofort verwischte: "Wir konnten uns die Beweise ja nicht ausdenken". War es nicht doch die Russen-Mafia? Zerknirscht berichtet die Journalistin, wie sich die Zeitungen mit wollüstiger Detailfreude ("Warf geprellter Liebhaber die Bombe? – Baby starb im Mutterleib") auf den Fall stürzten, um ihn sofort wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen.

In größere Zusammenhänge mit deutschem Rassismus und wachsendem Rechtsextremismus – und dessen Verharmlosung – stellen es dann die Sozialarbeiterin und der Aktivist. Anfang der 2000er-Jahre, erinnern sie, war eben auch die Zeit, in der der NSU wütete, während Christoph Schlingensief Neonazis im Zürcher Schauspielhaus eine Bühne bot. Einer von ihnen war Torsten Lemmer, der heute noch im Düsseldorfer Rathaus sitzt und den Theaterauftritt laut Selbstaussage zur Image-Politur benutzte: "Wir machen uns breit vor ihrer Nase – wie blöd der Schlingensief ist". Eingeladen zum Theatertreffen, führten die Grünen selbst Schlingensiefs Neonazis damals durch den Bundestag.

Die rechten Szenen finden effizient zusammen

Noch erschreckender als solche theaterhistorischen Blüten sind allerdings die Scheuklappen der Ermittler auch im Fall Wehrhahn, die nicht befragten Zeugen, die außer Acht gelassenen Beobachtungen. Die Jahre vergehen, der Kommissar wird versetzt, die Akte geschlossen. Nur durch Zufall melden sich Zeugen aus dem Knast, Ralph S. wird festgenommen, sorgsam stellen die Schauspieler Klappstühle auf die große Spielfläche für die Gerichtsverhandlung – doch 18 Jahre später gibt es kaum noch Publikum für den Fall, einzig der Dortmunder Neonazi-Kader ist angereist.

Dunkeldorf 03 805 Ralf Puder uRechte Netzwerke von schmierig-glatter Effizienz: Schauspieler Jonathan Schimmer als Rechtsanwalt © Ralf Puder

Und nun hat der Reichsbürger-Anwalt von Ralph S. seinen großen Auftritt, dessen Originalplädoyer Jonathan Schimmer mit gruseliger, schmieriger Glätte und Wortgewalt großartig spricht. Natürlich inszeniert er sich als Opfer einer linken Hetzjagd – sein unterschwelliger Antisemitismus bleibt vor Gericht unwidersprochen. Vor Selbstbewusstsein strotzend schreitet er aus dem Saal, an keinem Moment des Abends spürt man so bedrohlich, wie effizient sich rechte Szenen zusammenfinden.

Zum Glück hat die Sozialarbeiterin das letzte Wort, sie wird zur Stellvertreterin der Opfer, die mit dem Ensemble nicht zu dem Thema sprechen wollten: "Sie schützen sich selbst, weil es sonst keiner tut – darum ist es so ruhig." Der Abend bestürzt und bereichert. Erneut beweist er eine gewichtige Dimension und das gewaltige Potential von Theater: Geschichte hautnah heranzuholen, Erinnerungen mit Lebendigkeit zu versehen, deren Halbwertszeit offenbar immer rascher verfällt.

Dunkeldorf. Ein Stadtspiel.
Regie und Konzept: Christof Seeger Zurmühlen, Raum und Kostüm: Simone Grieshaber, Text und Dramaturgie: Juliane Hendes, Komposition: Bojan Vuletic.
Mit: Julia Dillmann, Azizè Flittner, Daniel Fries, Jonathan Schimmer, Alexander Steindorf, Julia Franken, Barbara Schröer.
Premiere am 20. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.asphalt-festival.de


Kritikenrundschau

"Bemerkenswert" findet Sema Kouschkerian die Produktion und schreibt in der Rheinischen Post (22.6.2023): "Dokumentation und Deutung werden bei "Dunkeldorf" kunstvoll im Gleichgewicht gehalten." Das ist eine Stärke des Theaterkollektivs Pierre Vers, die auch schon in anderen Produktionen sichtbar geworden sei. "Mit einem hohen Rechercheaufwand und unzähligen Interviews haben sich die Künstler den wahren Begebenheiten genähert und sie geprüft. Die Texte (…) konzentrieren klug die vielen Details, bewahren die Komplexität der Ereignisse und die Belange der Menschen, die in sie hineingeraten sind oder von ihnen überwältigt wurden."

Die Inszenierung belege anschaulich "eine auch heute noch diffuse Haltung zum Attentat und folgenden Prozessen", schreibt Michael-Georg Müller in der Neuen Ruhr/Rhein Zeitung (22.6.2023). Der Zuschauer bleibe zurück "mit einem schalen Gefühl und der Frage: War der Freispruch ein Fehlurteil? Waren die Richter auf dem rechten Auge blind?"

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