König Ubu - Theater der Keller Köln
Stuhlgang auf dem Eimer
27. Mai 2023. Bei seiner Uraufführung 1896 war Alfred Jarrys "Ubu" der Prototyp des modernen Theaters. Er nahm vorweg, was später Standard wurde: die radikale Zersetzung der Dramenform. Was also heute tun mit der Satire auf die brutalen, gefräßigen Bourgeois? Charlotte Sprenger sucht konsequent nach dem Bösen – buchstäbliche Kunstkacke inklusive.
Von Gerhard Preußer
27. Mai 2023. "Merdre", das kunstvoll verfremdete, banale französische Fäkalfluchwort "merde" (zu deutsch Schreiße oder Schoiße) – hier wird es ganz unverblümte, hundsgewöhnliche "Scheiße". Keine Kunstkacke? Was in Alfred Jarrys "König Ubu" das erste Wort ist, hier wird es Aktion. Charlotte Sprengers Inszenierung des Paradestücks des Theaters des Absurden beginnt mit einem Stuhlgang auf dem Eimer. Echt? Nein, nichts ist hier echt, der realitätsgetreue Ekelstoff ist wohlschmeckende Schokolade.
Prototyp des modernen Theaters
Jarrys "Ubu" war 1896 der Prototyp des modernen Theaters: Entindividualisierung der Figuren, Illusionszerstörung, Verzicht auf jegliche Realitätsimitation, Trennung von Wort und Aktion – alles, was später Standard wird, nahm er vorweg. Charlotte Sprengers Inszenierung am kleinen Kölner "Theater der Keller" ist Theater nach Jarry, so wie man seitdem, nach Jarry, Theater macht. Aber da ist eigentlich nichts von Jarry. Von Père Ubus Staatsstreich, der Ermordung des Königs von Polen, von Ubus Feldzug gegen Russland und seiner Flucht nach Frankreich – der Handlung von Jarrys Satire auf die bösen, feigen, brutalen, gefräßigen Bourgeois – erfährt man nichts. Stattdessen erklärt uns der Darsteller des Ubu in der Heidelberger Ubu-Inszenierung Viktor Bodós aus dem Jahr 2013 im Ton aus dem Off, das Stück sei einfach und ohne intellektuellen Anspruch. Charlotte Sprengers Inszenierung bemüht sich dann, das zu widerlegen.
Die Kunstkacke ist nicht echt, aber die Schauspieler:innen schon. Daniel Breitfelder zieht sich aus und bleibt weiterhin nackt. Alles echt und nichts verborgen. Ubu, so wie ihn Jarry damals auf die Bühne gestellt hat, als Kugelmensch mit spitzer Kopfmaske und einer Spirale auf dem Schmerbauch, sehen wir nur in der Videoprojektion, auf einem Papphaus, einer Art Ubu-Mausoleum mit Durchgang in der Mitte. Anfangs sieht man darauf Videoaufnahmen des Bombardements einer Stadt oder einer Industrieanlage. Das ist der Zustand der Welt heute.
Was davor auf der Bühne passiert, ist kaum der Rede wert. Daniel Breitfelder als Ersatz-Ubu wird gebadet, herumgeschleift, abgetrocknet. Ihm werden Schwerter aus dem Arsch gezogen, er setzt sich eine Krone auf, tanzt dilettantisch usw. Für Gelächter sorgt immerhin die Szene, in der Brit Purwin ihm ein kleines Megaphon vor das Geschlecht hält und es bei eingeschaltetem Dauerheulton als Masturbationsinstrument hin und her bewegt.
Urtyp des Bösen in der Welt
In solche schwach semantisierten, bedeutungsarmen, eigentlich empörend blödsinnigen Aktionen eingestreut sind aber diverse Texte und Videoprojektionen, meist als Off-Ton mit verfremdeter Stimme eingespielt. Und da geht es ums Ganze. Nach einer ekstatisch gebrüllten Litanei aller deutschen Wurstsorten folgt eine Rede des Filmregisseurs David Lynch über die Allgegenwart von Gewalt in der Welt. Das wird kontrastiert mit Christian Lindners scheinheiliger Belehrung, die Aktionen der Klimakleber seien "physische Gewalt", gefolgt von einer Rezitation des Wikipedia-Artikels über den Menschen, der mit der Möglichkeit des Untergangs der Menschheit endet. Denn dafür muss der fiese Tyrann Ubu heute herhalten: für den Urtyp des Bösen in der Welt.
Den akustischen und inhaltlichen Höhepunkt erreicht die Inszenierung mit einem Text von Wolfram Lotz aus seinem Drehbuch für den Film "Das Massaker von Anröchte": "Wo kommt dieses Böse her? In einer Schöpfung, die uns nicht mehr birgt in ihren Armen, in einer Schöpfung, in der der Mensch verloren ist, ist der Mensch sich kein Helfer, sondern ein Wolf." Die pessimistische Wucht dieses Lamentos wird gleich ironisiert durch Musikgewummere und Bilder von riesigen Pinguinpopulationen auf der Projektionsfläche. Zum Schluss stehen alle drei Schauspieler:innen nackt, mit dem Rücken zum Publikum, erheben die Hände zum Licht eines Scheinwerfers und flehen: "Gibt es keine Hoffnung? Ist dieses Herz, das wir in uns tragen, nur ein blutiges Stück Fleisch?"
Düstere "Ubu"-Variationen
Die Klage über die allumgreifende Ratlosigkeit und die Empörung über den Zustand der Welt stehen neben komischen kleinen Aktionen, die kein Gegengewicht gegen solche Gedankenschwere bieten können. Dieser "König-Ubu"-Abend ist kein lustiger Kabarettspaß und keine üppige Theatersause, eher eine Folge düsterer Variationen über das Ubu-Thema. Zu den in der Inszenierung zitierten Texten gehört auch Antonin Artauds Rede zur Eröffnung seines Alfred-Jarry-Theaters 1926: die Zuschauer sollen in das Theater kommen wie zum Zahnarzt oder Chirurgen, im Wissen, dass sie zwar überleben werden, aber nicht unversehrt. Diese Inszenierung werden alle Zuschauer überleben, aber es wird auch niemand verletzt oder geheilt werden.
König Ubu oder Wir sind im Arsch
nach Alfred Jarry
Regie: Charlotte Sprenger, Dramaturgie & Mitarbeit Soundeffekte: Ulrike Janssen, Bühne & Kostüm: Max Schwidlinski, Video: Daniel Breitfelder, Charlotte Sprenger.
Mit: Daniel Breitfelder, Frank Casal, Brit Purwin.
Premiere am 26. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theater-der-keller.de
Kritikenrundschau
"Bis zur Unkenntlichkeit überschrieben", habe Charlotte Sprenger den Klassiker, findet Norbert Raffelsiefen im Kölner Stadt-Anzeiger (5.6.2023). Doch das Darsteller*innen-Trio überzeuge mit "Beckett'schem Gusto" und Tempo "wie in Christoph Schlingensiefs wilden Tagen". Das Publikum werde "gerührt, geschüttelt, irritiert und verwirrt" – und belohne den "furiosen Zivilisationsreigen" mit "langem Applaus".
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