Rocky-Horror-Migranten-Schulfunk-Soap

von Ulrike Gondorf

Köln, 29. April 2008. "Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli". Und schon sind wir mitten drin in den 50er Jahren. Die ersten ausländischen Arbeitskräfte, die Gastarbeiter sind da. Marcello und Toni heißen sie, sie kommen aus dem armen Süden Italiens. Und natürlich wollen sie nicht lange bleiben, zurück nach Hause, mit viel schnell verdientem Geld, heiraten, ein Haus bauen… 

Der Autor Nuran David Calis hat im Auftrag der Schauspielhäuser Köln und Essen, die den Abend auch gemeinsam produziert haben und in beiden Städten zeigen, ein "Stück über Einwanderer" geschrieben. Calis ist in der Türkei geboren und armenisch-jüdischer Abstammung, seine Eltern kamen als Asylsuchende in die Bundesrepublik. Der 32jährige Autor hat sich schon wiederholt mit dem Thema Migration beschäftigt.

Harte Arbeit, kaltes Wetter

In dem Stück "Stunde Null" illustriert er das Thema immer wieder mit Dokumentarfilm-Material. Ein Sprachkurs für Gastarbeiter zeigt Bilder, Situationen und Sitten aus einem inzwischen sehr fremden Land. "Bitte, danke, Entschuldigung" – dass die Deutschen im Alltag sehr viel schroffere Töne anschlagen, müssen die beiden kleinen Italiener schnell erfahren. Das erzählen sie zumindest in der brechtisch-epischen Manier, in der Calis sein Stück immer wieder unterbricht für direkte Vorträge der Figuren ans Publikum: Harte Arbeit, kaltes Wetter und frostiges soziales Klima, ungewohntes Essen, Misstrauen, menschenunwürdige Quartiere.

Sehen tut man von solchen Konflikten nicht viel. Schnell macht sich Unbehagen breit und der Verdacht, dass der Autor als Dramatiker vor einem – zugestandermaßen auch viel zu großen Thema – kapituliert. Immer wieder stellt sich einer der Protagonisten ans Mikrofon und referiert in trockenem Leitartikelton Fakten und Meinungen über Migration. Was Calis dann als Spielmaterial nutzt, wirkt marginal, fast beliebig und tendiert zur Albernheit: eine Szene zum Beispiel, in der deutsche Krankenschwestern den Ankömmlingen vor der amtsärztlichen Untersuchung kichernd die Hosen herunterlassen.

Die Türken kommen!

So wartet man eigentlich immer noch auf wirklich erhellende Szenen, die nacherleben lassen, wie Deutsche und Ausländer Mitte der 50er Jahren – immerhin nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – sich begegneten, als der Autor schon einen abrupten Schnitt macht. "Stunde Null" – Volume 1-3 hat er angekündigt und wechselt zur nächsten Etappe – Sechziger Jahre – die Türken kommen.

Diesmal erfahren wir gar nichts über die Spannungen zwischen zwei – noch in weit stärkerem Maße unterschiedlichen - Kulturen. Vor einem großformatig projizierten Videoloop der Stadtkulisse von Istanbul trennt sich ein junges Pärchen. Das Mädchen muss mit seiner Familie nach Deutschland. Viele Jahre später treffen beide sich wieder – enttäuscht vom Gehen wie vom Bleiben, mit dem Gefühl, um das Lebensglück mit dem andern betrogen worden zu sein. "Es ist eine alte Geschichte" möchte man mit Heinrich Heine sagen, aber was hat sie mit Migration zu tun? Tausend andere Gründe wären ebenso gut vorstellbar.

Exhumierung des toten Vaters 

Und schon öffnet Calis Volume 3 seiner Migrationsgeschichten: Karim ist ein Migrantenkind der zweiten Generation, leidet darunter, nirgends richtig hinzugehören, nicht zu Hause zu sein und auch nicht nach Hause gehen zu können, weil er das Land, die Familie, die Sprache seiner Eltern gar nicht mehr kennt. Auch das ein Thema, das einen Abend lohnen würde, hier aber nur auf ein plakatives Bild reduziert wird: Karim hat seinen toten Vater exhumiert, beschmiert ihn über und über mit Erde und schnürt ihn schließlich in einen Sack, um ihn zurückzuschleppen auf den Friedhof seines Dorfes.

Auch hier gelingt es dem Autor nicht, aus Sprache und Aktion einen glaubhaften Charakter lebendig werden zu lassen. Ebenso uferlos wie das Thema sind die gestalterischen Mittel, mit denen Calis versucht hat, seine "Stunde Null" zu beschwören. Mal Schulfunk, mal Horrorshow, mal Doku-Soap. Auch der Regisseur Nuran David Calis, der die Uraufführung mit vier Kölner und drei Essener Schauspielern inszeniert hat, schafft es nicht, daraus einen spannenden Theaterabend zu machen.


Stunde Null Vol. I-III
ein Stück über Einwanderer von Nuran David Calis
Inszenierung: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Silke Rekort, Musik: Vivan Bhatti, Video: Karnik Gregoria.
Mit: Peter Becker, Omar El-Saeidi. Therese Dürrenberger, Ralf Harster, Laura Sundermann, Rezo Tschchikwischwili und Judith van der Werff.

www.schauspielkoeln.de

www.theater-essen.de
     

Kommentare  
Stunde Null in Köln: Bemerkenswerte Inszenierung
Ich bin dezitiert andere Auffassung, was die Qualität der mE bemerkenswerten Inszenierung von Calis gestern abend in Köln angeht. Ohne die Auffassung von "nachtkritik" zu kennen, habe ich eine eigene ausführliche Besprechung auf "wir-sie.de" (30/4) verfasst. Es würde mich freuen, wenn der geneigte Leser und die Autorin obriger Zeilen diese Sicht der Dinge mit einbeziehen würden und freue mich auf eine daran anschließende Debatte hier und auf den Kommentarseiten von "wir-sie.de". Besser ist es - wie immer - sich in Köln oder Essen ein eigenes Bild zu machen.
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